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Vermutlich war es kein Zufall, dass Kathrin einen Schriftsteller geheiratet hatte. Die Tatsache, dass Wolfi schrieb, auch wenn es keine Romane, sondern Theaterstücke waren, übte eine beruhigende Wirkung auf sie aus. Er war in der Lage, jene Zusammenhänge hervorzubringen, die Kathrin dringend brauchte. Dass sich dieses Ordnungstalent ausschließlich aufs Schreiben und mitnichten auf die Bewältigung des Alltags bezog, machte Kathrin nichts aus. Sie war bereit, den Familienunterhalt zu verdienen und sich um die häuslichen Abläufe zu kümmern, solange sie dadurch einem Schriftsteller das Schaffen ermöglichte. Wolfi kaufte ein, holte Krönchen vom Kindergarten ab und fuhr einmal im Jahr das Auto in die Werkstatt, wenn Kathrin ihn daran erinnerte. Den Rest des Tages verbrachte er damit, die Arbeit vor sich herzuschieben, so lange, bis das schlechte Gewissen zu einem quälenden Selbsthass geworden war, den Wolfi brauchte, um mit Schreiben zu beginnen. Meistens war dieser Punkt gegen acht Uhr abends erreicht. Wenn Kathrin das Kinderzimmer verließ, hörte sie an guten Tagen schon das Klappern der Tastatur.

Die zurückliegende Woche hatte allerdings nur aus schlechten Tagen bestanden. Falls es Kathrin noch nicht restlos klar gewesen war, dass die Schreibfähigkeit ihres Mannes und damit der Familienfrieden von einem roten Rasentraktor abhingen – jetzt wusste sie es. Wolfi hatte sich daran gewöhnt, die zähen Stunden inneren Ringens durch Rasenmähen zu überbrücken. Auf Premierenfeiern erntete er große Lacherfolge mit der Beschreibung, wie er seinen inneren Schweinehund so lange im Kreis fuhr, bis der ihn vor lauter Schwindel in Ruhe arbeiten ließ.

Aber dieser Strategie hatte Arnes Passat ein Ende gesetzt. Arne hatte sich Kathrins Argumente angehört und keinerlei Verhandlungsbereitschaft gezeigt. Über die Erklärung, dass Wolfi ohne Rasenmäher nicht schreiben könne, hatte er nur gelacht. Hinter seinem Lachen stand der Satz: »Hättest du mal einen anständigen Mann geheiratet, dann bräuchten wir diese alberne Diskussion nicht zu führen.« Kathrin kannte Arne gut genug, um zu wissen, was er dachte. Wolfi gegenüber verhielt er sich wie ein Vater, der den Ehegatten der Tochter aus Prinzip nicht leiden kann. Jedes weitere Gespräch war überflüssig. Kathrin war nach Hause gegangen und hatte Wolfi erklärt, dass er sich eine andere Übersprungshandlung suchen müsse. Kein Mensch konnte mit überlaufenden Toiletten leben.

Gerade hatte Wolfi ein neues Theaterstück begonnen. Es sollte »Fallwild« heißen, ein Begriff, den er einmal von Kron gehört hatte. In der Forstsprache bezeichnete »Fallwild« Tiere, die ohne jagdliche Einwirkung zu Tode gekommen waren. Auch über die Formulierung »ohne jagdliche Einwirkung« war Wolfi in Begeisterung geraten. Schon lange wollte er sich mit dem Mikrokosmos Unterleuten auseinandersetzen, und der Titel bildete die entscheidende Inspiration.

»Irgendwie sind hier doch alle Fallwild«, hatte er zu Kathrin gesagt, ohne dass diese auch nur im Ansatz verstanden hätte, was er damit meinte. Das schadete nicht. Schreiben war Wolfis Metier, und Kathrin hatte mit den Jahren gelernt, dass es auf deutschen Bühnen nicht darauf ankam, ob eine Formulierung Sinn ergab. Mehr Sorgen als eine schiefe Metapher machte ihr der Verdacht, dass von Wolfis neuem Stück bislang nicht mehr als der Titel existierte. In dieser Lage stellte das von Arne erzwungene Rasenmäherverbot ein schöpferisches Armageddon dar. Wolfi befand sich im Ausnahmezustand.

