»Hörst du, Arne«, sagte sie, »da läuft ein Igel durch den Garten«, und Arne stand an ihrer Stelle auf, ging zum Fenster, schaute in die Dunkelheit und log für sie:
»Es sind sogar vier Stück. Eine Mutter und drei Junge.«
Über Barbaras Gesicht breitete sich ein glückliches Lächeln, und als Arne wieder an der Bettkante saß, war sie nicht mehr da, für immer gegangen, ihren unbelebten Körper zurücklassend wie ein nicht mehr benötigtes Kleidungsstück. Noch einen Tag lang hatte sie dort unter dem Fenster gelegen, hübsch zurechtgemacht von den Mitarbeitern des Beerdigungsinstituts, und genau wie heute hatten Menschen entlang der Wände gestanden, mit hängenden Köpfen, die Hände verschränkt oder in die Taschen geschoben, sprachlos, hilflos, nutzlos, mit nicht mehr im Angebot als ihrer schieren Gegenwart.
Unfassbar, dass seitdem 20 Jahre vergangen sein sollten. Wenn Arne wollte, konnte er sich Barbaras Gesicht so deutlich vor Augen rufen, als wäre sie nur kurz aus dem Raum gegangen, um den vielen Gästen etwas zu trinken zu holen. Mit der Zeit war der Schmerz stumpfer geworden, aber der Verrat glühte noch immer grell wie am ersten Tag. Der Anblick einer betroffen schweigenden Besuchergruppe in diesem Raum brachte alles zurück, die Trostlosigkeit, die Verzweiflung, die bohrende Gewissheit von der Sinnlosigkeit allen Seins, auch wenn anstelle eines Totenbetts heute der Schreibtisch am Fenster stand und die Besucher nicht wie Trauergäste, sondern eher wie Landstreicher aussahen, schmutzig, erschöpft, mit Tannennadeln in den Haaren. Durch das offene Fenster drängte die Nacht herein und flüsterte mithilfe von Wind und Zweigen: »Was ist, wird nicht sein.« Arne ging in die Küche und stellte Schnaps und Gläser für zehn Personen auf ein Tablett.
Als er zurückkam, hatte Kathrin im Besuchersessel wieder zu weinen begonnen, während Kron in unveränderter Haltung am Schreibtisch saß und apathisch vor sich hin starrte. An den Wänden lehnte jener Teil des Suchtrupps, der sich hartnäckig geweigert hatte, nach Hause zu gehen. Gerhard und Jule Fließ mit ihrer kleinen Tochter. Björn, Heinz und Jakob, die immer zur Stelle waren, wenn der alte Kron zum Appell rief. Verena, die als Tierärztin nach der Wende Arnes Job in der Ökologica übernommen hatte. Ingo hatte das karierte Hemd in die Hose gestopft, als wollte er dem Anlass einen gewissen Respekt zollen. In der Stille erzeugten Insekten, die unablässig durchs offene Fenster hereinkamen und sich zu Hunderten am Glas der Deckenlampe sammelten, einen elektrisch summenden Lärm.
Was fehlte, war ein Mann, der die weinende Kathrin hätte in den Arm nehmen können. Wolfi hatte sich nicht am Suchtrupp beteiligt, weil er, wie er sagte, zu Hause die Stellung halten musste, und Arne stand es nicht zu, die erwachsene Frau Kron-Hübschke zu trösten. Es brach ihm das Herz, sie in dieser Verfassung zu sehen. Als er gegen acht Uhr erfahren hatte, dass Krönchen verschwunden war, hatte er einen Satz geäußert, den sie vermutlich an vielen Haustüren zu hören bekam: »Die taucht schon wieder auf, weit kann sie ja nicht sein.« Jetzt war es zwanzig vor eins, und Arne musste sich eingestehen, dass ihm langsam mulmig wurde. Nach wie vor war er überzeugt, dass die kleine Diva davongelaufen war, um ihren Eltern eins auszuwischen. Leider hieß das nicht, dass ihr nichts zugestoßen sein konnte.
In der Stille schwang ein unheilvoller Unterton. Arne wusste, was kommen würde, er wusste nur noch nicht, wie er es verhindern sollte. Wenn nicht bald etwas geschah, würde es schwierig werden, das Dorf ruhig zu halten. Zum ersten Mal im Leben hatte er entschieden, dass es das Beste war, die Polizei anzurufen. Jetzt galt es, auf Zeit zu spielen. Die Dienststelle in Plausitz würde mindestens eine Dreiviertelstunde brauchen, um zwei Leute zu aktivieren. Bis dahin wollte er dafür sorgen, dass niemand den Raum verließ.
Er war noch mit dem Befüllen der Schnapsgläser beschäftigt, als es losging.
