Am liebsten hätte er Kathrin Kron in den Arm genommen. Ständig kämpften die jungen Frauen von heute darum, niemanden zu brauchen. Weil ihnen der Zeitgeist auftrug, nach Jahrhunderten der Ausbeutung auf einmal Mann und Frau in einer Person zu sein. Gerhard kannte das von Jule. Manchmal genügte es, ihr über den Kopf zu streichen, und schon brach sie in Tränen aus. Dann weinte sie ihr ganzes Heldentum aus sich heraus, dankbar für ein paar Minuten, in denen sie ein ganz normaler, überforderter, stets vom Scheitern bedrohter Mensch sein durfte.
Aber Kathrin Kron wollte nicht weinen. Wie imprägniert von Blässe stand sie vor ihm und brachte die Sätze nur stückweise heraus. Ihre Tochter sei weg, seit dem Abendessen vermisst, und draußen werde es dunkel.
Zuerst spürte Gerhard den absurden Impuls, sich über diesen Besuch zu freuen. Die Tochter von Kron war gekommen, um ihn, den Zugezogenen und vogelschützenden Störenfried, in einer sensiblen Angelegenheit um Hilfe zu bitten. Im Grunde war Kathrin eine Botin, die eine Einladung in den inneren Kreis der Dorfgemeinschaft überbrachte. Die örtliche Tauschgesellschaft glich einem System kommunizierender Röhren, das sich in zwei Stufen unterteilen ließ. Die erste Ebene stand jedem offen, der im Umkreis von 30 Kilometern einen Wohnsitz besaß. Hier wurden Kartoffeln, Eier, selbstgemachte Blutwurst, polnische Zigaretten und kleine Dienstleistungen gehandelt. Dahinter existierte ein zweiter, exklusiver Markt, auf dem es um Aufträge, Arbeitszeit, persönliche Gefälligkeiten und brisante Informationen ging.
Wer auf welchem Markt tauschen durfte, wurde von niemandem entschieden, stand nirgendwo geschrieben und war trotzdem jedem klar. Grundsätzlich nahmen am engeren Zirkel nur Alteingesessene teil. Weil viele Leistungen ohne direkte Gegenleistung erbracht wurden, entstanden Anwartschaften auf die Zukunft, die gesammelt und ihrerseits auf dem zweiten Markt gehandelt werden konnten. Ein geschuldeter Gefallen ließ sich weitergeben. »Geh mal zu X, der schuldet Y was, und bei Y hab ich noch was gut« – so wurde das Gefälligkeiten-Karussell in Gang gesetzt.
Jeder geleistete Gefallen stellte eine Investition in die Zukunft dar. Denn so lautete die Definition von Macht: die Möglichkeit, in Zukunft etwas von einem anderen zu verlangen. Entsprechend groß war die Hilfsbereitschaft. Menschen wie Gombrowski oder Kron hatten über die Jahre so gewaltige Gefälligkeiten-Konten angehäuft, dass sie jederzeit von jedermann fast alles verlangen konnten und folglich mehr Einfluss besaßen als jede Behörde. Bürgermeister Arne agierte in diesem Beziehungsgeflecht eher in der Rolle eines Moderators, was Gerhard beim Versuch, die Belange des Naturschutzes durchzusetzen, immer wieder schmerzlich erfahren musste. Bis vor Kurzem hatte er geglaubt, sein wichtigstes Ziel in Unterleuten bestehe darin, eines Tages in den zweiten Markt aufgenommen zu werden.
Aber jetzt stand Kathrin auf der obersten Stufe der Eingangstreppe, wahrte einen Abstand, der klar machte, dass sie unter keinen Umständen ins Haus kommen würde, und hatte die Arme um sich geschlungen, als müsste sie den eigenen Körper vor dem Zerreißen bewahren. Ihr Anblick zwang Gerhard, sich zu fragen, ob er Unterleuten jemals richtig verstanden hatte. Ob ihm sein euphorischer Wunsch, jeder staatlich-kapitalistischen Gewalt den Rücken zu kehren, nicht den Blick getrübt hatte. Vielleicht war das, was Gerhard und Jule »Freiheit« nannten, in Wahrheit nicht mehr als ein Jagdrevier für schwergewichtige Fleischfresser. Dann wäre Gombrowski kein pathologischer Einzelfall, sondern notwendiger Teil des Systems. Möglicherweise existierte hinter dem zweiten noch ein dritter Markt. Einer, auf dem es nicht um Eier und Wurst, sondern um brennende Autoreifen, verschwundene Kinder und Menschenleben ging.
»Haben Sie die Polizei informiert?«, fragte Gerhard.
Verständnislos hob Kathrin den Blick.
