Krönchen überlegte, ob sie nicken sollte, und entschied sich dagegen.
»Ich muss dich noch etwas fragen«, sagte Kathrin. »Es ist wichtig, dass du genau zuhörst und die Wahrheit sagst. Okay?«
Jetzt nickte Krönchen, die blauen Augen ein wenig zu weit geöffnet.
»Tante Hilde ist doch deine Freundin, stimmt’s?«
»Ihre Katzen sind meine Freunde.«
»Und Tante Hilde?«
Krönchen dachte nach.
»Ist auch meine Freundin.«
»Wenn sie deine Freundin ist, bist du sicher, dass sie dich eingesperrt hat?«
Krönchen schwieg. Kathrin rüttelte sie leicht an den Schultern.
»Vielleicht hast du dich ja in Hildes Haus versteckt. Manchmal spielst du doch gern, dass du von zu Hause abgehauen bist, nicht wahr? Du wolltest uns eins auswischen, weil wir gemein zu dir waren.«
Kathrin merkte, dass sich ihr Griff um die Schultern des Mädchens verkrampft hatte; sie lockerte die Finger und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Ihre Körperwärme vereinigte sich mit der ihrer Tochter, mit einem Mal wurde es unerträglich heiß.
»Du kannst es ruhig sagen, mein Schatz. Vielleicht bist du bei Hilde im Haus eingeschlafen, und dann war es plötzlich mitten in der Nacht, und dann hattest du Angst, dass wir schrecklich mit dir schimpfen. Wir waren ja auch alle sehr aufgeregt. Und deshalb hast du gesagt, Tante Hilde hätte dich eingesperrt. War es so?«
Krönchens Augen füllten sich mit Tränen; die Unterlippe schob sich vor und begann zu zittern.
»Es ist wirklich wichtig.« Kathrin hatte ihre Stimme nicht unter Kontrolle. Sie merkte, dass sie laut wurde, und konnte es nicht verhindern. »Papa, Mama, Opa und Tante Hilde kommen in fürchterliche Schwierigkeiten. Du musst mir die Wahrheit sagen, hörst du? Krönchen!«
Krönchen hatte begonnen, sich in Kathrins Armen zu winden. Als Kathrin sie an den Schultern festhielt, warf sie den Kopf hin und her, um ihrem Blick auszuweichen. Schließlich begann sie haltlos zu weinen.
»Oh mein Gott, Krönchen. Es tut mir so leid.«
Mit geschlossenen Augen und zusammengepressten Lippen wünschte Kathrin, jedes einzelne Wort zurücknehmen zu können. Sie drückte die Kleine an sich, wiegte sie und spürte, wie ihr selbst die Tränen kamen, während Krönchens Weinkrampf ihr die Bluse durchnässte. Sie hatte die Kraft nicht, um ihr eigenes Kind der Lüge zu bezichtigen. Wie giftig diese ganze Geschichte war. Während Kathrin »sch-sch« flüsterte und ihre Tochter hielt, kam das Stimmengewirr im Kopf endlich zum Erliegen. Alle Zweifel wichen einer simplen Wahrheit.
Kathrin wurde ruhig, küsste ihre Tochter, stand auf und trug sie und Pitala auf den Armen durchs Zimmer, über den Flur, die Treppe hoch. Auch Krönchen beruhigte sich. Kathrin legte sie ins Bett, küsste sie noch einmal und sagte: »Ich bin dir nicht böse, mein Schatz.« Da ging ein Lächeln über das Gesicht des Kindes; es rollte sich auf die Seite, nahm die Schlange in den Arm und antwortete: »Gute Nacht, Mama.«
Auf Zehenspitzen verließ Kathrin das Kinderzimmer. In ihr war alles Ruhe und Klarheit. Sie besaß einen einfachen Auftrag, der darin bestand, ihre Familie zu beschützen. Wenn sie es schon niemals geschafft hatte, dem eigenen Vater Glauben zu schenken, dann wollte sie wenigstens lernen, zu ihrer Tochter zu halten. Damit waren alle Fragen beantwortet, und sie beschloss, ebenfalls sofort zu Bett zu gehen.
46 Franzen
Gombrowski hatte gefragt, ob er auf ein Bier vorbeischauen könne. Sie hatte ihn stattdessen unter eine ganz bestimmte Laterne im Beutelweg bestellt.
»Bei Einbruch der Dunkelheit«, hatte sie gesagt und hinzugefügt: »Die Stelle kennen Sie ja.«
Sie freute sich über die Formulierung, die ironisch klang wie aus einem Tarantino-Film.
Interessant war, dass sich der Täter bei ihr meldete und nicht das Opfer. Kron hatte sich seit seiner Rettung überhaupt nicht gerührt. Kein Anruf, kein Blumenstrauß, keine Postkarte. Die Idee, ihn selbst aufzusuchen und nach seinem Befinden zu fragen, hatte Linda gleich wieder verworfen. Die Starke handelte und schwieg.
