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Was gesprochen wurde, bekam sie nicht mit. Auch als Gerhard anfing, Gombrowski ins Wort zu fallen, mit zu hoher Stimme, die nicht nach Kämpfer, sondern nach Verlierer klang, verstand sie kaum, worum es ging. In Gedanken sagte sie »Mörder« zu Gombrowski und wartete auf Antwort. Da kam nichts. Gerhard würde enttäuscht sein. Gombrowski war kein Mörder, er war nicht einmal ein Feind. Wahrscheinlich würde es ihm gar nicht gelingen, die Windmühlen zu bauen, die Sophies Kindergartenplatz sichern sollten. Weil ihm niemals etwas gelang. Weil er ein Mensch war, der beim Versuch, alles richtig zu machen, nichts als Verheerungen anrichtete.

Jule musste an den Goethe-Satz denken, der seine wahre Tragik erst erreichte, wenn man ihn falsch zitierte. Ich bin ein Teil von jener Kraft, die stets das Gute will und stets das Böse schafft. Das war Gombrowski. Er verdiente keine Gegenwehr, sondern Mitgefühl. Dieser Mann hatte niemanden umgebracht und würde niemanden umbringen, höchstens sich selbst.

Gombrowski redete. Wenn Jule richtig verstand, ging es um Kraniche. Er rieb sich das Gesicht, wobei die Haut verrutschte, als wäre sie dem Schädel nur übergezogen wie eine zu große Kapuze. Er patschte sich auf den Oberschenkel, weil er glaubte, etwas Witziges gesagt zu haben. Jules Herzschlag wechselte die Gangart. Sie konnte sich vorstellen, ihn in den Arm zu nehmen. Sein strähniges Haar zu streicheln, die hängenden Wangen zu küssen. »Ist nicht so schlimm«, wollte sie sagen. »Mein Mann meint es gar nicht so. Wir meinen es alle nicht so.«

»Das reicht jetzt«, sagte Gerhard gerade. Jule hörte, wie er die Kiefer zusammenpresste.

»Ihr Vogelmenschen!«, polterte Gombrowski. »Ihr glaubt wirklich, ihr habt immer recht, was?«

Alles war falsch. Die Art, wie miteinander gesprochen wurde. Gerhards Glaube, gegen Windräder protestieren zu müssen, die ihnen in Wahrheit nützen würden. Gombrowskis fester Entschluss, sich von Gerhard nicht ausbremsen zu lassen, während es sein Schicksal war, nichts zu erreichen. Gerhards Sehnsucht nach einem Feind. Gombrowskis Versuch, Jule zu ignorieren, als hätte es zwischen ihnen keinen besonderen Moment gegeben. Mit einem Mal hielt Jule die ganze Szene nicht mehr aus. Die beiden Männer blickten ihr nach, als sie aufsprang und den Raum verließ.

31 Fließ

»Ihr Vogel-Heinis!«, rief Gombrowski. »Ihr denkt wirklich, ihr seid immer im Recht, was?«

Schon das endlose Gerede über das Wetter war nur dazu gedacht gewesen, Gerhard auf die Nerven zu gehen. Erst recht das ostentative Gejammer über die »Horden« von Kranichen, die demnächst wieder in Unterleuten einfallen und schlimme Schäden auf den Feldern anrichten würden, »bis zu 3000 Euro pro Hektar«, wie Gombrowski behauptete, obwohl die Vogelschutzwarte längst nachgewiesen hatte, dass diese Beträge nicht stimmten.

Das Problem war nicht neu. Im Herbst machten Kranichschwärme in Rekordgröße auf dem Weg von Skandinavien nach Afrika in der Unterleutner Heide Station. Gerhard und seine Leute hatten zuletzt fast 100000 Tiere gezählt. Neben den Kampfläufern waren die Kraniche das große Ereignis der Region. Parkende Autos reihten sich an der Unterleutner Landstraße wie bei einem Open-Air-Festival, sogar Reisebusse waren dabei. Die Menschen kamen aus Berlin und Hannover, Hamburg und Frankfurt am Main, Nürnberg und München, manche Ornithologen sogar aus dem Ausland. Alle trugen bunte Funktionsjacken, luden ihre Fotoausrüstung aus, justierten Stative, auf die sie teure Kameras mit enormen Objektiven schraubten. Die Körper der Kraniche schwärzten die Felder, ihr Geschrei brachte die Luft zum Schwirren, ein verstörendes, irgendwie elektrisches Geräusch. Für die Vogelschutzstation bedeuteten die Kraniche Hochsaison – Führungen, Vorträge sowie die Bewachung der gesperrten Brutgebiete, rund um die Uhr. Aber auch Silke und Sabine vom Märkischen Landmann berichteten, dass sie zur Kranichzeit mehr verdienten als sonst in einem halben Jahr. Auf www.maerkischer-landmann-unterleuten.de waren jedes Jahr spezielle Kranich-Wochenenden mit Kranich-Menüs und Kranich-Zimmerpreisen angeboten.

