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Wie ein schmutziges, kaputtes Werkzeug lehnte Kron in der Ecke von Kathrins Wohnzimmer, in dem alles aus sauberen Stoffen und glatten Oberflächen bestand. Seine Stiefel hatten erdige Flecken auf dem Teppich hinterlassen; rings um seine Hand, die sich auf das Sideboard stützte, kondensierte der Schweiß. Das Einzige, was Kron empfinden konnte, war Scham darüber, dass er Kathrins gepflegtes Haus mit seiner Anwesenheit befleckte. Er glaubte schon, ihre genervte Stimme zu hören: »Ach, Papa!« Dabei nahm sie ihn in diesem Moment gar nicht zur Kenntnis. Sie hatte nur Augen für Krönchen.

Kron war kein Mann, der sich Illusionen machte. Er wusste, dass seine Tochter ihn hasste. Im dunklen Inneren von Kathrins vermeintlicher Liebe wohnte Ungeduld, eine gnadenlose Unfähigkeit, den eigenen Vater so, wie er war, zu ertragen. Diese Ablehnung war das Ergebnis von unzähligen Verletzungen, die Kathrin im Lauf ihres Lebens hatte erdulden müssen. Sie hatte immer geschwiegen. Erst war sie lange Jahre zu jung und dann plötzlich zu alt gewesen, um Anklage zu erheben. Stumm gab sie ihm die Schuld an der Flucht ihrer Mutter, stumm würde sie ihm die Schuld an Krönchens Verschwinden geben.

Er konnte ihr das nicht einmal verdenken. Er wusste, dass es ihm trotz aller Anstrengung niemals gelungen war, ein guter Vater zu sein. Regelmäßig hatte er sich dabei zusehen müssen, wie er die Welt erklärte, statt seine Tochter in den Arm zu nehmen. Statt Vaterliebe hatte er ihr Belehrungen oder Belohnungen angeboten. Die wachsende Distanz zwischen ihnen hatte er mit den äußeren Umständen gerechtfertigt, erst mit zu viel Arbeit, dann mit dem Zusammenbruch der DDR und mit seinem Kampf gegen Gombrowski. Schließlich auch mit Kathrins naiver Bereitschaft, den Kapitalismus als Befreiung zu begreifen. Er hatte sich einzureden versucht, dass die niedergerissene Mauer zwischen Ost und West nun zwischen ihm und seiner Tochter verlaufe.

Trotz allem war sie seinetwegen in Unterleuten geblieben, hatte einen Mann geheiratet, der dumm genug war, das Landleben mit ihr zu teilen, hatte darauf verzichtet, sich einen Ort zu suchen, an dem sie aus sich und ihren Talenten etwas machen konnte. Kron stand in ihrer Schuld, und weder das Haus in der Waldstraße, das er ihr gekauft hatte, noch die Geldscheine, die er ihr manchmal zusteckte, konnten daran etwas ändern. Kathrins Hass war wie eine Seuche, mit der sie das ganze Dorf infiziert hatte. Einen Mann, der von der eigenen Tochter abgelehnt wurde, konnte auch sonst niemand lieben. Er war vogelfrei.

Was ihm blieb, war der Versuch, an seiner Enkelin etwas gutzumachen. Wenn er mit Krönchen im Wald hockte, die Betriebsabläufe eines Ameisenbaus studierte oder einen Mistkäfer bei der Arbeit beobachtete, konnte es vorkommen, dass er plötzlich aus der Zeit fiel, sich im Jahr 1980 wähnte, ein 35-jähriger Brigadeführer im Bereich Pflanzenproduktion, verzweifelt bemüht, seiner kleinen Tochter mithilfe von Ameisen und Mistkäfern die Mutter zu ersetzen. In solchen Momenten erhob er sich schnell, um den Wald nach Beweisen für die Gegenwart abzusuchen – und fand nichts. Für Bäume spielten Jahreszahlen keine Rolle. Egal, was die Menschheit veranstaltete, der Wald stand daneben und schwieg.

Noch vor wenigen Minuten hatte Kron dem Teufel seine Seele versprochen, wenn er nur Krönchen zu ihm zurückbringen würde. Jetzt stand er da und hielt den Blick gesenkt, unfähig, Krönchen ans Herz zu drücken oder auch nur mit einem Winken zu begrüßen. Er war überhaupt nicht in der Lage, sich der Couch zu nähern. Er konnte Krönchens Anblick kaum ertragen, wie sie dort saß, winzig klein und mit verheultem Gesicht, während ihre Eltern vor ihr auf dem Teppich knieten, jeder einen dünnen Arm mit beiden Händen umklammernd, als könnte ihre Tochter davonfliegen, wenn sie den Griff für eine Sekunde lockerten.

Kron erlaubte sich, keinen klaren Gedanken zu fassen. Er hätte nicht einmal sagen können, ob er sich freute. Unbeteiligt wohnte er der Szene bei, fast so, als ginge ihn das Ganze nichts an, als hätte das wiederaufgetauchte Krönchen mit dem verschwundenen Krönchen nichts zu tun. Er hörte Kathrin lachen und weinen und schließlich still werden, als Krönchen zu sprechen begann. Die Müdigkeit zog an allen Gliedmaßen, versprach Bewusstlosigkeit und Vergessen. Wie im Halbschlaf lauschte er Krönchens stockender Stimme und dem Pochen in seinem Bein. Gombrowski, klopfte es, Gombrowski.

