»Hey, Paps«, sagte Miriam. »Mission accomplished.«
Seit dem Unfall hatte Schaller oft Schwierigkeiten, ihr zu folgen, was nicht nur an seiner notorischen Verwirrung lag. Wenn Miriam von sich und ihren Freundinnen sprach, klang das für Schaller, als beschriebe sie Lebewesen auf einem anderen Planeten. Warum sie es hassten, Barockgedichte zu interpretieren. Was eine Bad-Taste-Party war. Wie viele Stunden sie bei Frau Kamp in Beutel verbrachten, die ein Pilgerziel darstellte, weil sie künstliche Fingernägel aufbringen und mit Glitzersteinchen bekleben konnte.
Schaller erinnerte sich an ein kleines Mädchen, das sich in der Küche an seinem Hosenbein festklammerte oder sich juchzend auf einem Miniaturfahrrad von ihm schieben ließ. Diese Bilder gehörten zum Kostbarsten, was er besaß. Als Nächstes präsentierte ihm sein Gedächtnis eine ernste junge Frau, die im Krankenhaus an seinem Bett saß und ihm die Hand hielt. Alles, was sich dazwischen befand, lag unter schwerem Nebel verborgen. Er wusste nicht, was aus dem kleinen Mädchen geworden war und woher die junge Frau mit einem Mal kam.
Das Krankenhaus hatte er selbst als Kleinkind verlassen, das sich in einer feindseligen Welt zurechtfinden musste. Zu Beginn seines neuen Lebens war Miriam wie eine Mutter gewesen, die ihm Schutz und Anleitung bot. Schaller hatte sich nach Kräften bemüht, so schnell wie möglich erwachsen zu werden, aber seine Tochter holte er nicht mehr ein. Beim Bier hatte er sie einmal gefragt, wann sie sich ihren ersten Freund zulegen wolle, und als sie lachte und ihn in den Oberarm kniff, hatte er sich tagelang für seine Dummheit geschämt. Wenn er versuchte, Miriam zu verstehen, wurde er schier verrückt. Am liebsten war es ihm, wenn sie gemeinsam Motorrad fuhren, einen Ölwechsel durchführten oder einfach nur zusammensaßen und schwiegen.
»Verrätst du mir, wofür du das Zeug brauchst?«, fragte Miriam.
»Meister, machen wir hier weiter, oder was?«, rief der Rothaarige.
Auf dem Beifahrersitz des MG standen leere, ineinandergestapelte Kartons. Auch auf der schmalen Rückbank türmten sich Kartons; in den Fußräumen steckten gefaltete Pappstücke. Miriam öffnete den Kofferraum; er war bis zum Rand mit Stapeln alter Zeitungen gefüllt.
»Ich hab beim Baumarkt die Papiercontainer geleert.«
Sie lachte.
»Hilf mir«, sagte Schaller.
Sie nahmen von den Kartons, so viel sie tragen konnten. Schaller ging voran zur Grundstücksgrenze und warf den ersten ins Feuer. Erst sah es aus, als würden die Flammen ersticken, sie duckten sich, wurden bläulich, leckten unwillig an der Pappe. Eine Rauchwolke stieg auf; Miriam wedelte sich mit der Hand vor dem Gesicht herum. Dann fing der Karton Feuer. Schaller versorgte die anderen Brandstellen, holte Nachschub und stapelte das Altpapier auf dem Boden.
»Sei so lieb und mach hier weiter«, sagte er. »Ich muss mich um die beiden Knallköpfe kümmern.«
»Was soll das?«, fragte Miriam.
»Immer schüren, damit es nicht ausgeht.«
Er ging zurück in die Scheune. Sie befestigten die Zugseile an der zweiten Hubsäule. Schaller und der Rothaarige zogen; der Quadratschädel versuchte, den Standfuß auf dem glatten Beton zu sichern. Schwerfällig richtete sich die Stahlsäule ein Stück auf und krachte ihnen wieder vor die Füße, als der Rothaarige das Gleichgewicht verlor. Schaller beugte sich über das Bein seiner Hebebühne; an mehreren Stellen war die rote Farbe abgeplatzt.
»Ich will wissen, was das soll, Paps.«
Unbeeindruckt vom Fluchen der Männer stand Miriam direkt hinter Schaller und verlangte Aufmerksamkeit.
