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Vielleicht, dachte Arne, wurden Gefühle einfach nicht so alt wie Menschen. Ab einem gewissen Alter lebten Ehepartner wie Mitbewohner in einer WG, falls sie nicht längst geschieden waren. Kinder und Eltern hörten auf, einander zu mögen, besuchten sich trotzdem und waren froh, wenn der andere wieder verschwand. Freunde verloren sich aus den Augen, Nachbarn verwandelten sich in Feinde. Liebschaften wurden lästig, alte Schulkameraden peinlich, und selbst ein Haustier fing irgendwann an zu nerven. Jenseits von jugendlichen Leidenschaften begegnete man der Welt am besten mit gut gekühltem Pragmatismus. Arne beschloss, dass das normal war, es wurde nur selten darüber gesprochen. Kein Grund zur Sentimentalität.

Sabine kam an den Tisch und knallte ein Bier so heftig vor Gombrowskis leerem Stuhl auf den Tisch, dass das Glas überschwappte. Steffen schaffte es gerade noch, die Karten in Sicherheit zu bringen.

»Diesmal kommt ihr damit nicht durch.« Sie sah Arne an. Steffen warf ihm einen schnellen Blick zu und rutschte ein Stück zur Seite, als wollte er signalisieren, dass ihn die Sache nichts anging.

»Was meinst du?«, fragte Arne.

»Kinder entführen wegen ein paar läppischen Windrädern. Das geht zu weit.«

»Wer hat ein Kind entführt?«

Gombrowski kam zurück, setzte sich auf seinen Platz und begann, die Karten zu mischen.

»Die Kleine hat bei Hilde die Zeit vergessen und ist eingeschlafen«, sagte Arne ruhig. »Gombrowski hat nichts damit zu tun.«

Sabine blickte weiter Arne an, als wäre Gombrowski aus Luft.

»Und Verena, Ingo, Patrick und Angela? Die haben sich wohl selbst gekündigt?«

»Die vier sind nicht mehr zur Arbeit erschienen«, sagte Arne. »Was würdest du machen, wenn Silke einfach nicht mehr kommt?«

»Fragen, was los ist.«

»Jeder weiß, was los ist, verdammt noch mal. Die spielen Streik, kurz vor der Erntezeit. Weil ihnen jemand eingeredet hat, die Ökologica solle geschlossen werden.«

Arne fiel ein, dass Sabine mit Angela verschwägert und außerdem die beste Freundin von Patricks Patentante war, während Silke enge Beziehungen mit einer Cousine von Verena sowie mit Ingos älterer Schwester pflegte. Er winkte ab.

»Geh an die Bar und lass uns spielen.«

Sabine rührte sich nicht von der Stelle, im Gegenteil stützte sie, um ihre Präsenz zu verdoppeln, beide Hände auf den Tisch.

»Ich sag’s euch im Guten. Den Reibach mit den Propellern zieht ihr nicht durch.«

Am Nachmittag hatte Pilz angerufen, sich nach dem Stand der Dinge erkundigt und dabei regelrecht euphorisch geklungen. Ranhalten solle man sich, die Zeichen stünden günstig wie nie. Pakistan unter Wasser, Russland abgebrannt, der Innenminister in den Brandenburger Hochwassergebieten unterwegs. Auf allen Kanälen analysierten Klimaforscher den Katastrophensommer. Potsdam und Berlin müssten positive Projekte vorweisen, als Signale an die Öffentlichkeit. Das Genehmigungsverfahren lasse sich durchziehen wie nichts. Ob man sich schon für eins der Eignungsgebiete entschieden habe.

Im Prinzip ja, hatte Arne geantwortet. Es seien nur noch ein paar Details zu klären.

»Das ganze Dorf steht gegen euch auf«, sagte Sabine.

Sie klang jetzt wirklich wütend. Arne nahm seine Karten auf. Hauptsächlich Luschen, Karo-Bube, eine blanke Zehn.

»Weg«, sagte er.

»18«, sagte Gombrowski.

»Okay«, sagte Steffen.

