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Dieses Mal dauerte es nur Minuten, bis die nächste Ansage kam.

»Noch einmal neunzig Grad links und wieder geradeaus.«

Die Kette hatte sich ein Stück tiefer in den Wald geschoben und gewendet. Jule musste zugeben, dass Gerhard seine Sache nicht schlecht machte. Es passierte ihr immer wieder, dass sie ihn unterschätzte. Bei aller Liebe zur Theorie erwies er sich als erstaunlich praktisch veranlagt. Bei jüngeren Männern war es meist umgekehrt. Sie investierten gewaltige Ressourcen in souveränes Auftreten und riefen ihre Eltern an, wenn es darum ging, eine Waschmaschine anzuschließen.

Jule versuchte, stolz auf sich zu sein. Welche ihrer Berliner Freundinnen würde nachts ihr Baby aus dem Bett holen und in den Wald laufen, um einer Nachbarin bei der Suche nach einem verschwundenen Mädchen zu helfen? Zumal es kaum jemand aus ihrem Bekanntenkreis bislang zu einem Kind oder auch nur zu einer festen Beziehung gebracht hatte. Sie hingegen hatte einen tollen Mann, ein gesundes Baby und ein schönes Haus.

Alles war gut – das erzählte sich Jule seit Tagen, und trotzdem wuchs das Gefühl, auf einer schiefen Ebene langsam Richtung Abgrund zu gleiten. Daran war nicht einmal das Tier von nebenan schuld, sondern die Tatsache, dass ihrer neuen Rolle schon wieder etwas Fadenscheiniges anhaftete. Seit dem Gespräch mit Gombrowski funktionierte die aktive, politisch engagierte junge Mutter nicht mehr. Was als Nächstes kommen sollte, wusste Jule nicht. Vielleicht könnte sie sich in Linda Franzen verlieben und an dieser verborgenen Neigung auf identitätsstiftende Weise leiden.

In Wahrheit verspürte sie Lust, alle Rollenspiele auf den Müll zu werfen und sich zu einer einfachen Formel zu bekennen: Sie hatte ihren Beruf aufgegeben, ihren Freunden den Rücken gekehrt und war in ein Dorf gezogen, in dem sie ewig eine Fremde bleiben würde.

Mit jedem weiteren Schritt wuchsen Erschöpfung und Mutlosigkeit. Sie würden Krönchen nicht lebend finden. Trotz aller Anstrengung war das bislang abgeschrittene Gebiet lächerlich klein, und die Kräfte schwanden rapide. In allen Knochen fühlte Jule, wie wenig eine Handvoll Menschen gegen die gelassene Größe des Waldes vermochte. Ihre Oberschenkel und Knie schmerzten, Sophies Gewicht wirkte auf Nacken, Schultern und Rücken, und den Augen fiel es immer schwerer, im Geflacker der Taschenlampen den Blick scharf zu stellen. Demnächst würde sie vor Entkräftung zusammenbrechen, vielleicht nur wenige Meter entfernt von Krönchen, die irgendwo im Dunkeln lag und längst aufgehört hatte zu weinen.

Kaum hatte sie diesen Gedanken gefasst, stolperte sie heftig, stürzte halb und fing sich gerade noch an einem Strauch. Dornen drangen in die Kleidung, ein Zweig ratschte durchs Gesicht. Sophie begann zu schreien. Der Wunsch, sich einfach zu Boden sinken zu lassen und liegen zu bleiben, war schier übermächtig. Aber sie hätte allein nicht mehr nach Hause gefunden; jeder Sinn für Orientierung war ihr abhandengekommen.

Gerade hatte sie es geschafft, die anderen einzuholen, als linker Hand Tumult entstand. Die Lichtkegel der Taschenlampen stellten die Vorwärtsbewegung ein, näherten sich einander, leuchteten ziellos umher. Jemand sprach aufgeregt.

Da liegt Krönchen, dachte Jule. Sie haben sie gefunden.

Ihre Füße verwuchsen mit dem Boden. Keine Macht der Welt würde sie näher an die Leiche heranbringen. Die Stimmen wurden lauter, einige der Taschenlampen flackerten dicht beieinander. Dann löste sich eine heraus und kam auf Jule zu. Der Mann, der sie trug, wählte den direkten Weg. Wie ein großes Tier brach er durchs Unterholz. Trotz Sophies Geschrei hörte Jule ihn fluchen. »Vollidioten, unfähiges Pack.« Sie wollte ihm ausweichen, konnte die Beine aber immer noch nicht bewegen. Erst als er direkt vor ihr stand, erkannte sie Kron. Er wollte zu ihr.

»Ist nicht gerade hilfreich, so ein plärrendes Balg!«, schrie er. »Was stolperst du überhaupt hier herum? Hältst du das für einen Familienausflug?«

Während Sophie im Tragetuch erschrocken verstummte, begann Jule ohne Vorwarnung zu weinen. Kein Schluchzen, kein zuckendes Zwerchfell, einfach salziges Wasser, das ihr aus den Augen lief. Kron verschwamm, das Licht seiner Taschenlampe brach sich zu großen Sternen. Eine Hand packte ihren Arm und zerrte daran. Jule schrie auf, mit der Linken presste sie Sophie an die Brust.

