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»Ist das eine Gombrowski-Scheiße?«

Schaller blieb stehen.

»Du weißt nichts von Gombrowski.«

Sein Tonfall ließ sie verstummen. Es entstand ein kurzer Moment der Unsicherheit, als zögerte Miriam an der Schwelle eines Raums, den sie eigentlich nicht betreten durfte.

»Mama sagt, Gombrowski ist dein Fluch. Sie sagt, wenn er jemals wieder bei dir aufkreuzt, soll ich zur Polizei gehen.«

Damit konnte Schaller nicht umgehen. Es gab eine ungeschriebene Vereinbarung zwischen ihnen, die besagte, dass sie so wenig wie möglich von Susanna sprachen, gar nicht über Gombrowski und nicht über bestimmte Teile von Schallers Vergangenheit. Als Schaller im Krankenhaus gelegen hatte und wieder lernen musste, was »ich« bedeutete, war Miriam zur Regisseurin jenes Films geworden, den er heute sein Leben nannte. In diesem Film kam vor, dass er vor seinem Unfall jahrelang für Gombrowski gearbeitet hatte. Er war schon zu LPG-Zeiten als Automechaniker mit der Wartung des landwirtschaftlichen Maschinenparks betraut gewesen und hatte nach der Wende die Fahrzeuge der Ökologica freiberuflich gepflegt.

Jenseits dieser simplen Fakten existierte ein Gefühl, über das Schaller nicht mit Miriam gesprochen hatte. Das Gefühl besagte, dass Gombrowski ihm etwas schuldete. Aufgrund dieser Ahnung war Schaller zum Haus mit dem blauen Dach gegangen und hatte prompt den Hof in Unterleuten geschenkt bekommen.

Manchmal, wenn die Erinnerung ihr Haupt aus dem Nebel hob, hörte Schaller das Krachen eines infernalischen Gewitters. Er spürte, wie ihm nasse Kleidung am Körper klebte, und sah seine schwangere Frau, die das blasse Gesicht zu ihm aufhob und fragte: »Wo bist du gewesen?«

Ob sie diesen Satz wirklich zu ihm gesagt hatte oder ob es sich um eine Einbildung handelte, konnte er nicht entscheiden. Wenn er länger darüber grübelte, schien es ihm, als hätte sie diesen Satz nicht nur einmal, sondern unzählige Male wiederholt, jahrelang, ein Leben lang, als hätte ihre Ehe nur noch aus diesem Satz bestanden, wo bist du gewesen, und dann begannen seine Ohren zu klingen, und es wurde ihm klar, dass es nichts brachte, zu viel wissen zu wollen. In der Vergangenheit lag keine Wahrheit, die es zu ermitteln, kein Schatz, den es zu heben galt. Sondern nur ein Irrgarten aus Trugbildern, in dem er sich rettungslos verlief. Die Vergangenheit war ein Ort, an dem der Wahnsinn wohnte. Schaller durfte niemals dorthin zurückkehren, nicht in Gedanken und schon gar nicht mit Worten.

»Deine Mutter weiß nichts«, sagte er zu Miriam, die auf eine Antwort wartete.

»Warum arbeiten diese Typen für dich? Wer hat ihnen gesagt, dass sie dir helfen sollen?«

»Bitte, Miriam.«

»Dieser Gombrowski hat dir ein Haus geschenkt. Das ist doch nicht normal.«

»Ich hab mein halbes Leben für ihn gearbeitet.«

»Trotzdem. Da muss noch etwas gewesen sein.«

»Davon weiß ich nichts. Lass mich jetzt in Ruhe!«

»Hast du ihm was versprochen?« Miriam zeigte zu den Vogelschützern hinüber. »Sollst du die Leute da drüben quälen? Was sind das für Leute? Was haben sie getan?«

»Halt’s Maul!«, brüllte Schaller.

Aus den Augenwinkeln sah er, wie Rothaariger und Quadratschädel kopfschüttelnd ihre Zigaretten wegwarfen, aufstanden und zum Pritschenwagen schlenderten. Ihm fiel nichts ein, um sie aufzuhalten. Auch zu Miriams erschrockenem Gesicht fiel ihm nichts ein. Überhaupt verstand er nicht, wie sich dieser Tag mit freundlicher Miene nähern und ihm dann mit solcher Wucht vors Schienbein treten konnte. Miriams Augen glänzten, als würde sie gleich zu weinen beginnen. Sie meinte es nicht böse. Sie hatte überhaupt keine Ahnung; sie war jünger als die Frage, wo Schaller in einer bestimmten Nacht gewesen sei.

Miriam machte sich Sorgen um ihn, und sie hatte recht. Sie musste sich um ihn sorgen. Er war ein halber Mann, ein Mann mit einem halben Leben, und vor nichts hatte er so viel Angst wie vor der unbekannten Hälfte.

Der Drang, sich zu bewegen, wurde übermächtig. Er musste Miriams Blick ausweichen. Außerdem hielt er immer noch alte Zeitungen im Arm, die es loszuwerden galt. Er begann, das Papier ins Feuer zu werfen, knüllte hastig einzelne Seiten zusammen, die die Flammen sofort verschlangen, auflodernd, als bettelten sie um Nachschub.

