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Wobei er, ehrlich gesagt, gar nicht wusste, was er davon halten sollte. Eigentlich glaubte er, seinen alten Widersacher Kron bestens zu kennen. Selten überraschte ihn, was der andere tat. In Bezug auf das verschwundene Krönchen stand er jedoch vor einem Rätsel. Die Kleine bei Hilde zu verstecken, um Gombrowski wie einen Kindesentführer aussehen zu lassen, war ein genialer Schachzug. Es würde Kron helfen, das Dorf gegen Gombrowski zu mobilisieren. Aber ihm wollte partout nicht einfallen, wie Kron das gemacht hatte.

Er wusste aus eigener Erfahrung, dass die Behauptung, Kinder besäßen einen festen Schlaf, völlig aus der Luft gegriffen war. Er konnte nicht zählen, in wie vielen Nächten er die kleine Püppi auf dem Schlepper rund um die Gute Hoffnung gefahren hatte, bis er sie endlich ins Bett tragen konnte. Dass ein lebhaftes Kind wie Krönchen einfach so in Hildes Haus eingeschlafen sein sollte, hielt er für ausgemachten Unsinn. Konnte es sein, dass Kron ihr ein Schlafmittel gegeben hatte? Aber wie konnte er sicher sein, dass sie dann tatsächlich zu Hilde lief?

Unterleuten war ein Instrument, auf dem ein Virtuose jede beliebige Melodie erzeugen konnte. Gleichgültig, was in Krons Partitur gestanden hatte, die Improvisation hatte wunderbar funktioniert. Niemand würde glauben, dass Gombrowski nichts mit der Angelegenheit zu tun hatte. Das Dorf würde davon ausgehen, dass Gombrowski das kleine Mädchen benutzt hatte, um Krons Widerstand gegen das Windkraftprojekt zu brechen. Die Wahrheit war nicht, was sich wirklich ereignet hatte, sondern was die Leute einander erzählten. In einem ruhigeren Augenblick wäre Gombrowski vielleicht sogar in der Lage gewesen, Krons Strategie Respekt zu zollen.

Jetzt aber splitterte die Terrassentür.

Als Erstes dachte Gombrowski, dass sich Fidi an den Glasscherben verletzen könnte. Als Zweites fiel ihm ein, dass er Hilde auf keinen Fall allein im Flur stehen lassen durfte. Als Drittes wollte er Elena, die in der Küche wie am Spieß schrie, mit einem der herumrollenden Äpfel das Maul stopfen.

Als wieder etwas von außen gegen die Hauswand krachte, wechselte Gombrowskis Wahrnehmung die Spur. Elenas Schreien, Hildes Wimmern und Fidis Bellen traten in den Hintergrund, dafür wurde die Sicht extrem klar. Er sah die Beine eines Dreizehnjährigen, lang und dünn, in gestreiften Pyjamahosen. Dazu Jungenhände, die ein Balkongitter umklammerten. Unter sich sah er die wilden Gesichter mehrerer Männer, flackernd erleuchtet von einem Großfeuer. Knüppel und Eisenstangen, die über den Köpfen schwangen. Verzerrte Münder. Berstende Scheiben. Der Geruch seines brennenden Zuhauses. Krons Lachen.

Noch ein Schlag gegen die Hauswand. Schmerzhaft hämmerte ihm das Herz in der Brust, er hatte Angst. Die panische Angst eines Kindes. Er glaubte, die Stimme seiner Mutter zu hören:

»Da sind sie. Jetzt sind sie da.«

Einen schrecklicheren Satz hatte noch kein Mensch gesprochen.

Als Gombrowski zu sich kam, rannte er bereits. Er sprintete über den Flur, riss die Wohnzimmertür auf. Sah Fidi inmitten von Scherben auf und ab springen. Registrierte, dass es sich bei dem Gegenstand, der das Glas durchschlagen hatte, um einen der Keramikfrösche vom Ufer des Gartenteichs handelte, auf dem Parkett in zwei saubere Hälften zerfallen. Gombrowski schrie wie ein Tier, während er die zerbrochene Tür aufriss, mit einem Satz auf die Terrasse und mit dem nächsten über die Brüstung sprang. Obwohl der Boden weich war, fuhr ihm bei der Landung ein stechender Schmerz in die Fersen. Einen Augenblick später glitt Fidi wie ein Schatten durch den Garten, ihre Tatzen schienen kaum das Gras zu berühren. Unter dem Küchenfenster stand ein junger Mann, vermutlich Ingo, den nächsten Keramikfrosch in der Hand. Einen Augenblick sah es aus, als wollte er Fidi den Frosch entgegenschleudern, aber da hatte die Hündin schon abgehoben. Ihr massiger Körper flog durch die Nacht, die ausgestreckten Vorderpfoten trafen die Schultern des Manns, der rücklings zu Boden ging. In Gedanken wünschte Gombrowski ihm viel Glück. Er selbst rannte weiter, so schnell er konnte. Die Nacht roch nach Kron.