»Warte kurz, Schätzchen«, sagte Schaller. »Wir trinken gleich ein Bier zusammen. Muss hier nur schnell fertig machen.«
»Du lässt mich einen Haufen Altpapier holen, und dann verbrennst du das Zeug? Das ist verrückt. Außerdem weht der Wind die ganze Asche zu den Nachbarn rüber.«
»Lass gut sein, Liebes.«
»Erklär mir, was das soll.«
»Ich arbeite!«
Schaller war laut geworden. Schweiß rann ihm von der Stirn in die Augen. Er wischte ihn mit dem Handrücken ab, obwohl er wusste, dass er sich dabei schwarzes Altöl im Gesicht verteilte. Mit einer Kopfbewegung signalisierte er dem Rothaarigen, das Zugseil zu spannen, ein zweites Mal richtete sich die Hubsäule auf, schwankte, fand ihr Gleichgewicht. Der Quadratschädel setzte den Schlagbohrer an, um den Fuß am Boden zu verschrauben.
»Du kommst jetzt raus und siehst dir das an«, sagte Miriam. »Es sieht aus wie im Winter, nur dass der Schnee schwarz ist.«
»Geh zur Seite, verdammt!«, schrie Schaller.
»Papa!«
Miriam hatte seinen Arm gepackt und zog. Angst vor den Maschinen, mit denen er arbeitete, hatte sie noch nie gekannt. Seelenruhig sah sie dem Sturz der Hubsäule zu, wich Schaller aus, der zurücksprang, zuckte mit keiner Wimper angesichts des ohrenbetäubenden Lärms, den der aufschlagende Stahlträger verursachte.
»Bist du wahnsinnig?«
Schaller atmete schwer, weniger von der Anstrengung als vom Stress. Er liebte seine Hebebühne und er liebte Miriam, aber beide zusammen waren zu viel für ihn. Sie ergaben eine »Situation«, und Situationen hatte er schon immer gehasst. Er konnte eine Kardanwelle mit verbundenen Augen abschmieren. Er konnte aus zwei verreckten Corsas einen lebendigen machen. Er konnte eine halbe Flasche Bromfelder trinken und danach besser Auto fahren als die meisten nüchternen Menschen. Was er nicht konnte, war, sich auf mehrere Dinge gleichzeitig konzentrieren.
Miriam gewann. Sie starrte ihn so lange an, bis er sich schuldig fühlte und ihr aus der Scheune in den Hof folgte. Mit ausgestrecktem Finger zeigte sie zum Haus der Vogelschützer hinüber. Schaller sah die Prinzessin am Fenster stehen. Sie hielt das Baby auf dem Arm und sah zu, wie über den Feuerstellen große schwarze Flocken kreiselnd in die Höhe stiegen, über den Graben getrieben wurden und auf ihrem Rasen landeten. An vielen Stellen war das Grün bereits von Asche bedeckt. Miriam hatte recht, es sah ein bisschen aus wie schwarzer Schnee. Als die Prinzessin bemerkte, dass Schaller und Miriam in ihre Richtung blickten, verschwand sie.
»Mach die Feuer aus«, sagte Miriam.
»Fahr einfach nach Hause«, sagte Schaller. »Wir trinken das Bier ein anderes Mal.«
»Jetzt soll ich wieder heimfahren?« Spöttisch blickte Miriam ihn an. »Mit dem ganzen Papier im Auto?«
Schaller rannte über den Hof, riss die restlichen Kartons aus dem MG und warf sie auf den Boden. Miriam folgte ihm und blieb neben ihm stehen.
»Du kannst rumrennen und Sachen rumwerfen und von mir aus auch rumschreien. Aber ohne eine Erklärung werde ich nicht verschwinden.«
»Meister«, rief der Rothaarige, »wenn das hier nicht weitergeht, hauen wir ab.«
»Schraubt schon mal die Aufnahmestempel an die Tragarme!«, rief Schaller zurück.
Der Rothaarige verdrehte die Augen, setzte sich auf eine Europalette und zündete eine Zigarette an. Miriam hatte sich vor Schaller aufgebaut, glatt und weich und doch ein unverrückbares Hindernis mit ihren verschränkten Armen und der senkrechten Falte über der Nasenwurzel.
»Und was sind das für Typen? Warum bringen sie dir eine Hebebühne?«
»Eine Bühne? Das ist meine! Hochheben musste ich dich früher, damit du die Knöpfe drücken konntest!«
Das Bild stand Schaller plötzlich klar vor Augen, und es war wunderschön: Wie er die zweijährige Miriam auf dem Arm hielt, damit sie an den Schaltkasten herankam.
»Darum geht’s nicht«, sagte die achtzehnjährige Miriam.
Schaller ließ den letzten Zeitungsstapel fallen. Das Papier rutschte auseinander und verteilte sich im Hof. Ein leichter Wind blätterte die Seiten um, als wäre er auf der Suche nach einer bestimmten Information. Der Tag kippte. Er kippte wie das Bein der Hebebühne, und Schaller fürchtete, dass er ihm gleich mit noch schrecklicherem Lärm vor die Füße fallen würde. Weil er nicht wusste, was er sonst tun sollte, griff er einen Arm voll Zeitungspapier und lief zu den Feuerstellen, Miriam hinter sich.