Und Linda war stark. Sie platzte schier vor Tatendrang. Täglich fuhr sie mit dem Auto 200 Kilometer über Land, um Kundenpferde zu betreuen, kam abends gegen neun nach Hause, schlang ein paar belegte Brote hinunter und verbrachte weitere zwei Stunden mit dem Schleifen der Fensterrahmen im Obergeschoss. Gegen Mitternacht fiel sie wie ein Stein ins Bett, schlief bis sechs und erwachte beim Klingeln des Weckers mit einem kribbeligen Gefühl, einer Mischung aus Nervosität und freudiger Erwartung, als stünde irgendein großes Ereignis bevor. Meistens blieb sie noch ein paar Minuten liegen und überlegte, worauf sich die Aufregung bezog – auf die Arbeit mit einem besonders schwierigen Pferd, die Sanierung von Objekt 108 oder das Wiedersehen mit Frederik am Wochenende? Nichts ließ sich mit dem Vibrieren ihrer Nerven in Verbindung bringen. Ihr Lampenfieber war ein abstrakter, auf die Zukunft gerichteter Vorwärtsdrang, der alle Bewegungen und Gedanken beschleunigte, die Arbeitskraft verdoppelte und dafür sorgte, dass sie langsam fahrende Mähdrescher anhupte und gelegentlich kleinere Gegenstände fallen ließ.
Frederik hatte beschlossen, die ganze Woche in Berlin zu bleiben. Wahrscheinlich war er noch sauer wegen ihrer Ignoranz gegenüber der Loveparade. Obwohl Linda ihn vermisste, kam es ihr entgegen, dass sie keine Zeit an gemeinsame Abendessen, Sex oder Gespräche über die Computerbranche verlor. Ohnehin hatte er sich wieder mal als Spielverderber erwiesen. Voller Begeisterung hatte sie ihn in der späten Nacht zum Sonntag noch angerufen und die Gombrowski-Geschichte zum Besten gegeben. Wie sie Schmerzen und Humpeln simuliert hatte, um Kron Gelegenheit zur Flucht zu verschaffen. Wie sie dann plötzlich leichtfüßig und völlig frei von Hinken im Haus verschwunden war.
Frederik hatte nicht mitgelacht. Zuerst glaubte er, sie habe sich wirklich am Fuß verletzt, und wiederholte ständig die Frage, ob auch nichts gebrochen sei. Als er endlich begriff, dass es ihr gut ging, wurde er wütend. Er klang wie ein Vater, der mitten in der Nacht seine sechzehnjährige Tochter anschreit, vor lauter Erleichterung, dass ihr nichts zugestoßen ist.
Aber Linda war zu gut drauf, um sich von Frederiks Griesgrämigkeit die Laune verderben zu lassen. Sie genoss das Gefühl, in einem neuen Universum mit eigenem Energiehaushalt unterwegs zu sein. Seit sie in Unterleuten wohnte, war sie zu einem echten Mover im Sinne von Manfred Gortz geworden. Das lag an Objekt 108. Inzwischen wusste Linda, wie stark Grundbesitz das gesamte Lebensgefühl veränderte. Eigentlich gehörte sie zu einer Generation, deren turnschuhtragenden und Sushi-essenden Vertretern schon der Besitz einer Hauskatze als unerträgliche Verantwortung erschien. »Haus bauen, Baum pflanzen, Kind zeugen« war kein Glücksrezept mehr, sondern eine Horrorvision. Die Ewigpubertierenden wollten sich alles offen halten und wunderten sich dann über Orientierungslosigkeit.
Linda hingegen hatte eine Entscheidung getroffen. Ein Haus verwandelte das beängstigende Möglichkeitenlabyrinth der Zukunft in überschaubares Terrain. Ein Haus beantwortete die Frage nach dem »Wo« und damit auch Teile der Fragen nach »Was«, »Wie« und »Warum«. Das Land, auf dem das Haus stand, wollte bewirtschaftet und verteidigt werden. Land verlangte nach Expansion. Land brachte Menschen zusammen und verheiratete Nachbarn zu vielköpfigen Zwangsehen. Inzwischen glaubte Linda, dass das menschliche Schicksal nicht an Gott, sondern am Grundbesitz hing. Transzendentale Obdachlosigkeit war keine Folge des Religionsverlusts, sondern der Inflation von Mietwohnungen. Sie war stolz darauf, mit ihrer großen, heruntergekommenen Villa ein Bollwerk gegen den Zeitgeist zu errichten.
Objekt 108 war ein Aussichtsturm, von dem aus sie in die Zukunft blicken konnte, und was sie dort sah, gefiel ihr immer besser. Unterleuten hatte ein altes Herz. Seine Anführer wie Gombrowski, Kron oder Arne hatten die sechzig überschritten. Bald würden andere diese Plätze einnehmen, junge Menschen mit eigenen Zielen. Es stand Linda frei, ihre Rolle zu wählen. Früher hatte sie sich manchmal gefragt, warum es Menschen gab, die ihr ganzes Leben darauf richteten, Parteichef oder Vorstandsvorsitzender zu werden. Inzwischen kannte sie den Grund. Sie wusste jetzt, dass Macht süßlich roch. Wie Manfred Gortz sagte: Alles ist Wille. Das Machtgefüge in Unterleuten war eine Maschine, und Linda musste nicht mehr tun, als die Mechanismen zu erlernen. Sie hatte bereits ein paar Knöpfe und Schalter ausprobiert und begonnen, die ersten Interessenhebel zu bedienen. Die Resultate konnten sich sehen lassen. Dass Gombrowski sie unbedingt sprechen wollte, wertete sie als hervorragendes Zeichen.