Alle freuten sich über das Schauspiel, nur die Bauern jammerten. Sie verlangten noch mehr Geld vom Staat, zum Ausgleich ihrer angeblichen Schäden. Dass ihre geschäftlichen Risiken von der Allgemeinheit getragen wurden, fanden sie völlig normal. Im vergangenen Jahr war Gombrowski so weit gegangen, den Abschuss der Vögel zu verlangen. Mit dieser absurden Forderung hatte er es sogar bis in die überregionale Presse geschafft.

Dass er das Thema jetzt auf den Tisch brachte, war pure Provokation. Was, wie Gerhard zugeben musste, ziemlich gut funktionierte. Er war schon auf 180, obwohl sie noch gar nicht bis zu den Windrädern gekommen waren.

In diesem Augenblick stand Jule auf und verließ wortlos den Raum. Nach einem Moment der Verblüffung begann Gerhard zu lächeln. Während Gombrowski sprach, hatte er den Widerwillen seiner Frau wachsen sehen. Er hatte gesehen, wie sie Gombrowski beobachtete, wie ihre Miene nachdenklich wurde, wie sie schließlich vor Ärger die Farbe wechselte. Dann der starke Abgang. Deutlicher hätte sie kaum zeigen können, was von einem wie Gombrowski zu halten war.

Gerhard war stolz auf seine Frau. Ebenso stolz war er auf sich selbst, weil er sitzen blieb und sich um die öffentlichen Angelegenheiten kümmerte, bereit, das Dorf gegen Gombrowskis Zugriff zu verteidigen. In wichtigen Fragen teilten Jule und er eine stumme Übereinkunft. Jule stand hundertprozentig hinter ihm, und das, dachte Gerhard, würde ihm die Kraft geben, es mit Gombrowski aufzunehmen.

»Ihre Frau hat recht«, sagte Gombrowski, als Jules Schritte im Flur verklungen waren. »Es ist wirklich zu warm hier. Reden wir doch draußen weiter.«

Noch eine Unverschämtheit, allein dazu gedacht, Gerhard auf die Palme zu bringen. Wenn jemand wusste, warum sie trotz der Hitze drinnen saßen, dann war das Gombrowski.

»Das geht leider nicht«, erwiderte Gerhard so ruhig wie möglich. »Der Garten ist derzeit unbenutzbar.«

Gombrowski schlug sich auf die Oberschenkel und lachte, bis ihm die Tränen kamen.

»Unbenutzbar«, keuchte er, sich die Augen wischend, »ihr Bürokraten seid einmalig. Für jeden Mist habt ihr einen sprachlichen Gummihandschuh.«

Mit einer Behändigkeit, die man ihm nicht zugetraut hätte, sprang er aus dem Sessel. Gleich darauf hatte er Gerhard von der Couch gezerrt und auf die Füße gestellt, stieß ihn über den Flur und aus der Tür. Seine Kraft wirkte maschinell, eine Einwirkung, der organische Materie nichts entgegenzusetzen hatte. Als Gerhard in den Garten taumelte, registrierte er, dass Gombrowskis monströser Hund das sorgfältig restaurierte Holz der Eingangstür zerkratzt hatte. Gerhard dachte, dass er Gombrowski eine Rechnung schicken werde. Er dachte, egal, was als Nächstes passiert, nicht schreien. Er dachte, hoffentlich wacht Sophie nicht auf, hoffentlich schaut Jule nicht aus dem Fenster. Instinktiv hob er die Hände, um sich gegen den ersten Schlag zu schützen.

Aber Gombrowski schlug nicht. Er breitete die Arme aus, legte den Kopf in den Nacken und drehte sich wie die Karikatur eines Touristen um sich selbst.

»Atmen Sie, Fließ!«, rief er. »Atmen Sie tief. Ist die Landluft nicht herrlich?«

Gerhard starrte ihn an. Der Mann war nicht nur ein mutmaßlicher Mörder, sondern offensichtlich geisteskrank. Möglicherweise hingen beide Phänomene zusammen. Heinz hatte zu dieser Frage nichts sagen wollen. Er hatte überhaupt keine Fragen beantwortet, sondern nur zornige Sätze ausgestoßen, während seine Tochter Verena, die zu den Streikenden gehörte, beschwichtigende Handbewegungen machte. Dass der alte Hund über Leichen gehe. Bei der LPG-Umwandlung zum Beispiel, als der Erik keine Ruhe geben wollte. Das sei doch alles anders gewesen, als man es der Polizei erzählt habe. In Wahrheit sei der Erik, als Kron bei diesem furchtbaren Gewitter auf die Lichtung gekommen sei, schon tot gewesen. Erschlagen.