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Wieder der triumphale Ton. Jetzt rief das Dorf schon bei Linda Franzen an, mitten in der Nacht.

»Die ist irgendwie verknallt in mich.« Linda lachte. »Könnte nicht besser laufen. Auch wenn diese Jule eine Macke hat. Erzählt mir, sie hätte Gombrowskis Seele gesehen.«

»Was machst du da eigentlich?«, fragte Frederik.

Er konnte nicht verhindern, dass die Frage vorwurfsvoll klang. Linda zog es vor, nicht zu verstehen.

»Ich guck in die Sterne. Toller Himmel.«

»Das meine ich nicht. Dieser ganze Kron-Gombrowski-Meiler-Scheiß. Das hat doch mit Koppelzäunen und Scheune-Sanieren nichts mehr zu tun.«

Linda brauchte eine Weile, um sich eine Antwort zurechtzulegen. Oder vielleicht zählte sie die Sekunden einer Kunstpause, die Gortz für ein Gespräch wie dieses empfahl. Frederik hörte das Rauschen eines vorbeifahrenden Autos, vereinzelte Vogelstimmen und das Bellen eines Hunds. Der nächtliche Soundtrack von Unterleuten. Linda zog hörbar an ihrer Zigarette, atmete langsam aus und räusperte sich, um anzuzeigen, dass jetzt etwas Wichtiges kam.

»Typen wie Kron und Gombrowski werden hier nicht ewig am Drücker sein«, sagte sie. »Die werden bald Platz machen für eine neue Generation.«

Das Wort »Generation« ließ die Bilder aus Duisburg wieder aufsteigen. Frederik sah bunt gekleidete Menschen, die hinter langsam fahrenden Floats tanzten, und er sah die verdichtete Masse in der Unterführung, die sich selbst erdrückte. Zum ersten Mal, seit er Linda kannte, erblickte er in ihr die Vertreterin einer anderen Spezies. Linda war nur zwei Jahre jünger und trotzdem niemals auf einer Loveparade gewesen. Sie gehörte keiner Bewegung an und empfand auch kein Bedürfnis danach. Sie interessierte sich nicht für Spaß und glaubte nicht daran, dass Erfolg etwas war, das sich von selbst einstellte, wenn man nur entspannt blieb. Alles in Linda strebte, ganz egal, ob das Ziel nun Bergamotte, Objekt 108 oder Unterleuten hieß. Beängstigend war, dass es ihr letztlich gar nicht um eine bestimmte Sache ging. Sondern um die absurde Vorstellung, das eigene Schicksal kontrollieren zu können. Man musste nur immerzu alles richtig machen, Strategien entwickeln, keine Fehler begehen. An sich selbst arbeiten und überhaupt alles optimieren, was bei drei nicht auf den Bäumen war. Einer Frau wie Linda kam es darauf an, sich an die Spitze von Was-auch-immer zu setzen. Jetzt stand ihm die Wahrheit so klar vor Augen, dass er sich wunderte, nicht selbst darauf gekommen zu sein: Sie wollte aus dem Windmühlenstreit als der neue Gombrowski von Unterleuten hervorgehen. Linda war das Gegenteil der Loveparade, und die Loveparade war tot.

»Man muss sich rechtzeitig in Stellung bringen«, sagte Linda. »Moment mal. Hörst du den Hund bellen?«

In Unterleuten bellten ständig Hunde.

»Das klingt aggressiver als sonst.« Mit einem Mal war sie aufgeregt. »Da vorne ist irgendetwas los.«

Frederik hörte, wie sie sich in Bewegung setzte und gleich darauf zu laufen begann.

»Wo rennst du hin?«

»Stichweg Richtung Beutelweg.« Sie sprach stoßweise. »Ich sehe den Hund. Und zwei Männer. Die prügeln sich.«

»Bleib sofort stehen!«, rief Frederik. »Linda? Nicht auflegen!«

Drei Mal wählte er ihre Nummer. Sie hatte das Handy ausgeschaltet. Oder fallen lassen und kaputt getreten.

Da waren sie wieder. Dinge, die passierten, ohne dass Frederik sie hören, sehen oder riechen konnte, und die ihn nach Lindas Meinung deshalb nichts angingen.

Perplex saß er in seinem Büro. An der Wand lief der Fernseher ohne Ton. Die Stille wurde vom Sirren des Rechners verstärkt. Kurz nach Mitternacht waren Timo und Ronny nach Hause gegangen und hatten die Hauptbeleuchtung ausgeschaltet. Nur die Schreibtischlampe brannte noch. In dem kleinen Lichtkegel fühlte sich Frederik wie in einem Zelt, das ihn von der Außenwelt abschnitt. Kein Hundegebell, keine Milchstraße. Namen von Menschen, die er anrufen wollte, schwirrten ihm durch den Kopf, Kron, Fließ, Kathrin, Gombrowski – irgendjemand musste sofort zum Beutelweg laufen, wo ein Hund bellte und Männer aufeinander einprügelten und Frederiks verrückte Freundin glaubte, dass es eine gute Idee sei, nach dem Rechten zu sehen.