Weil heute Samstag war und Kathrin nicht zur Arbeit musste, hatte sie das Schauspiel in allen Einzelheiten verfolgen können. Seit dem Mittagessen, welches für Wolfi, der spät aufstand, das Frühstück darstellte, tigerte er ziellos durchs Haus. Er setzte sich auf die Couch und erhob sich gleich wieder. Er nahm ein Buch zur Hand und legte es weg. Er begann einen Rundgang durch den Garten, besuchte den Rasentraktor in der Garage und floh vor dem nachwachsenden Gras zurück in die Küche, wo er sich ein Käsebrot machte, das er gar nicht essen wollte. Immer wieder fragte er, ob er irgendwie helfen könne, und als Kathrin ihn anwies, eine Maschine Wäsche aufzusetzen, fand sie ihn wenig später in der Waschküche, wie er, den vollen Wäschekorb im Arm, sehnsüchtig durch das Kellerfenster ins Freie starrte. Mit seiner fahrigen Art machte er Krönchen nervös, die ohnedies schlechte Laune hatte, weil Kathrin sie ständig ermahnte, im Garten nicht so laut zu sein. Den ganzen Nachmittag zischte die Kleine wie eine wütende Katze, wenn Kathrin versuchte, in ihre Nähe zu kommen. Irgendwann verkroch sie sich in einem Winkel hinter dem Haus, wo sie vermutlich »Hinrichtung der Eltern« mit ihren Puppen spielte.

An die Zubereitung des Abendessens klammerten sie sich wie zwei Ertrinkende an ein Floß, das nur einen tragen konnte. Wenn Kathrin zum Kühlschrank wollte, stand Wolfi bereits vor der geöffneten Tür. Ging sie zum Gewürzregal, versperrte er den Weg. Beim Versuch, einen Topf aus dem Schrank zu nehmen, stieß sie gegen Wolfi, der prüfte, ob die Mülltüten geleert werden müssten. Um ihn loszuwerden, bat sie ihn schließlich, in den Garten zu gehen und Krönchen zum Essen zu holen.

»Zieh dir Helm und Handschuhe an, wenn du sie anfassen musst«, rief sie ihm nach, aber Wolfi lachte nicht, weil ihm seit Tagen die Konzentration fehlte, um richtig zuzuhören.

Kathrin dachte, dass es manchmal schöner war, der Stimme eines fremden Schriftstellers zu lauschen, als einen real existierenden im Haus zu haben. Nach dem Abendessen würde Wolfi seinen Krieg gegen sich selbst endlich an den Schreibtisch verlegen, und Kathrin könnte sich mit einem Buch in ihren Sessel setzen und die Arbeit eines Autors genießen, von dessen Krisen sie nichts wissen musste. Der Roman, den sie gerade las, hatte begonnen, richtig spannend zu werden. Ein Kind war verschwunden, vermutlich entführt, und Kathrin konnte nicht anders, als sich in die Lage des Vaters zu versetzen, der verzweifelt auf einen Anruf der Entführer wartete. Es war schrecklich leicht sich vorzustellen, wie eine winzige Sekunde der Unaufmerksamkeit die ganze Welt aus den Angeln hob. Kurz bevor sie das Buch am Vorabend weggelegt hatte, war der kleine Sohn wieder aufgetaucht und behauptete, niemals entführt worden zu sein, so dass jetzt die geistige Gesundheit des Vaters angezweifelt wurde.

Daran dachte Kathrin, während sie Zwiebeln schnitt und sich freute, dass Wolfi für eine Minute den Raum verlassen hatte. Der verzweifelte Vater, das verschwundene Kind. Zwiebelgeruch. Geistige Gesundheit. Kathrin spürte, wie sich in ihrem Inneren der Raum öffnete, in dem die Geschichte angesiedelt war. So real, als könnte sie sich selbst darin bewegen. Die sommerliche Hitze, die Aufdringlichkeit der Natur, das ständige Vogelgezwitscher. Wolfis Stimme, die durchs offene Küchenfenster drang, mal leiser, mal lauter, je nachdem, in welcher Ecke des Gartens er sich gerade befand: »Krönchen? Krönchen!«

Kathrin legte das Messer weg und wischte sich mit dem Unterarm Schweiß von der Stirn. Ihr fiel nicht ein, wie der verschwundene Junge hieß.

»Krönchen?«

Irgendetwas mit L. Ein englisch klingender Name.

»Krönchen?«

Eben noch hatte Wolfi ganz leise geklungen, jetzt wurde er plötzlich wieder lauter. »Krönchen!«, an der Hintertür, »Krönchen?«, im Flur, und jetzt erst verstand Kathrin, dass Wolfi rannte und dass er nicht rief, sondern schrie. Seine Schritte dröhnten durchs Haus, Türen schlugen.

»Krönchen!!«

34 Fließ