»Sie sollen ihn nicht mehr anrufen. Nie wieder.«
Für eine Weile herrschte Schweigen. Kein wütendes Schweigen, sondern ein betroffenes.
»Sind Sie noch dran?«, fragte Miriam.
»Weißt du eigentlich, wer all die Jahre für euch gesorgt hat?«, fragte Gombrowski. Das Sprechen schien ihm Mühe zu bereiten. »Dein Vater hatte immer Arbeit, auch nach der Wende. Und als Susanna ihren Job verlieren sollte, wer hat da im Schulamt angerufen und die Angelegenheit aus der Welt geschafft? Weißt du das überhaupt?«
»Ich weiß, dass damit jetzt Schluss ist«, sagte Miriam tapfer.
»Ein Scheißladen ist das hier!« Gombrowski schrie so laut, dass Miriam das Handy von sich streckte. »Habt ihr alle den Verstand verloren? Mir reicht’s!«
Gleich darauf wurde es wieder still, vielleicht hatte Gombrowski das Telefon weggelegt, um sich das Gesicht zu reiben. Sekunden später schnaufte es wieder in der Leitung.
»In Ordnung«, sagte er ruhiger. »Das soll nicht deine Sorge sein, Miriam. Richte deinem Vater einen Gruß aus und sag ihm, dass er nie wieder von Rudolf Gombrowski hört.«
Die Verbindung war unterbrochen. Eine Weile schwiegen sie und sahen gemeinsam der Flugakrobatik der Mauersegler zu, die in zwei Stunden von Fledermäusen abgelöst werden würden. Miriam wirkte unzufrieden, als wäre das Telefonat anders gelaufen als erwartet.
»Wie geht’s dem MG?«, fragte Schaller nach einer Weile.
Miriam überlegte.
»Ich glaube, da klappert ein Radlager.«
»Fahr die Karre rein.«
Miriam flitzte vom Hof; draußen sprang der Motor an, acht Kolben in V-Stellung, Balsam auf Schallers Nerven. Als er ihr das Tor aufhielt, lächelte sie. Da war es wieder, sein kleines Mädchen, das gerade über den Rand der Motorhaube gucken konnte und genau wusste, was er meinte, wenn er um die Ölfilter-Spinne bat. So groß war sie geworden. So klug konnte sie reden. Schaller ließ den Caddy herunter, um Platz auf der Hebebühne zu schaffen.
44 Seidel
Arne kam es vor, als wäre das Dorf versehentlich in eine Zeitmaschine geraten. Das Fieber war nach Unterleuten zurückgekehrt, als hätten die zwei vergangenen Jahrzehnte überhaupt keine Rolle gespielt. Es zeigte sich im Schweigen des Bürgermeistertelefons, das sonst den lieben langen Tag klingelte, genauso wie im Zu-Boden-Starren von Menschen, die auf der Straße das Grüßen vermeiden wollten. Am deutlichsten aber ließ es sich im Märkischen Landmann messen, wo montagabends normalerweise reger Betrieb herrschte, während heute nur ein paar Fahrradtouristen in der Nische am Fenster ihre Schnitzel mit Pommes und Salat vertilgten. Zwei Trinker aus Groß Väter belagerten die Bar und blickten verstohlen zum Skattisch herüber, an dem Arne mit Steffen und Gombrowski Karten spielte. Alle anderen Tische standen verwaist in der ungewohnt sauberen Luft. Keinen Augenblick zweifelte Arne daran, dass die gespenstische Ruhe auf die Anwesenheit von Gombrowski zurückzuführen war. Jedermann wusste, dass montags Skatabend war. Das Dorf verhielt sich wie ein Kind, das von Hautausschlag befallen war. Die Klatschsucht war ein Juckreiz, und das Dorf kratzte sich.
Während Arnes Finger wie von selbst den Kartenstapel teilten, die beiden Hälften mit den Daumen aufbogen und ineinanderlaufen ließen, musste er wider Willen an die Zeit nach dem Mauerfall denken, als Unterleuten an derselben Krankheit gelitten hatte. Siebzig Kilometer weiter hatte sich Berlin im Freudentaumel befunden, während in Unterleuten ein fiebriger Schockzustand herrschte, der das Blut erhitzte und die Gehirne benebelte. Von denen, die fortgingen, hieß es bald, sie hätten für die Stasi gearbeitet, und mit einem Mal wohnten selbsternannte Opfer in den verlassenen Häusern. Wer sich enteignet fühlte, nahm sich etwas anderes zur Entschädigung und erzählte über jenen, dem es gehörte, die schlimmsten Geschichten. Grundsätzlich waren die eigenen Kinder nicht aus Dummheit, sondern aus politischen Gründen durchs Abitur gefallen. Berufliches Scheitern taugte plötzlich als Beweis für geleisteten Widerstand gegen das Unrechtssystem, so dass die größten Versager mit geschwellter Brust umherspazierten und den Erfolgreichen vorwarfen, sie hätten auf den Schößen der Bonzen gesessen. Brüder entpuppten sich als Neider, Freunde als Verräter und Ehefrauen als Stasi-Spitzel. Als es darum ging, die LPG vor der Auflösung zu bewahren, waren jedes zerbrochene Fenster, jedes tote Huhn und jeder liegen gebliebene Trabi das Werk von Rudolf Gombrowski gewesen.
