Выбрать главу

Hilde schniefte und nickte.

»Gegen neun klopfte es an der Tür. Ihr wisst, dass ich nicht aufmache, wenn ich keine Ahnung habe, wer draußen steht.«

Ihr wisst. Als ob Gombrowski und Elena eine Einheit darstellten. Nicht einmal Püppi war jemals auf die Idee gekommen, ihre Eltern gemeinsam anzusprechen. Bei Elena und Gombrowski gab es kein »ihr« oder »wir«. Nicht einmal »du« und »ich«. Eigentlich gab es nur »er« und »sie«.

»Aber das Klopfen hörte nicht auf. Es hämmerte immer weiter, das klang nach Notfall. Es war Kathrin, die fragte, ob ich Krönchen gesehen hätte. Ich sagte, nein.«

»Was der Wahrheit entsprach.«

»Sag ich doch.«

»Und du hast im Haus nichts Ungewöhnliches bemerkt?«

Fast hätte Elena gelacht. Gombrowski hörte sich an wie ein Fernsehdetektiv.

»Eben nicht! Bevor ich ins Bett ging, habe ich die Katzen gefüttert. Sie kamen alle, sogar Bernstein, der neu ist und ein bisschen schüchtern. Stockhausen und Schönberg terrorisieren ihn. Ich war froh, dass er gestern …«

»Hilde.«

Schweigen breitete sich aus. Elenas Beine begannen vom Stehen zu schmerzen; ihre Knie waren schon immer älter gewesen als sie selbst. Vorsichtig verlagerte sie das Gewicht, bemüht, kein Geräusch zu verursachen, damit Hilde nicht wieder auf die Idee käme, sie anzustarren. Aber diese schien ganz mit sich selbst beschäftigt, sie tupfte mit der Fingerspitze Wassertropfen vom Porzellan der Teekanne und malte Kreise auf den Tisch.

»Gegen zehn bin ich ins Bett gegangen. Irgendwann habe ich im Erdgeschoss etwas rumpeln gehört, aber so etwas kommt vor, wenn man mit neunzehn Mitbewohnern zusammenlebt. Ich habe mir nichts dabei gedacht und bin eingeschlafen. Dann ging plötzlich das Geschrei los. Furchterregend, als würde ein Kind abgestochen.«

»Nachts sind das meistens Tiere«, sagte Gombrowski.

»Das war kein Tier.« Hilde schüttelte den Äffchenkopf. »Auch Katzen schreien manchmal, aber nicht so. Ich bin raus aus dem Bett und die Treppe runter, so schnell ich konnte.«

Elena griff nach dem Lappen und wischte die Tischplatte ab. Für einen Moment sah es aus, als wollte Gombrowski etwas zu ihr sagen, dann überlegte er es sich anders und senkte den Blick.

»Krönchen war außer sich, nicht ansprechbar. Sie warf sich gegen die verschlossene Eingangstür, schrie wie am Spieß. Als ich sie am Arm fasste, schlug sie nach mir.«

Gombrowski nickte wie der Wackeldackel auf der Hutablage eines Mercedes. Sein rechtes Ohrläppchen knetete er zwischen Daumen und Zeigefinger, eine Geste, die Elena noch nie an ihm gesehen hatte.

»Sie war in Panik«, sagte er. »Wahrscheinlich ist sie von zu Hause weggelaufen, um ihren Eltern einen Schrecken einzujagen. Sie ist bei dir reingeklettert, hat sich im Haus versteckt und mit den Katzen gespielt. In irgendeinem Winkel muss sie eingeschlafen sein, und als sie mitten in der Nacht wieder aufwachte, wusste sie nicht, wo sie war. Alles dunkel, die Haustür verschlossen. Da ist sie ausgerastet.«

Der Fernsehdetektiv hatte den Fall gelöst, ließ sein Ohrläppchen los und lehnte sich im Stuhl zurück. Schöne Geschichte, dachte Elena. Spannend erzählt, nur leider kein bisschen glaubwürdig. Hätte sich Gombrowski jemals die Mühe gemacht, auch nur ein Minimum an Verständnis für seine eigene Tochter zu entwickeln, dann wäre ihm klar gewesen, dass kleine Mädchen vielleicht von zu Hause wegliefen, aber nicht für Stunden, und sie schliefen auch nicht inmitten eines Abenteuers versehentlich ein.

»Weil ich nicht wusste, was tun, habe ich einfach die Haustür aufgeschlossen. Sie ist an mir vorbeigeflitzt und in der Dunkelheit verschwunden. Wie wenn du ein Tier rauslässt, das sich ins Haus verirrt hat.«

»Und du?«, fragte Gombrowski. »Hast du bei Kathrin angerufen?«

»Natürlich!«, rief Hilde und klang zum ersten Mal wie ein normaler Mensch. »Aber bis ich die Telefonnummer herausgefunden hatte, sind ein paar Minuten vergangen, und als der Mann von Kathrin endlich dranging, war Krönchen schon zu Hause.«

»Sehr gut.« Gombrowski hatte das Nicken wiederaufgenommen, schlug beide Handflächen auf den Tisch und erhob sich vom Stuhl, der erleichtert ächzte. »Gut, dass du dich gleich dort gemeldet hast. Den Rest werden wir Kron schon verklickern, damit er nicht auf dumme Gedanken kommt. Jetzt bringe ich dich erst mal nach Hause.«

Auch Hilde stand auf, wodurch sie nicht wesentlich größer wurde. Sie machte einen Schritt auf Elena zu, hob das Äffchengesicht und legte ihr eine winzige Hand auf den Unterarm. Elena sah, dass die Nägel zu groß für die gekrümmten Finger waren und zu allem Überfluss rot lackiert. Sie machte einen Schritt zur Seite, um der Berührung zu entgehen.