Die Uhr zeigte halb zwei am Morgen, und Frederik kannte keine einzige Telefonnummer.

42 Franzen

Im Licht der Straßenlaterne erinnerte der große Hund an ein Zeichentrick-Tier, das laut bellend, aber eher verspielt als wütend um etwas herumtanzt. Linda war noch über hundert Meter entfernt, als sie Gombrowskis Mastiff erkannte. Offensichtlich ging die Aggression nicht von der Hündin aus.

Sie blieb stehen. Regel Nummer eins: auf Probleme nicht zurennen. Ruhe bewahren, sich ein Bild von der Lage machen. Ihr Telefon klingelte, wieder Frederik, sie schaltete das Gerät aus.

Weder der Hund noch die beiden Männer hatten sie bislang bemerkt. Was die Kräfteverteilung betraf, glich die Auseinandersetzung unter der Laterne einem Zusammenstoß zwischen Mücke und Elefant. Im orangefarbenen Lichtkegel stand Gombrowski, hielt Kron an der Jacke gepackt und rammte ihn rücklings gegen den Laternenpfahl, ein Mal, zwei Mal, immer wieder. Selbst Fidis Kläffen war nicht in der Lage, das Dröhnen des stählernen Mastes zu übertönen. Dem Lärm zum Trotz wirkte die Szene ruhig, beinahe routiniert. Als wären die beiden Männer nicht mit Kampf, sondern mit einer alltäglichen Verrichtung beschäftigt.

Als Kron zu Boden ging, riss Gombrowski ihn wieder auf die Beine, um ein weiteres Mal zustoßen zu können. Krons Kopf pendelte hin und her wie bei einer kaputten Puppe. Gombrowskis nächster Versuch, seinen Gegner aufzurichten, scheiterte. Kron sackte zusammen und blieb auf der Seite liegen, die Beine angewinkelt, das Gesicht zur Erde gedreht. Die Hündin senkte das Hinterteil auf die Straße, wedelte mit dem Schwanz und sah abwechselnd Kron und Gombrowski an, als wartete sie darauf, wer das Spiel fortsetzen würde.

Gombrowski berührte Kron mit der Fußspitze an der Schulter und schien zu überlegen. Sein Blick fiel auf Krons Gehstock, der am Straßenrand lag. Er hob ihn auf, wobei er den Hund ignorierte, der sich zum Apportieren bereit machte.

Von Lindas Ankunft bis zu diesem Augenblick war höchstens eine halbe Minute vergangen. Den Drang, einfach wegzulaufen und so zu tun, als hätte sie diese Szene niemals gesehen, hatte sie erfolgreich niedergekämpft. Jetzt brauchte sie eine Strategie. Einem Mann wie Gombrowski trat man nicht einfach so in den Weg.

Die Kunst im Umgang mit Pferden bestand darin, einem Stärkeren weiszumachen, dass er der Schwächere sei. Dominanz behaupten, fehlende Körperkraft durch Beharrlichkeit ersetzen. Wenn das nicht ausreichte, galt es, in kritischen Augenblicken etwas Überraschendes zu tun, um das Gegenüber zu zwingen, sich auf unerwartete Bedingungen einzustellen. Das war das Prinzip des unbewegten Bewegers: Wer eine Situation inszenierte, war ihr Herr.

Gombrowski fixierte Krons Bein und hob den Gehstock wie ein Golfspieler den Schläger.

Linda dachte kurz an die Loveparade und daran, wie rührend Frederik am Telefon gewesen war. Wie er in seinem klimatisierten Berliner Büro saß, mit weichen Händen Internet und Fernseher bediente und in helle Aufregung geriet wegen der Bilder, die er dort fand. Er kam ihr vor wie ein Kind, das im Kino vom Sessel sprang und den Helden mit lauter Stimme warnte, bloß nicht ins Geisterhaus zu gehen. Im Grunde liebte sie ihn dafür. Sie nahm sich vor, ihn später noch einmal anzurufen und ausgiebig die Katastrophe von Duisburg mit ihm zu diskutieren. Sie würden zwei Flaschen Wein leeren, während draußen die Sonne aufging. Sie zog sich ein paar Schritte in den Schatten eines Fliederbuschs zurück und warf sich mit Schwung auf den Boden.

»Mein Bein!«, rief sie und ließ einen Schmerzenslaut folgen.

Als sie aufsah, erblickte sie über sich das von der Schwerkraft verformte Gesicht des Mastiffs, die Ohren nach vorn geklappt, die Augen fast unter herabhängenden Hautfalten verborgen. Ein Speichelfaden hing an der linken Lefze.

»Nehmen Sie doch den Hund weg«, rief Linda. »Ich kann nicht aufstehen!« Mit einigen deftigen Schimpfwörtern bestimmte sie den Grad ihrer Schmerzen: unerträglich.