»Wozu?«
»Weil ein Kind vermisst wird.«
»Wir bilden eine Kette und durchkämmen den Wald.«
»Hören Sie.« Gerhard wollte einen Schritt auf sie zutreten und hielt gleich wieder inne, als sie zurückwich. »Hier tobt ein Kampf. Einige der Beteiligten sind unter Umständen gefährlich. Ihre Tochter ist die Enkelin von Kron. Vielleicht hat sie sich ja nur verlaufen, aber angesichts der Sachlage, ich meine … die Polizei könnte …«
Aus zu weit geöffneten Augen starrte Kathrin ihn an.
»Ich kann Sie nicht zwingen, uns zu helfen«, sagte sie und wandte sich zum Gehen.
Gerhard nickte. Er verstand. Kathrin Kron war hier aufgewachsen. So musste man sich die Galionsfigur von Unterleuten vorstellen: nicht wie Jule, die im hellen Sonnenschein mit buntem Tuch im Haar das Gras mähte und dabei möglichst viele Gänseblümchen stehen ließ. Sondern wie eine Mutter, die ihre kleine Tochter vermisste und sich nicht traute, zur Polizei zu gehen. Die lieber im Wald suchte als dort, wo sich das Kind aller Wahrscheinlichkeit nach befand.
»Natürlich helfe ich«, rief Gerhard eilig. »Was soll ich tun?«
»Ich wollte Sie bitten, bei der Suchaktion das Kommando zu übernehmen. Mein Vater steht unter Schock. Ihnen wird er am ehesten vertrauen. Sie kommen von außerhalb, und Gombrowski kann Sie nicht leiden.«
Gerhard nickte.
»Treffpunkt in einer halben Stunde.« Kathrin Kron war schon die Treppe hinunter. »Am Jagdhaus.«
Während Gerhard ihr nachschaute, schlug er rhythmisch gegen das Holz des Türrahmens. Sie tat ihm leid, so sehr, dass es schmerzte. Als der Hass die Oberhand gewann, stellte das eine Erleichterung dar. Hass klärte die Verhältnisse. Im Grunde war alles ganz einfach. Ob es »gut« gab, wusste Gerhard nicht, aber mit Sicherheit gab es »böse«. Derzeit trug das Böse die Maske eines fetten alten Hunds.
»Was ist denn los?«, fragte Jule.
Gerhard drehte sich um. In den Garten sickerte bereits Dämmerung, der Flur war hell erleuchtet. Sie standen auf der Grenze zwischen Schatten und Licht.
»Warum lässt du die Tür offen? Der Gestank kommt ins Haus.«
Erst jetzt realisierte Gerhard die giftigen Dämpfe, die er seit geraumer Zeit einatmete.
»Das Schwein hat ein Kind entführt«, sagte er.
»Welches Schwein?«, fragte Jule. »Welches Kind?«
»Gombrowski«, sagte Gerhard. »Die kleine Kron.«
»Das ist unmöglich«, sagte Jule, zog ihn in den Flur und schloss die Tür.
»Kathrin Kron war hier. Sie hat mich um Hilfe gebeten.«
»Das muss ein Missverständnis sein. Gombrowski entführt keine Kinder.«
»Hast du vergessen, was ich dir erzählt habe? Was ich von Heinz weiß?«
»Das ist alles Unsinn.«
Gerhard blickte seine Frau an. Es machte ihn glücklich, dass sie aus ihrem Dornröschenschlaf erwacht war. So viel Schlimmes die Windräder schon angerichtet haben mochten – für eins verdienten sie Dankbarkeit: Sie hatten ihm Jule zurückgebracht. Seit sie sich gemeinsam gegen Gombrowskis Pläne engagierten, war ihre Beziehung fast wie früher. Er konnte die Verbindung zwischen ihren Seelen wieder spüren. Spontan nahm er ihr weiches, reines Gesicht in beide Hände.
»Du musst keine Angst haben«, sagte er. »Ich werde dich schützen. Versprochen.«
Jule trat einen Schritt zurück, so dass er ihr Gesicht loslassen musste.
»Ich habe keine Angst. Ich sage, dass Gombrowski keinem Kind etwas zuleide tut.«
»Und woher weißt du das?«
»Das hier ist ein Dorf, Gerhard. Du musst nicht alles glauben, was die Leute erzählen.«
Er lächelte, nickte und zog sie noch einmal an sich. Dass sie partout an Gombrowskis Unschuld glauben wollte, rührte ihn. Vermutlich war es eine Form von Selbstschutz. Die einzige Möglichkeit, Unterleuten weiterhin als ihre Heimat zu betrachten.
»Du hast recht, Schatz«, sagte er. »Geh bitte in den Keller und hol mir die Taschenlampe.«
35 Schaller
Im ersten Moment glaubte Schaller, die Spaßvögel vom LKA würden mal wieder ihr Glück bei ihm versuchen. Er löschte das Licht in der Scheune, wo er mit der Verkabelung der Hebebühne beschäftigt war, und trat vor die Tür.