»Elena«, sagte Hilde. »Ich weiß, dass du mich hasst. Aber dafür gibt es keinen Grund.«

»Wir gehen jetzt«, polterte Gombrowski und zog Hilde von Elena weg.

»Ich habe nie irgendetwas Böses gemacht.« Hilde schrie fast, während Gombrowski sie Richtung Küchentür dirigierte: »Niemals!« Der Äffchenkopf drehte sich auf dem dünnen Hals bis auf den Rücken, um Elena immer weiter anzusehen. »Du musst mir glauben!«

Angewidert von der Szene, wandte sich Elena so abrupt um, dass sie gegen den Obstkorb stieß, der auf der Anrichte stand. Er fiel polternd zu Boden, Früchte kullerten in alle Richtungen, ein Apfel traf Elenas nackten Fuß, eine Birne schaffte es bis über den Flur und stieß gegen die geschlossene Wohnzimmertür, hinter der Fidi sofort zu bellen begann.

»Mein Gott, Elena«, rief Gombrowski.

Verschwindet, dachte Elena und hätte den beiden am liebsten einen Apfel hinterhergeworfen. Haut bloß ab. Sie brauchte Zeit zum Nachdenken. Über die Geschichte vom versehentlich eingesperrten Krönchen, vom Fernsehdetektiv Gombrowski und der weinerlichen Hilde. Zeit, um zu überlegen, was die beiden angerichtet hatten und was das für Elena bedeutete. Zeit, um die Erinnerung an die wasserblauen Augen im bemalten Äffchengesicht aus dem Kopf zu kriegen.

Als Fidi endlich Ruhe gab, hörte Elena, wie sich Gombrowski und Hilde im Flur leise unterhielten. Dann wurde der Schlüssel in der Haustür gedreht und ein Regenschirm aufgespannt. In diesem Moment tat es einen Schlag, der die Scheibe des Küchenfensters zum Klirren brachte, gefolgt von einem Rieseln. Draußen fiel etwas zu Boden. Fidi bellte wie besessen.

»Was machst du denn?«, schrie Gombrowski.

Elena stand wie vom Donner gerührt in der Küche und konnte nicht orten, woher der Lärm gekommen war. Hilflos drehte sie sich einmal um sich selbst. Der nächste Schlag. Dann noch einer. Schwere Gegenstände krachten gegen die Außenwand des Hauses. Splitternd fiel die Terrassentür in sich zusammen; etwas Schweres rollte über das Parkett im Wohnzimmer.

Da sind sie, dachte Elena. Jetzt sind sie da.

40 Gombrowski

Wieder einmal musste sich Gombrowski fragen, wofür ihn das Schicksal bestrafte. Was er so grundlegend falsch gemacht hatte. Und wie immer gab er sich die gleiche Antwort: nichts. Er führte ein gewöhnliches Leben. Er tat Dinge, die jeder andere an seiner Stelle ebenfalls tun würde. Er hatte Spaß am Gelingen und sprach von Erfolg, wenn für alle Beteiligten der größtmögliche Nutzen entstand. Er hatte so vielen Menschen im Dorf auf so vielfältige Weise geholfen, dass St. Martin neben ihm wie ein Waisenknabe wirkte. Was er nicht für Unterleuten tat, das tat er für seine Frauen. Mit den Jahren hatte er gelernt, keine Dankbarkeit zu erwarten. Aber ihn schmerzte die Tatsache, dass man ihn zum Lohn für alle Anstrengungen auch noch drangsalierte. Nicht nur Kron, das Finanzministerium und die EU – auch Elena, Püppi, Hilde, Betty und Fidi machten ihm das Leben schwer. Für Elena hatte er das große Haus erworben und gleich nach der Wende mit allen Annehmlichkeiten ausgestattet, die der Westen zu bieten hatte. Zum Dank dafür schlich sie als stummer Vorwurf durch die Räume und tat so, als hätte sie Angst vor ihm. Püppi hatte er ein Auto gekauft, mit dem sie ihn nie besuchte, und eine Wohnung, von der aus sie niemals anrief. Betty ärgerte ihn mit ihrer stummen Besserwisserei und Fidi mit ihrem andauernden Gebell. Für Hilde sorgte er seit Eriks Tod wie ein Vater, nur damit sie ihn bei jeder Gelegenheit ermahnte, Betty, Püppi und Elena besser zu behandeln. Überhaupt fragte Hilde ständig nach Elena, als wäre die ihre beste Freundin. Sie wusste genau, wie sehr ihn das ärgerte. Auch jetzt sprach sie allein zu Elena, als ginge es nur darum, was diese von ihr dachte, während es keine Rolle spielte, was Gombrowski von der ganzen Geschichte hielt.