»Ist nicht schlimm«, sagte Wolfi. »Erzähl einfach.«

»Weil ihr immer sagt, dass ich leise sein soll«, brach es aus Krönchen heraus. »Ihr habt mich gar nicht mehr lieb!«

»Wir haben dich sehr lieb«, sagte Kathrin. »Erzähl weiter.«

»Da bin ich zu den Katzen gelaufen.«

»Zu den Katzen?«, fragte Wolfi.

»Sie meint: zu Hilde«, sagte Kathrin. »Und dann?«

»Dann hab ich mit den Katzen gespielt.«

»Im Haus?«

»Bei Tante Hilde.«

»Tante Hilde war auch da?«

»Tante Hilde ist immer da.«

»Sie hat dir erlaubt, mit den Katzen zu spielen?«

»Ja.«

»Und dann?«

Krönchen schwieg.

»Sag es, Schatz. Es ist wirklich wichtig, dass du uns die Wahrheit sagst.«

»Tante Hilde hat mich nicht nach Hause gelassen.«

»Wie meinst du das?«

»Sie hat mich eingesperrt. Im Schrank. Oder in einer Kiste. Im Keller. Oder auf dem Dachboden.«

»Sie hat was gemacht?«

Als Kron aufsah, hatte Wolfi seiner Tochter den Finger unter das Kinn gelegt und ihr Gesicht zum Licht gehoben. Krönchen verdrehte die Augen, begann mit Armen und Beinen zu zappeln, ganz offensichtlich in Panik, und Kron schaute schnell wieder weg.

»Es war dunkel. Ich hab geschrien, aber keiner hat mich gehört. Dann hat Tante Hilde gesagt, da sind Ratten und Spinnen, und die kommen, wenn ich Lärm mache. Da hab ich ganz still gesessen. Ich hatte solche Angst.«

»Waren da noch andere Leute?« Plötzlich klang Wolfi eiskalt. »Hast du bei Tante Hilde noch jemanden gesehen? Krönchen!«

Die Kleine fing an zu schreien, ein Ton, der Kron das Gehirn in Scheiben schnitt. Sie riss sich aus der Umklammerung ihrer Eltern, warf sich seitlich auf die Couch und versteckte den Kopf unter einem Sofakissen.

»Lass gut sein«, sagte Kathrin. »Sie steht unter Schock.«

Kron schaute zu, wie Kathrin das wimmernde Kind aus dem Zimmer trug. Die Treppe zum oberen Stockwerk ächzte unter ihren Schritten. Wolfi kniete noch immer auf dem Teppich wie zum Gebet, die Ellenbogen auf die Sitzfläche der Couch gestützt, und sah nachdenklich vor sich hin.

Gombrowski, klopfte das Bein.

Als die Türklingel ging, raffte Kron seine Kräfte zusammen, brachte alles Gewicht aufs linke Bein, stieß sich von der Wand ab und nutzte den Schwung, um hüpfend das Zimmer zu durchqueren.

»Ich mach das«, sagte er zu Wolfi. »Ich wollte sowieso gerade gehen.«

Draußen standen zwei Jugendliche in Uniform. Plausitzer Nachwuchs, glattgesichtig. Junge und Mädchen, frisch von der Polizeischule.

»Die Kleine ist wieder da.« Kron fischte in der Hosentasche nach einem Zwanzig-Euro-Schein. »Tut uns leid wegen dem Fehlalarm.«

Sie nahmen das Geld und zogen die Mützen vom Kopf.

»Kein Problem«, sagte der Junge. »Kinder machen Dummheiten.«

»Ja«, sagte Kron. »Erwachsene auch.«

39 Gombrowski, geb. Niehaus

Da saß ein Gespenst. Von den Toten auferstanden, um plötzlich mitten in der Nacht am Küchentisch zu hocken. Elena hatte Hilde eine halbe Ewigkeit nicht aus der Nähe gesehen und darüber beinahe vergessen, dass sie real existierte. Hilde war der Klang von Gombrowskis betretenem Schweigen gewesen. Ein monatlicher Eintrag in Gombrowskis Kontoauszügen und der wahre Grund von Elenas Doppelkopf-Leidenschaft. Hilde war ein Schatten hinter den Fenstern des Nachbarhauses, ein schlafendes Phantom unter einem Dach, auf das Elena morgens um fünf faustgroße Steine schleuderte. Hilde war die Sprachlosigkeit in Elenas Ehe, die unsichtbare Dritte im Doppelbett, das stumme Gelächter in ihren trostlosen Momenten. In all den Jahren war Hilde eine Menge Dinge gewesen, nur kein Mensch. Sie plötzlich vor sich zu haben, eine Frau aus Fleisch und Blut oder doch wenigstens aus Haut und Knochen, war ein Schock.