»Sieht wirklich aus wie Schnee, was?«, rief er. »Guck mal, wie schön es schneit!«

Über den Feuern stieg die Luft mit hoher Geschwindigkeit empor, riss brennende Papierstücke mit sich, die im Flug verloschen. Bald war der Rasen der Vogelschützer von einem Teppich aus Asche bedeckt. Asche hing in den Himbeeren, in der Glyzinie, bildete eine Schicht auf der Sitzfläche der Gartenbank. Schaller holte Kartons. Wind fuhr in die Flammen, drückte sie für einen Moment zu Boden, ließ sie anschließend zwei Meter in die Höhe schlagen, fast unsichtbar im Sonnenlicht und doch so heiß, dass er zurückweichen musste. Der Motor des Pritschenwagens sprang an. Miriam weinte. Der Rothaarige hupte, weil der MG die Ausfahrt versperrte, hupte zwei Mal, drei Mal, ließ die Hupe nicht mehr los. Schaller zerriss Pappe. Sah nicht über die Schulter, schaute nur auf seine Füße und Hände. Die Reifen des MG quietschten, die Hupe verstummte, der Pritschenwagen fuhr aus dem Tor. Beide Fahrzeuge entfernten sich in verschiedene Richtungen. Schaller machte weiter, bis der letzte Karton verbrannt war.

Er hatte geglaubt, inmitten eines großen Lärms zu kämpfen; jetzt war es merkwürdig still. Nichts regte sich im Hof. Das einsame Bein seiner Hebebühne stand aufrecht wie ein Denkmal im Inneren der Scheune. Schaller ging hinein, setzte sich auf die zweite, liegende Hubsäule und betastete die abgeplatzten Stellen im Lack. Auf seinen Armen klebte ein schwarzer Film. Eben noch hatte er Lust auf eine Zigarette gehabt, jetzt vergaß er, sie anzuzünden. Kein einziger Gedanke belebte seinen großen, leeren Kopf.

Teil IV

Nachts sind das Tiere

Jeder sitzt auf seiner Beute und schlägt nach den anderen.

Bodo Schaller

33 Kron-Hübschke

Als sich Kathrin dafür entschieden hatte, tote Menschen aufzuschneiden, statt lebende zusammenzuflicken, war es ihr vor allem um die Abende gegangen. Leichen besaßen einen eklatanten Vorteil gegenüber Patienten: Sie konnten bis zum nächsten Morgen warten. Kathrin wollte ein Leben ohne Nachtschichten, ohne Visiten, überfüllte Notaufnahmen und Bereitschaftsdienst. Ihre Kundschaft wartete in Kühlfächern geduldig darauf, dass sie zur Arbeit kam. Wenn keine Kunden da waren, verbrachte sie ihre Zeit vor dem Mikroskop bei der Untersuchung von Gewebeproben. Anders als ihre Kollegen fuhr sie um fünf nach Hause, konnte mit Wolfi zu Abend essen, das plappernde Krönchen zu Bett bringen und danach mit einem Buch im Sessel versinken, während aus der angelehnten Tür des Nebenzimmers das Klappern der Computertastatur drang, anheimelnd wie Regen auf einem Zeltdach.

Für Kathrin waren die Abende Zeiten des Glücks. Sie liebte Bücher, besonders Romane, und unter den Romanen vor allem die dicken. In allen Büchern, die Kathrin kannte, war die Welt auf wunderbare Weise in Ordnung. Selbst wenn das Leben der Figuren auf katastrophale Weise schiefging, selbst wenn nach allen Regeln der Kunst gequält und gelitten wurde, so besaßen Qual und Leiden doch immer einen Sinn, und wenn keinen Sinn, dann immerhin Zusammenhang und folglich Bedeutung. Kathrin hatte schon als Kind verstanden, dass allein der Mensch in der Lage ist, Ordnung zu erzeugen, und dass Bedeutung nur innerhalb von Ordnungen entsteht. Die ersten Ordnungsgeber und Bedeutungserzeuger im Leben waren die Eltern. Wenn Eltern allerdings ihr Kind im Stich ließen, um aus dem Kommunismus in den Kapitalismus zu fliehen, oder wenn sie ihre Zeit damit vergeudeten, den längst verreckten Kommunismus gegen den Kapitalismus zu verteidigen, dann mussten Bücher diese Funktion übernehmen. Kathrins Lesen war eine Form von Selbstverteidigung gegen Sinnlosigkeit und Chaos. Als Kind hatten ihr die Bücher dabei geholfen, eine abwesende Mutter und einen Vater zu ertragen, dem es bei aller Liebe nie gelungen war, ein Bollwerk gegen die Zumutungen der menschlichen Existenz darzustellen. Heute las sie, weil Kron schon wieder und Krönchen noch immer in der Trotzphase waren und weil ihr Job täglich davon erzählte, dass auf Erden völlig willkürlich gelebt, gelitten und gestorben wurde.