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36 Fließ-Weiland

Sie kannte den Kneipen-Revolutionär mit Freude an Rotwein und Weltformeln. Sie kannte den fortschrittsmüden Melancholiker, der vor einem entkernten Altbau in Tränen ausbrechen konnte. Den Soziologiedozenten, der flammende Reden gegen die Realitätsferne der Luhmann’schen Theorie hielt. Seit Neuestem kannte sie auch den zufrieden vor sich hin werkelnden Heimgärtner, den engagierten Naturschützer und den Exil-Intellektuellen, der am Küchentisch über das völlig unerforschte Phänomen von Rousseau’schen Nischen im ländlichen Raum spekulierte und in der Lage war, Unterleuten als »anarchische Achselhöhle eines überregulierten Gesellschaftskörpers« zu bezeichnen.

Den Feldherren hingegen kannte sie noch nicht. Er war peinlich. »Hol mir mal die Taschenlampe«, hatte er mit finsteren Brauen und eckigem Unterkiefer gerufen. Anscheinend ging er davon aus, dass Jule mit dem Baby zu Hause bleiben würde, während er auszog, um die Welt zu retten.

Aber sie hatte es im Haus nicht ausgehalten. Ein kleines Mädchen war verschwunden. Wenn sich Jule vorstellte, auch nur für zehn Sekunden nicht zu wissen, wo Sophie sich befand, explodierte ihr die Panik in Kopf und Bauch. Nachdem Gerhard das Haus verlassen hatte, war sie ins Schlafzimmer gegangen, hatte Jeans und Turnschuhe angezogen, das Baby aus seinem Bettchen gehoben und im Tragetuch vor die Brust gebunden. Glücklicherweise verfügte der Haushalt über mehr als eine Taschenlampe.

Als Jule das Jagdhaus erreichte, waren auf der dunklen Lichtung bereits an die zwanzig Menschen versammelt. Der nächtliche Wald bildete eine dramatische Kulisse, die an das Geheimtreffen einer seltsamen Sekte denken ließ. Kathrin Kron hielt sich abseits, hatte die Arme um den Körper geschlungen und starrte ins Leere. Die anderen bildeten einen weiten Halbkreis um den alten Kron, dem Angst und Mondlicht tiefe Schatten ins Gesicht schnitten. Neben Kron, hoch aufgerichtet wie ein Adjutant, stand Gerhard, eine Schwellung über dem linken Auge, die sich Jule nicht erklären konnte. Vielleicht war er auf dem Weg hierher gegen einen Ast gerannt. Als er Jule bemerkte, grüßte er mit einem knappen Nicken, fast wie ein Fremder.

Seit ein paar Tagen spürte sie, wie sie innerlich von Gerhard abrückte. Der Mann, den sie geheiratet hatte, war ein Beobachter, kein Anführer gewesen. Er suchte Begriffe für das, was andere Menschen taten. Seit Neuestem aber steigerte sich Gerhard in Verschwörungstheorien hinein, träumte von Mord und Totschlag und wirkte geradezu glücklich, die große Bühne vor der eigenen Haustür zu finden. Als böten die Windmühlen seinem politischen Unbehagen endlich ein passendes Ziel.

Auch jetzt machte er Politik, während es doch nur darum gehen konnte, das kleine Mädchen so schnell wie möglich nach Hause zu bringen. Er hielt sich dicht neben Kron, als wäre er mit unsichtbaren Gummibändern an ihn gefesselt, neigte sich dem Alten zu und wechselte ein paar leise Worte mit ihm. Kron nickte und erteilte Gerhard mit ungeduldiger Geste das Wort, worauf sich dieser an die Gruppe wandte.

»Wir bilden eine Kette, die Abstände möglichst groß, aber immer so, dass jeder seine Nebenmänner noch sehen kann. Ruft nach Krönchen, aber nicht zu oft, damit wir hören, ob Antwort kommt. Benutzt eure Taschenlampen, sie könnte etwas verloren oder ein Zeichen hinterlassen haben. Richtungsbefehle kommen von mir und werden durch die Kette weitergereicht. Wir bewegen uns zunächst ein Stück Richtung Westen und begehen einen breiten Streifen entlang des Waldrands. Danach wenden wir und ziehen eine parallele Bahn. Auf diese Weise arbeiten wir uns immer tiefer in den Wald hinein. Noch Fragen?«

»Warum schauen wir nicht mal beim Indianer vorbei?«, fragte ein junger Kerl im karierten Hemd. »Weiß doch keiner, was der so alles in seinem Tipi versteckt.«

»Oder gleich beim fetten alten Hund!«, rief ein anderer.

Jule sah, wie sich Kathrin ein wenig krümmte, als hätte sie einen Stoß in den Magen bekommen.

»Wir vermuten, dass Krönchen versucht hat, durch den Wald zu ihrem Opa zu laufen«, sagte Gerhard.

