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Gombrowski tippte sich an eine imaginäre Mütze und ging den Beutelweg hinunter. Nicht auf dem Bürgersteig, sondern mitten auf der Fahrbahn.

45 Kron-Hübschke

Normalerweise machte ihr die Arbeit mit den Toten nichts aus. Längst war sie an den süßlichen Geruch nach Fäulnis und Formalin gewöhnt, der sich trotz Kittel und Haube überall festsetzte, in den Haaren, unter den Fingernägeln und vor allem in der Nase, so dass nach einer Obduktion selbst der Sommerwind nach Leichen roch. Wenn sie mit der elektrischen Säge eine Schädeldecke öffnete, um das Gehirn zu entnehmen, war sie nichts weiter als eine Fragende, die Antworten suchte. Daran war nichts Bizarres; Kathrin lebte mit Toten wie ein Ornithologe mit Vögeln. Sie hatte Medizinstudenten gesehen, die beim Geräusch der Knochensäge ohnmächtig auf die Kacheln schlugen. Derartige Reaktionen fand sie wesentlich seltsamer als den eigenen Gleichmut. Wenn etwas bizarr war, dann wohl eher die Weigerung, die Sterblichkeit zur Kenntnis zu nehmen. Schließlich war allseits bekannt, dass Mensch-Sein stank und suppte.

Kamen ihr dennoch Zweifel, genügte ein kurzer Blick auf die Zustände außerhalb der Pathologie, um sich wieder zufrieden zu fühlen. Auf den anderen Stationen schoben die Schwestern Doppel- und Dreifachschichten, taumelten wie betäubt vor Müdigkeit durch die Korridore. Wenn nachts einmal keine Beatmungsfälle vorlagen und das ständige Rufen der Patienten nach Schlaf- oder Schmerzmitteln, offenen oder geschlossenen Fenstern, Wassergläsern und trockenen Betttüchern endlich zum Erliegen kam, legten sich die Mädchen entgegen den Vorschriften quer über ein paar Stühle, um für ein oder zwei Stunden zu schlafen. In der Cafeteria erzählten die Kollegen von den phobischen Beziehungen, die sie zu ihren Pagern entwickelten. Kathrin hörte zu und ließ unerwähnt, dass sie üblicherweise gegen 18 Uhr zu Hause war. Den Hauptteil der Arbeitszeit verbrachte sie ungestört mit dem Auge am Okular eines Mikroskops. Im Großen und Ganzen mochte sie ihren Job.

Bis heute Morgen ein Kind in den Obduktionssaal geschoben worden war, ein siebenjähriges Mädchen, Lungenentzündung nach Meinung der Pädiatrie. Das Mädchen war nicht das erste Kind auf ihrem Tisch, und Tage, an denen ein Kind starb, waren immer dunkel. Aber als sie heute den grünen Stoff von dem viel zu kleinen Körper gezogen hatte, verlor sie die Kontrolle. Zuerst zitterten ihre Hände, dann die Arme und schließlich der ganze Oberkörper. Der Pfleger, der die Bahre gebracht hatte, eilte zu ihr, um einen Sturz zu verhindern.

»Was haben Sie denn«, fragte er, »ist Ihnen nicht gut?«

Aber da schrie Kathrin bereits. »Raus hier«, schrie sie, »raus mit dem Mädchen!«, und weil der verwirrte Pfleger nicht gleich gehorchte, steigerte sie die Lautstärke, bis ihr die Ohren klangen und der Pfleger endlich die Fußbremse löste, die Stahlrohre umklammerte und im Laufschritt den Saal verließ.

Kathrin hatte sich auf einen Hocker gesetzt und geweint. Das Telefon klingelte und der Chefarzt wollte wissen, was in sie gefahren sei. Sie wollte ihm erzählen, was am Wochenende mit Krönchen passiert war, und brachte kein Wort heraus. Schließlich bat sie, jemand anderen für die Öffnung des Mädchens einzuteilen. Es gebe Ärger in der Familie, behauptete sie. Ein paar Stunden im Labor würden ihr guttun.

Aber die konzentrierte Arbeit an Mikrotom und Mikroskop half diesmal nicht. An gewöhnlichen Tagen vergaß sie alles um sich herum, sobald ein Schnitt auf dem Objektträger lag. Heute aber drehten sich die Gedanken wie ein Karussell um die immergleiche Frage.

Was war am Wochenende wirklich geschehen?

Immer wieder unterdrückte sie den Impuls, zu Hause anzurufen und zu fragen, ob alles in Ordnung sei. Sie verbot sich, das Handy aus der Tasche zu nehmen und zu prüfen, ob es empfangsbereit war. Unablässig produzierte ihr Gehirn unverbundene Sätze: So grausam ist niemand. Hilde hat auch eine Tochter. Eigentlich kenne ich Gombrowski gar nicht.

Um 17:30 Uhr verließ sie das Klinikgelände, fuhr mit überhöhter Geschwindigkeit nach Hause, kochte Abendessen, brachte Krönchen zu Bett und wechselte ein paar belanglose Worte mit Wolfi, der normal aussah, als hätte das vergangene Wochenende nur in Kathrins Phantasie stattgefunden. Vermutlich wäre es vernünftig gewesen, sofort zu Bett zu gehen, die Denkschleife zu stoppen und die zurückliegenden Tage aus dem Kalender zu streichen. Aber Kathrin wollte nachdenken. Sie brauchte Klarheit.

