Ein Mann ging am Rand des Grabens entlang und versuchte, in alle Ecken des Hofs zu leuchten. Im Qualm der schwelenden Reifen zeichnete die Taschenlampe einen Stab aus Licht in die Dunkelheit. Normalerweise besaß nicht einmal das LKA die Frechheit, einfach bei Nacht auf den Hof vorzurücken, zumal Schaller nichts einfiel, womit er in letzter Zeit Anlass für einen Sondereinsatz gegeben haben könnte. Außerdem kam ein Bulle niemals allein. Der Kerl mit der Taschenlampe musste der Vogelschützer sein. Anscheinend hatte er endgültig den Verstand verloren.
Der Lichtkegel erfasste die aus Ölfässern zusammengesetzte Bank und verweilte ein paar Sekunden zitternd an dieser Stelle, als könnte er nicht recht glauben, dass niemand dort saß. Schaller verhielt sich ruhig. Er lehnte in der offenen Tür der Scheune und fühlte sich gut. In den letzten Tagen hatte er eigenhändig einen Flaschenzug konstruiert, mit dessen Hilfe es ihm gelungen war, das zweite Bein der Hebebühne aufzurichten. Jetzt stand er vor den beiden roten Säulen wie ein Torhüter, durchströmt von dem schönen Gefühl, dass endlich alles in Ordnung kommen würde. Mithilfe der Hebebühne würde er sein altes Geschäft wieder aufnehmen, sich nach und nach an frühere Kunden erinnern, vielleicht hier und da in den Autohandel zurückkehren. Er würde genug verdienen, um Miriams Studium zu finanzieren und ihr ein Leben zu ermöglichen, das sich in keiner Weise von dem der Stadtkinder unterschied. Er wollte, dass sie sich in Berlin eine Studentenwohnung leisten konnte, auch, damit sie nicht mehr den Geruch von Susannas Waschmittel an sich trug, wenn sie ihn besuchen kam.
Schaller hatte nachgedacht, und er hatte etwas verstanden. Wichtig war nicht, was er in der Vergangenheit getan hatte, sondern was er in Zukunft tun würde. Statt rückwärtszublicken und Fragen zu stellen, wollte er dafür sorgen, an jedem neuen Tag ein anständiger Mensch zu sein. Ein Vater, der seine Tochter unterstützte. Ein Mechaniker, der gute Arbeit machte. Ein Mann, der niemals zur Gewalt griff, es sei denn, um sich selbst zu verteidigen. Wenn Miriam das nächste Mal vorbeikam, würde er ihr alles erklären. Sie musste einsehen, dass es den vergangenen Schaller nicht mehr gab. Der neue Schaller arbeitete ausschließlich auf eigene Rechnung. Mit Gombrowski hatte er nichts zu tun.
Er öffnete die kleine Gürteltasche, nahm das Handy heraus und suchte nach der Videofunktion. Der Vogelschützer hatte den Graben durchquert, stand am Rand des Hofs und blickte sich um, ohne Schaller im Schatten der Scheune zu entdecken. Diese absurde Szene wollte er für Miriam filmen. Wenn er ihr die Aufnahme zeigte, würde sie einsehen, dass er die Feuer brauchte, um sich gegen seine durchgedrehten Nachbarn zu wehren. Über die Frage, ob es sich trotzdem um eine »Gombrowski-Scheiße« handele, hatte er nachgedacht und konnte sie guten Gewissens verneinen. Dass er die Feuer auf Gombrowskis Bitte für ein paar Stunden gelöscht und danach wieder angezündet hatte, stellte eine Nebensächlichkeit dar. Zumal der Extra-Bonus mit dem Altpapier allein seine Idee gewesen war. Das hier war sein Kampf, und er war nicht derjenige, der angefangen hatte.
Als die Displaybeleuchtung des Handys Schallers Gesicht erhellte, gefror der Vogelschützer zur Statue, die Taschenlampe erlosch. Im Schein der Feuer sah Schaller den Kerl mit eingezogenem Kopf auf der Stelle verharren. Mit seinen hageren Gliedmaßen und der unlogischen Körperhaltung wirkte er wie ein Gegenstand, der keinerlei praktischen Nutzen besaß. Eine Weile geschah nichts, dann gab sich der Vogelschützer einen Ruck und kam ein paar Schritte in den Hof hinein. Schaller beobachtete das seltsame Ballett auf dem Display seines Handys. Auch wenn in der Dunkelheit wenig zu sehen war, würde Miriam den Film lieben.
»Guten Abend«, sagte der Vogelschützer. »Wenn Sie erlauben, würde ich mich gern einmal umsehen.«
Schaller hätte ein Brecheisen oder die Rohrzange aufheben können. Das hier war ein klarer Hausfriedensbruch, und er kannte seine Rechte. Stattdessen nahm er das Telefon in die linke Hand, zündete sich mit der rechten eine Zigarette an und beschloss zu warten, was als Nächstes passierte.