Als er das Haus umrundet hatte und den Zaun erreichte, musste er innehalten. Er spürte Herz und Lungen, als wären sie ihm gerade erst in die Brust montiert worden. Er hielt sich am Gartentor fest und sah Gestalten den Beutelweg hinunterrennen. Nur eine floh in die andere Richtung, auf den Wald zu, in komischen Sprüngen, das eine Bein kaum belastend, aber mit erstaunlicher Geschwindigkeit.

Gombrowski trat auf die Straße, schloss das Gartentor hinter sich und wollte gerade die Verfolgung aufnehmen, als ein heftiger Aufprall den Zaun in Schwingung versetzte. Fünf Windrädchen fielen straßenseitig zu Boden. Ein zweites Mal warf sich Fidi gegen die Gitterstäbe, ihr Gebell ein heiseres Japsen. Die hüpfende Gestalt auf der Straße verdoppelte ihr Tempo. Gombrowski überlegte kurz, dann öffnete er dem Hund das Tor.

41 Wachs

»Warte mal«, sagte Linda, »der Empfang ist total schlecht. Ich geh besser vor die Tür.«

Frederik war aufgewühlt, er wollte unbedingt reden. Er hatte schon eine ganze Weile ins Telefon gesprochen, bevor ihn Lindas abgehackte Stimme darüber informierte, dass sie ihn gar nicht verstand. Zwischen den Mauern von Objekt 108 schwankte das Funknetz, es konnte vorkommen, dass man minutenlang erzählte und am Ende des Vortrags keine Antwort erhielt, ohne zu wissen, wie lange man bereits ins Leere gesprochen hatte, was ein ungutes Gefühl erzeugte, in etwa so, als trete man am Ende einer Treppe ins Nichts. Da Frederik nicht zum Monologisieren neigte, wurde normalerweise Linda zum Opfer dieses Phänomens. Sie konnte sich darüber erregen wie über eine Majestätsbeleidigung, und immer klangen ihre Tiraden vorwurfsvoll, als hätte sich Frederik mit Absicht in einem Funkloch versteckt.

In dieser Nacht aber war er es, der unter akutem Rededrang litt und sich abrupt stillgelegt fühlte, während Linda hinter einer knisternden akustischen Mauer ihre Schuhe anzog, Jacke holte, Zigaretten suchte oder was sonst an Verrichtungen notwendig wurde, wenn man sich mitten in der Nacht für ein Telefonat im Garten rüstete. Frederik fragte sich, ob er den roten Faden wiederfinden würde, sobald Linda Empfang hatte. Ob es überhaupt einen roten Faden gab. Das Ereignis, über das er reden wollte, zeigte erhebliche Fähigkeiten im Vernichten von roten Fäden. Nicht nur im Gesprächsverlauf, sondern in Bezug auf seine gesamte bisherige Biographie.

Er hatte den Samstag in der Firma verbracht und immer noch am Rechner gesessen, als gegen 18 Uhr Timo hereinstürmte und ohne ein Wort der Erklärung den Fernseher einschaltete. Kurz darauf stand auch Ronny im Raum, noch blasser als sonst und mit einer Flasche Wodka unter dem Arm. Normalerweise wurde bei Weirdo während der Arbeitszeit nicht getrunken.

Während der folgenden Stunden verfolgten sie parallel die Nachrichten im Fernsehen, in Live-Tickern und auf Twitter, und ihr gemeinsames Vokabular reduzierte sich auf das Wort »scheiße«. Sie sahen die ersten verwackelten Handy-Filme. Die Bilder zeigten eine zusammengedrängte Körpermasse, die im Ausgang eines Tunnels steckte. An manchen Stellen verdichtete sich die Menge zu einem undurchdringlichen Schwarz. Jenseits des Tunnels setzte sich die Masse fort, wurde lockerer, bunter, bestand aus Menschen mit Köpfen und Armen, die sich, wie ein Schwenk über das Veranstaltungsgelände zeigte, in einiger Entfernung wieder bewegten. Auf allen Tonspuren war dieselbe Geräuschkulisse zu hören, ein dumpfes Brummen wie von einem Organismus, der kein Herz, sondern eine Induktionsspule im Leib trug. Darüber unverständlich blecherne Megaphon-Durchsagen und einige plötzlich laut erklingende Satzfragmente, aus nächster Nähe gesprochen, »ich das nicht«, »was wenn jetzt«, »immer noch besser als«, dazu im Hintergrund das Wummern von Techno-Musik. Man sah niemanden sterben. Man sah nur Masse und Verstopfung. Gestorben wurde lautlos, unsichtbar, tief im Inneren. Die vermeldete Opferzahl stieg von fünf auf neunzehn.