»Du hattest auch schon mal mehr Dampf auf dem Kessel, Kron«, sagte Ingo.
Kron blickte weiter stur vor sich hin und verriet durch kein Zeichen, ob er Ingo überhaupt gehört hatte.
»Ich denke, so langsam könnten wir mal rübergehen«, sagte Heinz.
»Oder wollen wir ewig hier rumsitzen?«, fragte Björn.
Kathrin schaute auf, die Wangen nass von Tränen.
»Ich war doch an allen Türen«, sagte sie.
»Auch beim fetten alten Hund?«, fragte Heinz.
»Natürlich«, sagte Kathrin.
»Und was meinte er?«
»Dass wir Bescheid sagen sollen, wenn er helfen kann.«
»Will der sich lustig machen?«, fragte Ingo laut.
»Warum war er dann nicht mit im Wald?« Jakob ließ die Schnapsflasche, mit der Arne hantierte, nicht aus den Augen.
»Was glaubst du denn?« Kathrin wischte sich übers Gesicht und deutete mit dem Kinn auf ihren Vater. »Der und Papa?«
Während die Stimmung immer gereizter wurde, wahrte Kron sein für ihn völlig untypisches Schweigen. Arne begann sich zu fragen, ob der Alte bei sich war, als er einen Blick auffing, den Kron seiner Tochter zuwarf, woraufhin diese warnend den Kopf schüttelte. Das war es also. Kathrin hatte sich ausnahmsweise dazu durchgerungen, ihrem Vater eine Ansage zu machen. Gutes Mädchen. Vielleicht hatte sie ihm gedroht, ihn nie wieder zu besuchen, wenn er nicht die Klappe hielt. Oder dass er nicht mehr mit Krönchen in den Wald gehen durfte. Falls die Kleine wieder auftauchte. – Natürlich taucht sie wieder auf, korrigierte sich Arne, die Frage war ja nur, wann, beziehungsweise – an dieser Stelle wollte er nicht weiterdenken – in welchem Zustand.
»Waren Sie auch bei Bodo Schaller?«, fragte Fließ gerade.
»Da hat keiner aufgemacht«, sagte Kathrin.
»Wenn ich etwas zu bedenken geben darf.« Fließ hob den Finger. »Falls Gombrowski etwas mit der Sache zu tun hat, würde er das Kind niemals bei sich zu Hause verstecken. Als ich vorhin Herrn Schaller nach Krönchen befragen wollte, hat er ausgesprochen aggressiv reagiert.«
»Oder beim Indianer!«, rief Ingo. »Vielleicht hat der alte Hund sie beim Indianer versteckt!«
»Was hast du immer mit dem Indianer?«
»Der ist ein Spinner!«
»Bist doch selbst ein Spinner!«
»Ist doch völlig klar, dass der alte Hund sie hat!«, schrie Björn, die anderen übertönend. »Keiner weiß, wo, aber irgendwo hat er sie!«
Arne atmete aus und zwang sich, so lange nicht wieder einzuatmen, bis sich sein Herzschlag beruhigte, eine Methode, die in vielen kritischen Situationen seiner Bürgermeisterlaufbahn Wunder bewirkt hatte.
»Wir trinken jetzt erst mal einen«, sagte er und machte sich daran, die Gläser zu verteilen.
Alle außer Jule griffen zu, jemand sagte »Wohlsein«, alle tranken, so dass Arne gleich mit dem Nachfüllen beginnen konnte.
»Was ist los mit dir, Kron«, fing Ingo wieder an. »Deine Enkelin ist weg, und du sitzt hier rum wie eine Kuh, wenn’s donnert.«
»Lass gut sein, Ingo«, sagte Arne.
»Herr Seidel möchte eine Eskalation vermeiden.« Fließ nickte wohlwollend in Arnes Richtung, als wäre er der Chef und Arne Mitarbeiter des Monats. »Trotzdem sollten wir die Option Gombrowski nicht aus den Augen verlieren. Zumindest müssen wir ausschließen, dass er etwas weiß. Erst dann können wir sinnvoll weitersuchen.«
Die anderen sahen sich an, offensichtlich machte die Tonlage des Vogelschützers Eindruck. Sei doch einfach still, du Penner, dachte Arne. Noch eine halbe Stunde Ruhe brauche ich. Das muss doch zu schaffen sein.
»Sehr nett, dass Sie sich engagieren, Herr Fließ«, sagte er laut. »Aber ich würde Sie bitten, die Regelung der Angelegenheit mir zu überlassen.«
»Und was regelst du Tolles? Du machst doch gar nichts!«, platzte Kron heraus. Erschrocken sah er zu seiner Tochter hinüber, die ihn aber nicht zurechtwies, sondern nachdenklich Fließ betrachtete, der sich, ermutigt durch Krons Einwurf, von der Wand abstieß.