»Der Windkraft-Protest ist völlig übertrieben«, sagte Arne. »Angesichts der Klimakatastrophe …«

»Stell dich nicht blöd, Bürgermeister.« Sabine hieb die flache Hand auf den Tisch. »Die Leute protestieren nicht gegen die Propeller, sondern gegen ihn.« Sie zeigte auf Gombrowski, der weiterhin in seine Karten starrte, als wäre er nicht in der Lage, irgendetwas anderes wahrzunehmen. »Geht das in eure Betonköpfe rein?«

»Weißt du was? Ich hab keinen Bock mehr auf diese Leier!« Überrascht stellte Arne fest, dass er laut geworden war. Wutausbrüche in der Öffentlichkeit gehörten normalerweise nicht zu seinem Repertoire. Für einen Augenblick sah Sabine erschrocken aus. »Gombrowski hier, Gombrowski da! Die Hälfte deiner Kunden bezahlt ihr Bier mit Geld, das bei Gombrowski verdient wurde! Ohne Gombrowski gäbe es deine Kneipe schon lange nicht mehr!«

Arne wusste, dass seine Wut nichts mit Sabine zu tun hatte. Im Grunde war es Gombrowski, den er anschreien wollte. Gombrowski, der sicher nichts mit Krönchens Entführung zu tun hatte, aber dennoch kein Recht besaß, ruhig dazusitzen, sein Blatt zu mustern und zu Steffen »20« zu sagen. Vielleicht wollte Arne sich auch selbst anschreien, weil es ihm nicht gelungen war, das Fieber zu verhindern. Oder er wollte mit dem ganzen Dorf schimpfen, weil es sich der Klatschsucht überließ. Das alles war sinnlos und die ganze Situation so falsch, dass ihm die Lust am Lautwerden gleich wieder verging.

»Die Gemeinde ist pleite«, sagte er in halbwegs normalem Tonfall. »Wir wollen alle das Beste für Unterleuten. Jeder auf seine Weise.«

Sabine warf ihm einen verächtlichen Blick zu und schüttelte den Kopf.

»Hey!« Jetzt blickte sie Gombrowski an. »Niemand in Unterleuten wird auch nur einen Quadratmeter an dich verkaufen.« Weil Gombrowski nicht reagierte, stieß sie ihn gegen den Oberarm. »Du kriegst das Scheißland für deine Propeller nicht, kapiert?«

»22«, sagte Gombrowski.

»Jepp«, sagte Steffen.

»Und weißt du auch, warum?« Sabine hatte sich so weit vorgebeugt, dass sie Gombrowski direkt ins Gesicht sprechen konnte. »Weil es Gerechtigkeit gibt in der Welt. Leute wie du, die nicht an Gerechtigkeit glauben, verlieren am Ende immer.«

»Null«, sagte Gombrowski.

»Das reicht jetzt.« Sie riss ihm die Karten aus der Hand und warf sie auf den Boden.

»Hast du getrunken?«, rief Arne.

»Die Rechnung geht aufs Haus. Schönen Abend, die Herren.«

Die Säufer an der Bar hatten über dem Zuhören vergessen, ihre Schnäpse zu leeren. Die Touristenfamilie saß vor halb vollen Tellern und blickte staunend herüber. Als Gombrowski und Steffen ihre Stühle zurückschoben, stand auch Arne auf. Im Gänsemarsch bewegten sie sich durch den Gastraum zur Tür.

Draußen war es noch hell, ein ungewohnter Anblick beim Verlassen des Landmanns. Einen Moment blieben sie vor dem Eingang stehen, verwirrt wie vom Jetlag, und blinzelten in den dunkelblauen Himmel, an dem Schwalben ihre eckigen Choreographien flogen. Die Luft lastete warm zwischen den Häusern wie eine zähe Masse. Klatschend erschlug Gombrowski eine Mücke in seinem Nacken.

»Okay«, sagte Steffen, fügte etwas Undeutliches von viel Arbeit und frühem Aufstehen hinzu und entfernte sich Richtung Neubausiedlung.

»Ich hatte eh ein Scheißblatt«, sagte Arne.

Gombrowski schob die Hände in die Hosentaschen und kickte einen Kieselstein auf die Straße.

»Die Leute spielen verrückt«, sagte Arne. »Das muss jetzt schnell gehen. Bis wann kannst du den Vertrag mit Linda Franzen machen?«

Gombrowski kniff die Augen zusammen und blickte nach Westen, um an der Farbe des Himmels die Regenwahrscheinlichkeit abzulesen.

»Ich wollte dich da drinnen übrigens nicht verteidigen«, sagte Arne. »Ich unterstütze die Windkraftpläne nicht deinetwegen. Sondern weil sie das Richtige für Unterleuten sind.«