»Was machen Sie mit dem Handy? Filmen Sie mich etwa?«
Dass etwas Besonderes los war, hatte Schaller bereits begriffen. Ohne Grund klingelte Kathrin Kron nicht bei den Vogelschützern, schon gar nicht am späten Abend. Sie war nur ein paar Minuten geblieben und danach so eilig zurückgerannt, als hätte sie einen Topf Milch auf dem Herd vergessen. Schaller hatte überlegt, um was für eine Angelegenheit es sich handeln könne, und schließlich beschlossen, dass ihn die Sache nichts anging. Der Hof war sein Gehäuse, in das er sich zurückziehen konnte wie eine Schnecke.
So wollte er es Miriam erklären: Nur weil er jetzt in Unterleuten lebte, hatte er noch lange nichts mit Gombrowskis Geschäften zu tun. Er und Gombrowski waren quitt, das Vergangene war vergangen und das Vergessene vergessen. Das hier, würde er mit ausgebreiteten Armen zu Miriam sagen, ist die autonome Schaller-Republik, und sie würde lachen und sich auf die Studentenwohnung in Schöneberg freuen.
»Sind Sie taub, Herr Schaller? Ich würde Ihnen gern ein paar Fragen stellen.«
Der Mann schaute eindeutig zu viel »Tatort«. Erstaunlich, wofür sich manche Leute hielten. Westdeutsche besaßen ein unvergleichliches Talent zur Selbstüberschätzung.
»Bestimmt wissen Sie, dass ein Kind verschwunden ist.«
Das war es also. Die jüngste Kron war weg, und deshalb rannte die Mama von Tür zu Tür. Na, die Kleine würde schon wieder auftauchen. Nach allem, was man hörte, war das Mädchen ein ordentlicher Wildfang, stur dazu, also ganz der Großvater. So eine Räubertochter machte eben manchmal Ärger. Miriam war immer ein wahrer Engel gewesen, ausgesprochen vernünftig, schon als kleines Kind.
»Mich würde interessieren, wann Sie das Mädchen zuletzt gesehen haben.«
Der Typ gab keine Ruhe. Stand da im Dunkeln, ohne Einladung in einem fremden Hof, und redete wie ein Fernsehkommissar. Langsam begann er Schaller auf die Nerven zu gehen.
»Vielleicht dürfte ich kurz ins Haus kommen. Auch die Nebengebäude würde ich mir gern ansehen. Wenn Sie nicht wissen, wo sich das Kind befindet, haben Sie bestimmt nichts dagegen.«
Fast wunderte sich Schaller, dass kein metallisches »Kling« ertönte, als der Groschen endlich fiel. Was der Vogelschützer ihm unterstellte, war so absurd, dass er gar nicht darauf gekommen war. Ein kleines Mädchen entführen, ausgerechnet er, der selbst eine Tochter hatte! Wenn der Typ durchs Dorf lief und solche Wahnvorstellungen verbreitete, konnte das Schwierigkeiten geben.
Schaller warf die Zigarette weg. Seine Hand fuhr in die Hosentasche und schloss sich um ein paar Schraubenmuttern.
»Mit Schweigen kommen Sie nicht weiter!« Langsam lief der Vogelschützer zu Höchstform auf. Er hatte die Taschenlampe wieder angeknipst und fuchtelte damit in der Luft herum. »Ich weiß, von wem Sie Ihre Anweisungen bekommen, ich weiß, wessen Spiel Sie spielen! Dass Sie uns vergasen, diese schäbige Erpressung, das ist schon schlimm genug. Aber ein kleines Mädchen – nein!«
Schaller betrachtete die Muttern auf seinem Handteller. 24er, elf Stück, die meisten verdreckt, zwei nagelneu. Er schaltete die Handykamera aus, speicherte die Aufnahme und verstaute das Telefon in der kleinen Gürteltasche.
»Die Scheiße hat jetzt ein Ende«, rief der Vogelschützer. »Sie haben die längste Zeit in Ihrem verdreckten Loch gesessen und Terrorist gespielt. Lassen Sie mich ins Haus!«
Schaller holte aus, die erste Mutter sauste durch die Luft. Der Kerl gab einen erschrockenen Laut von sich; ein gutes Stück weiter hinten klimperte es im Hof. Die nächsten Muttern warf Schaller in schneller Folge. Der Vogelschützer schrie vor Schmerzen auf, Schaller sah, wie er sich den Kopf hielt.
»Das werden Sie bereuen! Denken Sie an meine Worte!«
Als Schaller ein weiteres Mal zielte, drehte sich der andere um und rannte. Er wich einer Feuerstelle aus, stolperte durch den Graben und verschwand in der Dunkelheit. Es folgte ein Augenblick massiver Stille. Der Himmel über dem Hof war gesprenkelt von Sternen.