»Ich schlage vor, dass wir eine neutrale Kommission bilden. Herr Seidel und ich suchen Herrn Gombrowski auf und stellen ihn zur Rede.«
»Wir treten dem alten Hund die Tür ein und durchsuchen die Bude!«
»Da werden wir Krönchen schon finden.«
»Und wenn er nicht reden will, hauen wir ihm ein paar aufs Maul.«
»Verdient hat er es schon lange.«
»Schluss damit!« Arne hob die Stimme, um das Geschrei zu übertönen. »Wir sind hier nicht im Wilden Westen.«
»Wir sollten auch an das Kind denken«, sagte Fließ. »Sie befindet sich schon …«, er sah auf die Uhr, »seit fünf Stunden, also, möglicherweise in Gefangenschaft.«
»Ich denke an nichts anderes!«, schrie Kathrin und fing wieder an zu weinen, dieses Mal so heftig, dass es ihren ganzen Körper schüttelte.
»Kathrin!« Kron hatte sich vorgebeugt, um seiner Tochter ins Gesicht zu sehen. »Du hast gesagt, es ist deine Entscheidung. Aber dann musst du auch was entscheiden!«
»Nicht, Kathrin«, sagte Arne bittend. »Lass mich das machen.«
Aber sie ignorierte ihn.
»Dann geht eben!«, rief sie. »Ich weiß doch auch nicht …«
Der Rest des Satzes ging in Schluchzen unter. Kron war sofort auf den Beinen. Der ganze Raum geriet in Bewegung. Scheiße, dachte Arne. Verdammter Mist.
»Auf geht’s!«
»Aber nicht mit leeren Händen!«
»Nehmt euch ’ne Schaufel mit!«
»Halt!«, schrie Arne. »Niemand geht irgendwohin!«
»Was hast du denn zu melden?«
»Die Polizei wird gleich hier sein.« Das klang schwach, brachte aber immerhin den Aufbruch aus dem Takt.
»Du hast die Bullen angerufen?«
»Aus Plausitz brauchen sie vierzig Minuten«, sagte Arne. »Mit Blaulicht dreißig.«
»Scheiß doch auf die!«, rief Heinz. »Wir gehen jetzt!«
»Wenn hier irgendwer zu Gombrowski marschiert, zeig ich ihn an«, sagte Arne. »Wegen Hausfriedensbruch, versuchter Körperverletzung und haste nicht gesehen.«
Er wusste selbst, dass solche Drohungen niemanden beeindruckten, aber er musste Zeit gewinnen. Jede Minute zählte.
»Jetzt halt mal die Luft an.« Kron baute sich vor ihm auf. Der Alte war endgültig von der Leine. Seine Stimme überschlug sich wie das wütende Bellen eines Hunds. »Du bist doch schuld, dass Krönchen weggelaufen ist! Weil sie wegen dir nicht mehr im Garten spielen darf!«
»Wie denn jetzt?« Arne wischte sich Krons Speichel aus dem Gesicht. »Weggelaufen oder entführt?«
»Erst ist sie weggelaufen, dann hat Gombrowski sie geschnappt. Weil du deinen Nachbarn wegen ein bisschen Rasenmähen und Kindergeschrei das Scheißhaus blockierst!«
»Seid ihr bald fertig?« Heinz hielt sich neben Ingo und Björn zum Aufbruch bereit, während Fließ hilflos in der Nähe des Schreibtischs stand, beide Hände erhoben und blass um die Nase, ein Zauberlehrling, dem die gerufenen Geister über den Kopf wuchsen.
Kathrin war im Besuchersessel zusammengesunken, Jule Fließ hatte sich auf den Boden gesetzt und angefangen, ihr Baby zu stillen, während sich Jakob ein Glas nach dem anderen aus der Bromfelder-Flasche einschenkte und schon nicht mehr recht mitbekam, was um ihn herum geschah. Gern hätte Arne einen Moment innegehalten und das Tableau ein wenig länger betrachtet. Der Raum wirkte wie die Bühne eines seltsamen Theaterstücks, und er fragte sich, ob Wolfi so etwas schrieb, falls er überhaupt jemals etwas zustande brachte.
»Du steckst doch mit Gombrowski unter einer Decke«, schrie Kron. »Genau wie die Polizei. Weiß doch keiner, wo der alte Hund überall Beziehungen hat!«
Das war ein guter Augenblick für den Durchmarsch. Ohne Vorwarnung schlug Arne einen Haken, stieß den glotzenden Heinz beiseite, schloss die Tür von innen ab und schob den Schlüssel in die Tasche.
»Jetzt regen wir uns alle mal ab«, sagte er.
»Du sperrst mich nicht ein, du verdammter Gombrowski-Lakai!«
Kron humpelte auf Arne zu. Als er strauchelte, nutzte Arne den Moment, um sich zwischen Schreibtisch und Fenster in Sicherheit zu bringen und den Schlüssel unbemerkt unter einen Poststapel zu schieben.
