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Frederik war 16 Jahre alt gewesen, als er im Sommer 1999 zum ersten Mal zur Loveparade nach Berlin gefahren war. Er mochte Techno und verspürte den unbestimmten Drang, zum ersten Mal im Leben an etwas teilzunehmen, das größer war als der Grundriss seines Elternhauses. Zu seiner eigenen Überraschung trat ihm das unbekannte, von jungen Leuten überflutete Berlin vertraut wie eine Heimat entgegen. In der Masse von Hunderttausenden tanzender Menschen sah er sich selbst, ein Ich, das er lieben konnte, ganz anders als das grässliche Spiegelbild, vor dem er beim Zähneputzen im Bad die Augen senkte.

Frederik hatte Timo und Timo hatte Ronny, und alle gemeinsam hatten sie Computer und das Internet. Keiner von ihnen fühlte sich einsam. Aber dass sie mit ihren nicht vorhandenen Frisuren, modefreien Klamotten und fehlenden Berufswünschen keine pubertierende Zelle, sondern das Herz einer Generation darstellten, wäre ihnen niemals in den Sinn gekommen. Erst auf der Loveparade begriff Frederik, dass sein voll verkabeltes, permanent abgedunkeltes Kinderzimmer nicht am Rand der Gesellschaft, sondern im Zentrum einer Bewegung lag.

Im folgenden Jahr erwirkte er für Timo und Ronny die Erlaubnis, ihn auf die Milleniums-Parade zu begleiten, und von da an fuhren sie, zunehmend nostalgisch, gemeinsam auf alle Folgeveranstaltungen, bis 2004 Traktoria erschien und die Loveparade aufgrund von Streitigkeiten mit der Stadt Berlin eingestellt wurde.

Es war nie darum gegangen, eine gewöhnliche Party zu feiern. Auf der Loveparade traf man sich zum Gottesdienst für einen neuen Zeitgeist. Sie waren Kinder der Neunziger Jahre, der optimistischsten Dekade des gesamten 20. Jahrhunderts. Sozialisiert in einer Zeit, in der Wiedervereinigung und das Ende des Kalten Kriegs plötzlich Hoffnung auf eine bessere globale Ordnung versprachen. Bis heute war Frederik überzeugt, dass Timo und Ronny ohne die Loveparade niemals den Mut gefunden hätten, aus dem Nichts eine Firma zu gründen. Die Loveparade hatte ihnen ein Gefühl für den Wert von Freiheit vermittelt, dazu jene lustvolle Dreistigkeit, die man brauchte, um auf die Zukunft zu vertrauen. Sie hatte bewiesen, dass Spaß und Ernst keinen Widerspruch darstellten, dass Verantwortung nicht aus Zwang, sondern aus Liebe entstand und dass man auch in T-Shirt und Turnschuhen viel Geld verdienen konnte. Vor diesem Hintergrund war Duisburg nicht nur das Grab von mindestens 19 Menschen, sondern das einer Epoche und eines Lebensgefühls.

»So, jetzt stehe ich vor dem Haus. Wenn wir die Stallanlagen fertig haben, kümmern wir uns um einen eigenen Funkmast.« Linda kicherte wie betrunken. »Sag mal was. Moment. Ich gehe noch ein paar Schritte bis zur Straße. Mann, was für ein Sternenhimmel. Da ist die Milchstraße. Die meisten Berliner wissen nicht einmal, dass es eine Milchstraße gibt.«

Wie im Film sah Frederik seine Freundin vor dem nächtlichen Objekt 108 stehen, den Kopf in den Nacken gelegt. Sie schien ihm fern, als lebte sie auf einem fremden Planeten. Fast wunderte es ihn, dass sie überhaupt dieselbe Sprache verwendete wie er. Er gab sich einen Ruck.

»Hast du mitgekriegt, was gerade los ist?«

»Was ich heute alles mitgekriegt habe, das geht auf keine Kuhhaut.«

»Duisburg?«

»Was?«

»Es ist etwas Schreckliches passiert. Hörst du zu?«

»Klar.«

»Auf der Loveparade sind 19 Menschen gestorben. Totgetreten in einer Massenpanik.«

»Hab ich im Radio gehört. Die Sterne hier sind echt krass.«

Für eine Sekunde wusste Frederik nicht weiter. Die Sterne Unterleutens bildeten eine Barriere, an der seine Betroffenheit einfach abprallte.

»Und?«, fragte er.