Lügner, dachte Jule. Du glaubst doch selbst nicht, dass sich das Mädchen verirrt hat. Du absolvierst hier nur eine spektakuläre Pflichtübung, um dich bei den Krons einzuschleimen. In Wahrheit bist du sicher, dass die Kleine bei Gombrowski im Kartoffelkeller sitzt.

»Wir verschwenden unsere Zeit«, rief der Karierte.

»Wir bündeln unsere Kräfte«, sagte Gerhard. »Ich bitte um Ruhe und Geschlossenheit.«

»Schnauze jetzt!«, schrie Kron. »Abmarsch!«

Endlich setzte sich der Tross in Bewegung. Taschenlampen wurden eingeschaltet, Menschen liefen hin und her und suchten ihre Position. Gerhard war überall, rannte quer über die Lichtung, gab Kommandos und organisierte die Kette. Als er an Jule vorbeikam, blieb er stehen und sah kurz über die Schulter, ganz der engagierte Verschwörer.

»Schaller hängt mit drin«, flüsterte er. »Ich war bei ihm. Er hat mich mit Metallteilen beworfen.«

Flüchtig zeigte er auf sein Gesicht, entschied sich allerdings für das falsche Auge. Bevor Jule etwas erwidern konnte, hatte er sich heruntergebeugt, das schlafende Baby auf den Hinterkopf geküsst und ihr noch einmal zugezwinkert, als teilten sie ein Geheimnis. Dann war er wieder verschwunden.

Kurz darauf rief seine Stimme in einiger Entfernung: »Los!«

Der Ruf wurde weitergegeben, »Los!«, »Los!«, und als Jule an der Reihe war, rief auch sie »Los!« und setzte sich mit den anderen in Bewegung, auf die dunkle Wand aus Bäumen zu.

Es tat gut zu gehen, die Nervosität verlangte nach einer Richtung. Jeder Schritt brachte sie der Rettung von Krönchen näher. Auch wenn Gerhard glaubte, dass es sich bei der Suchaktion nur um ein Spiel handelte, das absolviert werden musste, bevor Kathrin und ihr Vater einsahen, wo sich die Kleine tatsächlich befand – Jule war sicher, dass sie genau das Richtige taten. Krönchen lag irgendwo mit verstauchtem Fuß in einem Graben oder eingeklemmt unter einem großen Ast. Gombrowski war genauso wenig Mörder wie Kindesentführer. Schließlich ging es hier nur um zehn läppische Windmühlen. Kein Mensch entführte ein Kind, weil er einen landwirtschaftlichen Betrieb vor der Insolvenz bewahren wollte.

Als sie den Kiefernforst verließen und in den Mischwald eindrangen, erwartete sie eine neue Form von Dunkelheit. Die Baumkronen schirmten das Mondlicht ab. Jule band das Tragetuch fester und senkte den Strahl der Taschenlampe auf den Boden. Er war bedeckt von heruntergefallenen Ästen. Hier und da wuchs Gestrüpp, das umgangen werden musste; an manchen Stellen gab die Erde nach und ließ die Füße in eine mit modrigen Blättern gefüllte Kuhle sinken. Um nicht zu stolpern, hob Jule die Knie wie ein Storch, was schon nach wenigen Schritten anstrengend wurde. Schmerzhaft drückten sich Wurzeln durch die weichen Sohlen der Turnschuhe. Zu beiden Seiten bewegten sich die Lichtkegel der benachbarten Taschenlampen, verschwanden hinter Baumstämmen, tauchten wieder auf, verwandelten den Wald in eine zuckende Geometrie aus Schatten und Licht. Die Kette ging zügig. Anscheinend bereitete das Gelände den anderen weniger Schwierigkeiten als ihr, aber die trugen auch kein Baby vor der Brust, das den Blick auf die eigenen Füße verdeckte. Die Schnürsenkel ihres Schuhs verfingen sich in einer Brombeerranke; um sich zu befreien, musste Jule in die Hocke gehen. Als sie wieder aufrecht stand, waren die anderen bereits ein gutes Stück weiter. Sie beschleunigte die Schritte, rannte fast, um die Gruppe nicht zu verlieren, bis Sophie, die im Tragetuch auf und nieder hüpfte, zu quengeln begann. Zwischen Mutter und Baby staute sich der Schweiß.

»Krönchen!«, rief Jule, so laut sie konnte, und wunderte sich, wie schwach ihre Stimme zwischen den Bäumen klang. Der Wald wies sie ab, als wollte er nichts mit ihr zu tun haben. Sie wusste nicht, wie lange sie gegangen waren, als der erste Befehl ertönte.

»Nach links wenden und hintereinandergehen«, rief die Frau zur Rechten und hatte die Anweisung auch schon ausgeführt. Jule stolperte ihr nach, dachte noch rechtzeitig daran, den Befehl weiterzugeben, und rief über die Schulter: »Nach links und hintereinander!«