Mit einem Glas Rotwein ging sie ins Wohnzimmer, legte eine CD mit Klaviermusik ein und setzte sich in den abgewetzten Oma-Sessel, den Wolfi aus seiner Berliner Studentenbude mitgebracht hatte. Wenn das Klavier ins Pianissimo ging, hörte sie das Klappern der Tastatur durch die Wand. Im Nebenraum saß Wolfi am Computer, einen Bleistift quer im Mund wie ein aufgezäumtes Pferd, und hämmerte in die Tasten. Seit Krönchens Verschwinden schien sich die Schreibkrise in Luft aufgelöst zu haben. Kathrin hatte ihn im Verdacht, die Ereignisse in ein Theaterstück zu verwandeln, und wusste jetzt schon, dass ihr das Ergebnis nicht gefallen würde.

Sie hatte versucht, mit ihm über die Fragen zu reden, die sie bedrückten. Er hatte sie verwundert angesehen. Ob sie Krönchen nicht glaube, hatte er zurückgefragt. Ob sie ihrem Vater nicht zuhöre. Kron habe bei Marx und Engels geschworen, dass die Sache auf Gombrowskis Kappe gehe, und Kron kenne den alten Hund schließlich am besten. Es bestehe kein Zweifel daran, wie alles abgelaufen sei, und das Beste, was sie jetzt tun könnten, sei, das Ganze zu vergessen. Wiederholen werde sich eine solche Aktion mit Sicherheit nicht, und letztlich sei Krönchen ja nichts passiert. Wenn Kathrin sich jetzt in alle möglichen Fragen hineinsteigere, dann nicht, weil es Unklarheiten gebe, sondern weil sie die schlimme Geschichte nicht glauben wolle.

Damit hatte er nicht unrecht, auch wenn er gar nicht verstand, worum es ging. Wolfi kam nicht von hier. Für Kathrin war Unterleuten nicht nur ein beliebiger Punkt auf der Erdoberfläche, an dem sich zweihundert Individuen zufällig zum gemeinsamen Leben versammelt hatten. Unterleuten war ein Lebensraum, eine Herkunft, ja, sogar eine Weltanschauung. Lebensräume konnten vergiftet, eine Herkunft zerstört und Weltanschauungen in ihr Gegenteil verkehrt werden.

Ob sie Anzeige gegen Gombrowski und Hilde erstatten wolle, hatte Wolfi gefragt und dabei ironisch geklungen. Selbst als Zugezogener war ihm klar, wie ein solcher Versuch ablaufen würde. Ein Beamter aus Plausitz, der auf einen Kaffee vorbeikäme, das Gesicht in mitleidige Falten legte und erklärte, dass man da mangels eindeutiger Beweise so gut wie gar nichts tun könne.

Aber es kam Kathrin ohnehin nicht auf eine polizeilich ermittelte Wahrheit an. Was sie durchlitten hatte, stand jenseits von Strafverfolgung. Jede einzelne Sekunde der schrecklichen Nacht hatte sich mit Widerhaken in ihr Gedächtnis gegraben und war in der Lage, sich in endlosen Schleifen bis in alle Ewigkeit zu wiederholen. Weder Polizei noch Richter konnten eine Erinnerung tilgen, die der inneren Landkarte unauslöschlich eingeschrieben war. Es ging nicht um Schuld und Sühne, sondern um die Frage, ob Kathrin, falls tatsächlich Gombrowski und nicht nur ein schrecklicher Zufall hinter den Ereignissen steckte, weiterhin an dem Ort leben konnte, den sie ihre Heimat nannte.

Natürlich war Gombrowski eine Einzelperson und nicht mit dem Dorf identisch. Aber die Grausamkeit einer solchen Tat konnte den gesamten Landkreis in unbewohnbares Gebiet verwandeln. Kathrin hatte nichts dagegen, dass Unterleuten seine Probleme selbst löste, auch wenn es dabei gelegentlich etwas rauer zuging; daran war sie von kleinauf gewöhnt. Aber Unterleuten, Kathrins Unterleuten, vergriff sich nicht an Unschuldigen. Schon gar nicht an Kindern. Es fügte seinen Bewohnern keine bleibenden Schäden zu, weder in körperlicher noch in seelischer Hinsicht.

Kathrins Unterleuten las keine Zeitungen, sah kaum fern, benutzte das Internet nicht, interessierte sich nicht für Berlin, rief niemals die Polizei und vermied überhaupt jeden Kontakt mit der Außenwelt – aus einem schlichten Grund: weil es die Freiheit liebte. In den Jahrzehnten der sozialistischen Diktatur hatten die Menschen erfahren, dass Macht im Abstrakten und Irrealen waltete. Deshalb hielten sie sich lieber an das Reale und Konkrete. Der globalen Einschüchterung, die den ganzen Planeten im Griff hielt, boten sie keine Angriffsfläche. Wer nichts las, schaute, klickte oder hörte, wurde auch nicht regiert, weder von Politikern noch von Informationen und Ängsten, und schon gar nicht von einer Kombination aus alledem. Unter der ruppigen Oberfläche von Kathrins Unterleuten wohnte vielleicht keine Menschenliebe, aber doch eine Art Menschenfreundschaft. Mochte es auch mal poltern – ein Unterleuten, das Kinder entführte, gab es nicht. Krönchens Verschwinden drohte Unterleuten auszulöschen.