»Haltet ihn fest!«, brüllte Kron.
Björn und Heinz nahmen Arne in die Zange, während Ingo an der Türklinke rüttelte wie ein Kind unter Hausarrest. Als die beiden Alten nach seinen Armen griffen, spürte Arne, wie wenig Kraft sie noch besaßen und dass es trotzdem reichte, um einen wie ihn zu überwältigen. Drei ringende Greise, dachte er. Wenn es einen Gott gibt, holt der sich gerade die nächste Tüte Popcorn und hat schon Seitenstechen vor Lachen.
»Du gibst mir jetzt den verdammten Schlüssel.« Kron war herangehüpft und machte sich an Arnes Kleidung zu schaffen. Während seine Finger erfolglos Arnes Hosentaschen durchsuchten, hatte dieser Zeit, sich wieder einmal darüber zu wundern, dass es ihm nicht gelang, Unterleuten zu hassen. Ganz egal, was passierte, er war dazu verurteilt, dieses Dorf und seine Menschen zu lieben.
Dann schlossen sich Krons Finger um seinen Hals.
Es wurde still, als hielte jeder im Raum gemeinsam mit Arne die Luft an. Schon nach wenigen Sekunden begannen rote Sterne vor seinen Augen zu tanzen. Das glaube ich jetzt nicht, dachte er. Das erlebe ich nicht wirklich. Seine Arme begannen, unkontrolliert durch die Luft zu fahren. Björn und Heinz wurden beiseitegeschleudert, Kron ließ trotzdem nicht los.
»Gombrowski hat das Kind doch gar nicht.«
Eine bislang ungehörte Stimme, wie ein neues Instrument im Orchester, von der Partitur nicht vorgesehen.
»Ihr verdammten Idioten«, fügte Jule hinzu.
Krons Finger lösten sich, Arne sog Luft ein und massierte sich den Kehlkopf. Kron hatte sich Jule zugewandt wie ein Stier, der von einem zweiten Matador angegriffen wird.
»Was redest du da?«
»Gombrowski hat nichts damit zu tun.«
»Woher willst du das wissen?«
»Sie weiß gar nichts.« Fließ war vor Kron getreten, um klarzustellen, dass er ihn keinen Zentimeter näher an seine Frau heranlassen würde. Jule saß auf dem Boden wie die heilige Jungfrau mit dem Kinde, im Zentrum aller Aufmerksamkeit.
»Gombrowski ist ein guter Mensch.«
Der Satz schien alle Energien zu absorbieren. Ratlosigkeit flutete den Raum wie eine gasförmige Substanz. Ingo rüttelte nicht mehr an der Klinke, Jakob stand reglos mit der halb leeren Bromfelder-Flasche in der Hand. Kron war in sich zusammengefallen. Die Wut war aus ihm gewichen und hatte einen alten, tödlich überanstrengten Mann hinterlassen. Arne sah Krons gefleckte Kopfhaut zwischen den grauen Haarsträhnen. Die wie Baumrinde gefurchte Stirn. Die geröteten Augen, die sich plötzlich mit Tränen füllten. Kron schlug die Hände vors Gesicht. Sie standen betroffen. Der Anblick des weinenden Greises war schwer zu ertragen.
»Kathrin! Kathrin!«
Die Stimme kam von draußen. Arne wandte den Kopf und sah hinaus. Drüben lief eine Gestalt durch den dunklen Garten, flankte über den Zaun und kam direkt auf das offene Fenster zu. Wolfi schwenkte die Arme über dem Kopf, und als Arne sah, wie er strahlte, fiel ihm der sprichwörtliche Stein vom Herzen, groß wie ein Kinderkopf.
»Kathrin! Sie ist wieder da!«
Die Uhr auf dem Schreibtisch schlug eins. Von weit her glaubte Arne den Klang eines Martinshorns zu vernehmen, ohne sagen zu können, ob sich das Fahrzeug näherte oder entfernte.
38 Kron
Zum ersten Mal im Leben war Kron froh über die Schmerzen in seinem Bein. Während der vergangenen Stunden hatten sie ihn bis an den Rand des Wahnsinns gebracht und gerade dadurch verhindert, dass er den Verstand verlor. Jedes Mal, wenn er den rechten Fuß belastete, fuhr ihm ein Messer vom Knie hinauf bis in die Hüfte. Der Schmerz zog ihm den Magen zusammen und explodierte hinter seiner Stirn. Jeder Schritt hatte die Bilder eines von Wildschweinen zertrampelten Krönchens verdrängt und ihm den Namen jenes Mannes ins Gedächtnis gerufen, dem das kaputte Bein, obwohl es immer noch an Kron festgewachsen war, seit zwanzig Jahren gehörte: Gombrowski.