»Was, und?«

»Die Loveparade! Hallo? Das ist ein verdammtes Drama!«

»Worüber regst du dich auf?«

»Linda! 20 Tote!«

»Ich dachte, 19.«

»Es kommen ständig neue Zahlen.«

»Kennst du eins der Opfer?«

»Natürlich nicht.«

»Kennst du jemanden, der ein Opfer kennt?«

»Nein.«

»Kennst du irgendjemanden, der heute auf der Loveparade war?«

»Keine Ahnung. Wahrscheinlich schon. Weiß nicht.«

»Dann geht dich die Sache auch nichts an. Das ist weit weg passiert. Ohne Fernsehen und Internet hättest du überhaupt nichts davon erfahren.«

»Drehst du jetzt frei?«

»Diese ständige Hysterie wegen Dingen, die wir nicht sehen, hören oder riechen – das geht mir auf den Sack.«

Linda behauptete gern, dass ihr etwas auf Sack, Eier oder Nüsse gehe. Frederik hatte es aufgegeben zu erklären, dass ihr für solche Redewendungen die biologische Ausstattung fehlte.

»Keiner war dabei«, sagte sie, »und trotzdem sind alle entsetzt. Ist doch total abgehoben.«

Ihre Stimme klang nicht, als wollte sie ihn auf den Arm nehmen. Frederik spürte einen leichten Schmerz zwischen den Rippen, eine Art Seitenstechen, das sich immer einstellte, wenn Streit mit Linda in der Luft lag. Binnen kürzester Zeit konnte das Stechen so heftig werden, dass er nachgab und der Auseinandersetzung aus dem Weg ging.

»Was ist los mit dir?«, fragte Frederik. »Hast du beschlossen, ins Mittelalter zurückzukehren?«

»Krönchen wurde entführt.«

»Wie bitte?«

»Gegen neun stand plötzlich Kathrin vor der Tür.«

»Wer ist Kathrin?«

»Wer ist Kathrin?«, äffte Linda ihn nach. »Das ist die Tochter von Kron, du Torfnase.«

Gegen seinen Willen wurde Frederik von der Frage in Anspruch genommen, ob Kron der dicke Landwirt mit dem Hundegesicht oder der Spinner war, der nach der Dorfversammlung Konrad Meiler in die Mangel genommen hatte. Schon in Unterleuten fiel es ihm schwer, sich auf das Personal von Unterleuten zu konzentrieren. Wenn er sich in Berlin aufhielt, verwandelte sich das Dorf in einen Dostojewski-Roman, bei dem jede Figur von der Frage begleitet wurde: Wer war das denn noch mal?

Linda redete, er schwieg. Das hatte er sich anders vorgestellt, als er bei ihr anrief. Die Loveparade, sein Entsetzen, der Wunsch, sich gemeinsam über die grausamen Wege des Schicksals zu empören – alles versank im Märkischen Sand. Auch das Seitenstechen ließ nach. Frederik tat, was er am besten konnte: Er hörte zu. Gegen neun also hatte Kathrin an der Tür von Objekt 108 geklingelt, um mitzuteilen, dass ihre kleine Tochter verschwunden sei. Ob Linda etwas gesehen oder gehört habe. Ob sie irgendetwas wisse.

»Wusste ich nicht«, sagte Linda. »Aber jetzt kommt der Hammer. Kathrin Kron wollte mich bei der Suchaktion nicht dabeihaben. Sie meinte, dass es wegen meiner Beziehungen zu Gombrowski besser sei, wenn ich ihrem Vater nicht unter die Augen trete.«

Den Grund für den triumphalen Tonfall begriff Frederik erst nach einigen Sekunden. Linda war tatsächlich stolz darauf, von der Suche nach dem kleinen Mädchen ausgeschlossen worden zu sein. Ihr politikbesoffenes Gehirn wertete die Ablehnung als Beweis dafür, wie tief sie bereits in die Unterleutner Verstrickungen eingedrungen war. Vermutlich gab es irgendeinen Satz von Manfred Gortz zum Thema »Feinde und Erfolg«.

»Sie haben mit zwanzig Mann im Dunkeln den Wald durchkämmt. Natürlich ohne Erfolg. Als Kathrin kurz vor einem Nervenzusammenbruch stand, ist Krönchen wieder aufgetaucht. Gombrowski hatte sie. Genauer gesagt, Hilde. Was nach Meinung der meisten dasselbe ist.«

»Wer ist Hilde?«

»Hilde Kessler, die beste Freundin von Gombrowski. Ich sag dir, da läuft eine heftige Geschichte. Das hat alles mit der Windkraft-Sache zu tun. Auch wenn Jule meint, dass Gombrowski ganz sicher unschuldig ist.«

»Die Frau vom Vogelschützer?«

»Wer denn sonst. Sie hat mich vor einer halben Stunde angerufen. Wollte wissen, was ich denke, verstehst du?«