Выбрать главу

Aber wohin sollte sie? Nach Berlin? Ein sanfter Sommerregen begann, an die Scheiben der Wohnzimmerfenster zu tippen. Wolfi konnte überall arbeiten; er wäre vielleicht sogar glücklich, in die Hauptstadt zurückzukehren. Kathrin konnte sich um einen Job an der Charité bewerben. Sie konnte lernen, ohne Haus, ohne Garten und ohne Wald zu leben, in der von Mietwohnungen portionierten Anonymität der Großstadt. Krönchen war jung genug, um Unterleuten zu vergessen; in ein paar Jahren wäre das Dorf für sie nur noch eine vage Erinnerung an den Geruch von Kiefern und warmem Sand.

Nur, es gab auch noch Kron. Er war mit dem Boden verbunden wie die Häuser, Gärten und Straßen, aus denen das Dorf bestand. Kathrin war schon einmal an dem Versuch gescheitert, ihren Vater zu verlassen. Bei der Vorstellung, ihm Krönchen wegzunehmen, spannte sich etwas in ihrem Inneren bis zum Zerreißen. Wahrscheinlich würde er den Fortgang von Tochter und Enkelin nicht überleben.

Mit einem Ruck stand sie aus dem Sessel auf, stellte die Musik ab und trat ans Fenster. Ein beunruhigender Gedanke war ihr gekommen. In all den Jahren war sie fraglos davon ausgegangen, ihr Vater und sie lebten im selben Universum. Sie hielt ihn für neurotisch, weil die Welt, die sie kannte, keinen Anlass für jahrzehntelange Unversöhnlichkeit, für Jähzorn, Wutausbrüche und Rachefeldzüge gab. Wenn Kron die Aggressivität des Kapitalismus anprangerte, hatte sie ihn nicht ernst genommen; wenn er Gombrowskis Bösartigkeit beschwor, hatte sie ihm nicht geglaubt. Was aber, wenn er gar nicht verrückt war, sondern schlicht und ergreifend recht hatte?

Unwillkürlich bedeckte sie die Augen mit den Händen, als ihr noch etwas klar wurde. Möglicherweise hatte sie sein Schweigen über den Schicksalstag vor zwanzig Jahren, an dem Erik gestorben war, immer falsch gedeutet. Sie war davon ausgegangen, dass Kron schwieg, weil es nichts Skandalöses zu berichten gab. Weil stumme Anklage das Höchste war, was sich aus der Situation herausholen ließ. Weil er sich nur auf diese Weise zum Opfer stilisieren konnte.

Niemals hatte sie in Erwägung gezogen, dass sein Schweigen vielleicht gar nicht gegen Gombrowski oder das Dorf gerichtet war. Dass es vielmehr dazu gedient haben könnte, seine Tochter und ihr heiles Weltbild zu schützen.

Im Grunde wusste Kathrin fast nichts über Eriks Tod und Krons Unfall. Gombrowski hatte die beiden damals in den Wald bestellt, um ihnen sein Angebot zu unterbreiten: ein großes Stück Forst gegen widerstandsloses Ausscheiden aus der LPG. Dann brach ein heftiges Unwetter los. Kathrin war nicht einmal sicher, ob Gombrowski überhaupt zum Treffen erschienen war. Ein Baum wurde vom Blitz getroffen, ein herabstürzender Ast begrub Erik und Kron unter sich. War das alles? Im Dorf kursierten Gerüchte, zu denen Kron hartnäckig schwieg. Kathrin hatte nie ernsthaft nachgefragt. Vielleicht, dachte sie jetzt, hatte sie wieder einmal nichts Genaues wissen wollen.

Der Regen draußen wurde stärker, trommelte für Minuten mit voller Kraft gegen die Fenster und versiegte dann plötzlich, als hätte jemand einen Schalter umgelegt. Das bisschen Niederschlag würde den vertrockneten Garten eher ärgern als retten. Kathrin nickte dem eigenen Spiegelbild in der Fensterscheibe zu. Sie wusste nun, was zu tun war. Sie brauchte Klarheit. Es ging nicht mehr um die Vergangenheit, nicht um alte Geschichten über den verrückten Kron und den groben Gombrowski. Es ging um die Zukunft, um Kathrins Leben und das Glück ihrer Familie. Plötzlich erkannte sie, dass Krönchens Verschwinden über die Jahrzehnte hinweg mit einem herabstürzenden Ast in Verbindung stand. Wenn Kathrin wissen wollte, in welcher Sorte Welt sie lebte, würde sie nicht darum herumkommen, mit ihrem Vater zu reden. Sie musste ihn zum ersten Mal richtig befragen und ihm richtig zuhören. Es galt herauszufinden, wessen Unterleuten das reale war, seines oder ihres. An Krons Sicht auf die Dinge führte kein Weg vorbei.