»Nicht auf die Füße leuchten!« Kron schüttelte Jule wie eine Puppe. »Wenn du hier irgendetwas finden willst, musst du die Lampe hochhalten. Bist du wirklich so blöd?«

Ein Schauer aus feinen Speicheltropfen traf ihr Gesicht. Im gleichen Augenblick lenkte ein Stoß den Strahl von Krons Taschenlampe ab.

»Sie fassen meine Frau nicht an!«, brüllte Gerhard. »Verstanden?«

Kron taumelte zurück, schimpfte aber ohne Unterbrechung weiter.

»Planloses Rumgeraschel im Wald. Zu große Abstände, keine Konzentration. Eher würdet ihr sie tottrampeln als finden!«

»Wir sind hier, um Ihnen zu helfen!«

»Das soll Hilfe sein?«

Kron blickte um sich wie ein gehetztes Tier zwischen Jägern. Noch nie hatte Jule einen Menschen so schwitzen sehen. Das schüttere Haar klebte an der Kopfhaut, an den Schläfen sammelten sich dicke Tropfen. Das Hemd war nass wie aus dem Wasser gezogen. Obwohl Kron vor Erschöpfung zitterte, konnte er die Füße nicht stillhalten.

»Ihr freut euch doch, dass sie weg ist! Ihr habt mich immer gehasst. Und jetzt Krönchen. Wenn sie … Oh Gott.«

Krons Stimme brach. Jule fiel auf, dass er seine Krücke nicht dabeihatte. Den kranken Fuß schien er kaum noch belasten zu können, sein Gang glich einem einbeinigen Hüpfen.

»Hören Sie«, sagte Gerhard. »Die Kette funktioniert gut. Lassen Sie uns noch eine halbe Stunde weitermachen.«

»Und dann?«, rief eine Frau aus der Dunkelheit.

Inzwischen war die gesamte Suchmannschaft herangekommen. Die meisten hatten ihre Lampen ausgeschaltet, um die Batterien zu schonen. Einige verfolgten mit verschränkten Armen den Streit, andere lehnten unbeteiligt an den Bäumen oder hatten sich auf Stümpfen niedergelassen, die Beine von sich gestreckt.

»Gehen wir zum Indianer«, rief der Junge im karierten Hemd.

»Wo ist Krönchen?«, keuchte Kron.

Als er sich nach einem langen Ast bückte, wich Gerhard zurück und hob beschwichtigend die Hände.

»Nicht anfassen«, rief Kathrin. »Lasst ihn einfach in Ruhe!«

Aber Kron beachtete weder sie noch Gerhard. Er benutzte den Stock als Krücke, rammte ihn in den weichen Boden, sprang einen Schritt und schwang den Stock nach vorn. Während er Jule passierte, sah sie sein Gesicht aus der Nähe, eine Maske der Verzweiflung. Jeder neue Schritt presste ihm einen Schmerzenslaut aus der Brust.

»Krönchen!«, schrie er zwischen den Sprüngen. »Krönchen!«

Dann fraß ihn die Dunkelheit.

»Geht zu Arne«, rief Kathrin, schon im Begriff, ihrem Vater nachzulaufen. »Habt ihr verstanden? Keiner folgt uns!«

Sekunden später war auch sie verschwunden. Die Gruppe stand wie betäubt. Niemand regte sich, niemand sprach. Als hätte das Verschwinden von Kron und Kathrin einem mehrköpfigen Wesen das Herz herausgerissen.

Jule löste sich als Erste aus der Erstarrung. Sie lief zu Gerhard und warf sich in seine Arme. Er roch gut. Nicht nach Politiker oder Feldherr, sondern wie ein Mann, der sie liebte, der stolz auf sie war, egal, was sie tat, und der sie jederzeit gegen jedermann verteidigen würde. Sie wollte nichts mehr denken und niemand mehr sein. Sie wollte stillhalten, während Gerhard ihren Rücken streichelte und Sophie im Zentrum der Umarmung wohlig seufzte.

37 Seidel

Seit Barbaras Tod hatte das Haus nicht mehr so viele Menschen gesehen. Das Krankenhaus zu verlassen, um zwischen den eigenen Wänden zu sterben, war am Ende das Einzige gewesen, das ihr zu wünschen übrig blieb. Wo heute Arnes Schreibtisch stand, hatte er seiner Frau damals das letzte Bett bereitet. Jedes Mal, wenn sie aus dem Morphiumschlaf erwachte, bat sie darum, das Fenster zu öffnen und die Gerüche und Geräusche des Waldes einzulassen. Eines späten Abends, als er wie immer an ihrem Bett saß und ihren Schlaf bewachte, griff sie plötzlich nach seiner Hand und sah ihm in die Augen, so unbeirrt, als gäbe es kein Morphium, keinen Krebs und kein gefräßiges Nichts, das sie schon fast verschlungen hatte.