Arne wollte gar nicht wissen, was damals wirklich alles passiert war. Er hielt nichts davon, den Dorforganismus mit der toxischen Frage nach Schuld oder Unschuld zu vergiften. Lieber wollte er die Gegenwart als ein Material behandeln, aus dem sich etwas Schönes formen ließ. Seiner Erfahrung nach wurden die schlimmsten Übel auf der Welt nicht durch böse Menschen bewirkt. Von denen gab es in Wahrheit erstaunlich wenige. Viel gefährlicher waren Leute, die sich im Recht glaubten. Sie waren ungeheuer zahlreich, und sie kannten keine Gnade.
»18«, sagte Steffen.
Gombrowski reagierte nicht, was bedeutete, dass er mitging.
»20.«
Arnes Finger hatten nicht nur das Mischen und Austeilen, sondern auch das Sortieren seines Blatts selbstständig übernommen. Ein flüchtiger Blick reichte, um zu entscheiden, dass er ausreizen würde. Die beiden Alten, Pik As und vier Herzen mit Zehn reichten für ein Farbspiel, je nach Skat für einen Grand.
»22«, sagte Steffen zu Gombrowski. »Null. 24.«
Das klang nicht gut. Offensichtlich reizte Steffen ohne Zwei und hatte bei so viel Selbstbewusstsein vermutlich auch den Karo-Buben auf der Hand.
»27.«
Gombrowski trank sein Bier aus. Er wirkte abwesend. Seit der nächtlichen Schlägerei mit Kron hatte Arne immer wieder versucht, ihn zu erreichen. Im Beutelweg war niemand ans Telefon gegangen, und in der Ökologica hatte Betty behauptet, ihr Chef sei nicht zur Arbeit gekommen, was Arne für eine Lüge hielt. Eigentlich hatte er fest damit gerechnet, dass Gombrowski auch zum Skatabend nicht erscheinen würde. Steffen und Arne hatten ihre Schnitzel schon aufgegessen, als die Tür an die Wand knallte und der fette alte Hund doch noch den Raum betrat. Er hatte die Fingerknöchel zur allgemeinen Begrüßung auf den Tresen krachen lassen und sich auf seinen Stuhl geworfen, schweigsam, ernst, aber von gesunder Gesichtsfarbe.
»30«, sagte Steffen.
Das war Arnes Limit. Gombrowski tat weiterhin so, als würde er sich für Steffens ehrgeiziges Reizen nicht interessieren. Er wandte sich auf dem Stuhl um und hob einen Finger, woraufhin Sabine ein Glas unter die Zapfanlage schob.
»33. 36. Weg.«
Für Steffen war es also um Kreuz gegangen, mit dem Dritten. Das konnte alles Mögliche bedeuten. Wenn Gombrowski ohne drei auf Pik oder Karo reizte, saßen die Buben verteilt. Aber Gombrowski war ein harter Spieler, der kein Risiko scheute. Ihm war durchaus zuzutrauen, dass er ohne Buben mit einer starken Farbe spielen wollte. Dann hatte Arne entweder zwei Buben auf Steffens Hand gegen sich oder einer lag im Skat. Arne überlegte, ob er einen Grand riskieren sollte, und entschied sich dagegen.
»Passe.«
Gombrowski ließ den Skat liegen, warf seine Karten offen auf den Tisch und ging aufs Klo. Null Ouvert Hand.
»Der Schweinehund«, stöhnte Steffen, während er Gombrowski 59 Punkte gutschrieb.
»Pures Glück«, sagte Arne.
»Sag ich doch. Hat Schwein, der Hund.«
Steffen grinste. Flüchtig überlegte Arne, ob Steffen und Gombrowski sich eigentlich mochten. Steffen besaß eine Baufirma, und Gombrowski leitete einen landwirtschaftlichen Betrieb, in dem ständig etwas saniert werden musste. Das war Grund genug, seit zwanzig Jahren Skat miteinander zu spielen. Nichts sprach dagegen, dass eine solche Geschäftsbeziehung von Sympathie begleitet wurde; eigentlich sprach aber genauso wenig dafür. Wenn Arne es sich recht überlegte, war er nicht einmal sicher, ob er selbst Gombrowski leiden konnte. Die Frage hatte nie eine Rolle gespielt. Gombrowski erwartete, dass Arne in seinem Sinn handelte und umgekehrt. Diese ungeschriebene Vereinbarung hieß weder Freundschaft noch Kameradschaft. Es war einfach so, dass ihr Umgang miteinander keinen Namen brauchte. In einer sentimentalen Anwandlung fragte sich Arne, ob es überhaupt jemanden gab, der Gombrowski freundschaftliche Gefühle entgegenbrachte. Aber dann fiel ihm auf, dass auch er selbst von niemandem solche Gefühle empfing, dass er nicht einmal mehr wusste, wie es sich anfühlte, gemocht zu werden. Selbst Kathrin, an die er so oft dachte, wünschte ihn vermutlich zum Teufel oder jedenfalls ans andere Ende des Landkreises.