»Ich kann nicht schlafen.«

Kathrin schreckte aus ihren Gedanken; sie hatte Krönchens nackte Füße auf der Treppe nicht gehört. Jetzt stand die Kleine im Türrahmen, die zerzausten Locken fielen ihr auf die Schultern. Sie hatte ihr Lieblingsstofftier dabei, eine zwei Meter lange Schlange namens Pitala, die Kathrin ihr zum vierten Geburtstag aus bunten Flicken genäht und mit Watte ausgestopft hatte. Pitala war die Hauptfigur in Krönchens Lieblingsbuch, das davon handelte, wie eine Schlange die bunten Früchte und Schmetterlinge des Urwalds verspeist und dabei deren Farben annimmt, bis sie selbst schön wie ein Paradiesvogel ist, während sich der Dschungel in ein Schwarz-Weiß-Bild verwandelt hat. Während Krönchen näher kam, presste sie sich Pitalas Kopf an die Wange; der lange Schlangenkörper schleifte hinter ihr über den Boden.

»Ist Pitala gar nicht müde?«

Krönchen schüttelte den Kopf.

»Dann kommt mal her, ihr beiden.«

Kathrin setzte sich wieder in den Sessel und nahm ihre Tochter auf den Schoß. Sie schwiegen eine Weile. Seit ihrem Verschwinden war Krönchen ungewöhnlich still. Friedlich spielte sie in ihrem Zimmer, statt unablässig nach Aufmerksamkeit zu verlangen. Kein Kampf beim morgendlichen Anziehen, kein Streit wegen Herumschreien im Garten, keine Trotzanfälle beim Abendessen. Es war, als versuchte das Mädchen, sich unsichtbar zu machen. Wolfi ging davon aus, dass die Kleine noch immer unter Schock stand. Er behandelte sie wie eine Kranke. Ständig strich er ihr übers Haar und sprach mit hoher Stimme auf sie ein.

Es war nie leicht gewesen, Krönchen zu durchschauen. Ihre Stimmungen wechselten schnell, und Kathrin hatte sie schon im Alter von drei Jahren dabei ertappt, wie sie mit einem Handspiegel im Badezimmer saß und Gesichtsausdrücke übte: schmollen, lächeln, flirten, Wut. Was, wenn Krönchen log, nicht aus bösem Willen, sondern so, wie Kinder eben manchmal die Wahrheit verdrehten, wenn die Phantasie mit ihnen durchging? Ein Abgrund öffnete sich vor Kathrins Füßen. Im nächsten Augenblick krampfte sich ihr Herz zusammen bei der Vorstellung, welche Ängste die Kleine in Hildes nächtlichem Haus ausgestanden haben mochte. Die Sehnsucht danach, ihrer Tochter zu glauben, war exakt gleich stark wie der Wunsch, die schlimme Geschichte möge nur in Krönchens Einbildung passiert sein. Zwischen diesen beiden Fronten wurde Kathrin auf das Format einer Rabenmutter zusammengedrückt.

Als ihr auffiel, dass sie Krönchens Kopf seit geraumer Zeit mechanisch streichelte, nahm sie die Hand fort, was das Mädchen als Aufforderung zum Reden verstand.

»Es tut mir leid«, sagte es mit seiner kleinsten Stimme.

Krönchen hielt den Kopf gesenkt und drehte Pitalas linkes Knopfauge zwischen den Fingern. Der Knopf würde abreißen, Kathrin würde ihn wieder annähen.

»Was denn?«

»Dass ich weggelaufen bin.«

»Aber das hatten wir doch schon geklärt.«

Kathrin fasste ihre Tochter um die Taille, drehte sie um und setzte sie so auf ihre Knie, dass sie der Kleinen ins Gesicht sehen konnte.

»Hör mal zu.« Mit einem Finger hob sie Krönchens gesenktes Kinn. »Du hast versprochen, dass du nie wieder das Grundstück verlässt, ohne uns Bescheid zu sagen. Damit ist es gut.«

»Ihr seid böse auf mich.«

»Sind wir nicht.«

»Ihr redet komisch mit mir.«

»Wir haben uns furchtbar Sorgen gemacht und sind noch ein bisschen verwirrt. Verstehst du?«