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Es war schon fast dunkel, als sie das Haus verließ. Um die Laternen kreisten Fledermäuse wie Vergrößerungen der Motten, die sie jagten. Drüben bei Karl, dem Indianer, brannte ein großes Feuer, das Bäume und Tipi zum Tanzen brachte. Es duftete so stark nach gebratenem Fleisch, dass Linda das Wasser im Mund zusammenlief. Mindestens einmal pro Woche grillte Karl mitten in der Nacht, was die Vermutung nahelegte, dass das, was gerade so köstlich roch, noch vor einer Stunde im Wald herumgesprungen war. Irgendwann musste Linda herausfinden, welche Funktion Karl in der Dorfmaschine besaß, aber für heute stand ein anderer Kandidat auf der Agenda.

Schon auf dreihundert Meter sah sie, dass Gombrowski am Laternenpfahl lehnte, genau an der Stelle, gegen die er in der Nacht zum Sonntag Krons Körper gestoßen hatte. Er hatte die Arme verschränkt, ein Bein leicht vorgestellt und eine Zigarre im Mund, deren Rauch eine leere Sprechblase über seinem Kopf bildete. Linda überlegte, ob ihm Selbstironie zuzutrauen war. Wenn die Zigarre eine Antwort auf Ort und Zeit des Treffens darstellen sollte, hatte sie ihn unterschätzt.

Ruhig sah er zu, wie sie näher kam, ohne Anzeichen von Entdecken oder Erkennen, als hätten seine Augen sie schon seit Stunden verfolgt. Linda achtete darauf, das Tempo nicht zu verlangsamen, ging mit zügigen Schritten auf ihn zu und blieb direkt vor ihm stehen. Seine Zunge transportierte die Zigarre vom einen Mundwinkel in den anderen. Zufrieden nahm Linda die Abwesenheit des Mastiffs zur Kenntnis. Offensichtlich hatte Gombrowski begriffen, dass ihr Hunde keine Angst einjagten.

Eine Weile blickten sie sich an. Beiläufig nahm Linda die gleiche Haltung ein wie er, die Arme verschränkt, ein Bein vorgestellt. Dazu bewegte sie die Zunge, als transportiere sie eine Zigarre hin und her. Nach ein paar Sekunden stellte sich Gombrowski anders hin und nahm den Stumpen aus dem Mund. Linda lächelte freundlich. Durch Nachahmung eine unbewusste Reaktion hervorrufen und sofort belohnen – mit diesem Trick erlangte man Kontrolle über ein fremdes Bewusstsein.

Statt einer Begrüßung sagte Gombrowski schließlich: »Nein.«

Linda wartete.

»Ich habe die kleine Kron nicht entführt. Falls Sie das fragen wollten.«

»Wollte ich nicht.«

»So?« Die Zigarre verharrte auf dem Weg zum Mund; Gombrowskis Brauen hoben sich.

»Ich frage nicht«, sagte Linda, »weil ich fest davon ausgehe, dass Sie dahinterstecken.« Das stimmte zwar nicht, schien ihr aber als kleiner Schuss vor den Bug geeignet zu sein.

»Ach so.« Gombrowskis überraschte Miene sank in sich zusammen. »Ich dachte, Sie wären klüger als die ganzen Idioten hier. Egal.« Er sog an der Zigarre und schien zu überlegen. »Hat sich Kron bei Ihnen bedankt?«

Linda schüttelte den Kopf.

»Das sieht ihm ähnlich. Wer sich immer im Recht glaubt, sagt niemals danke.« Plötzlich lachte er. »Sie müssen ja einen schönen Eindruck von Unterleuten bekommen! Kinder verschwinden, alte Männer schlagen aufeinander ein. So ein Drecknest.«

»Komischerweise denke ich das nicht«, sagte Linda.

»Sollten Sie aber. Ich werde Ihnen jetzt ein paar Wahrheiten über Unterleuten erzählen. Das Dorf ist eine Schlangengrube.«

»Bislang kommen mir die Leute eigentlich ganz nett vor.«

»Nett!«, lachte Gombrowski. »Alle Menschen sind nett, wussten Sie das nicht? Hitler war nett, Milosevic war nett, Ahmadinedschad ist nett. Dazu gebildet und charmant. Gott sei Dank fehlen uns in Unterleuten Bildung und Charme. Deshalb sind wir wenigstens keine Massenmörder, sondern nur Kleinkriminelle.«

»Das klingt, als würden Sie Unterleuten hassen.«

»Tue ich auch. Und Unterleuten hasst mich. Kron sowieso samt Tochter, Schwiegersohn und Enkelin, dazu seine Veteranen-Truppe und deren gesamte Sippschaft. Weiterhin hasst mich, wer mir etwas schuldet, also praktisch jeder, allen voran Arne und Schaller.«

»Soll ich für Sie beten?«

»Halten Sie mich nicht für wehleidig. Ich rede über schlichte Tatsachen. Sogar meine Frau und meine Tochter hassen mich aus Gründen, die ich nie ganz verstanden habe. Meine Theorie dazu: Altlasten.«

»Was meinen Sie damit?«, fragte Linda. »Offene Rechnungen aus DDR-Zeiten?«

»Ich meine Sondermüll. Sie haben keine Ahnung, was der Unterleutner Boden alles in sich hineingeschlungen hat. Die abgerissene Hühnerfarm im Beuteler Bruch. Die Asbestdächer der ehemaligen Getreide-Lagerhallen. Die komplette LPG-Tankstelle samt unterirdischen Tanks. Kaputte Traktoren, Heizöl, Farben, Leichen, Bauschutt, tote Verkabelung – das liegt hier alles ein paar Zentimeter unter der Erde. Hat doch nie einer was weggeräumt in der DDR. Der ganze Müll von vierzig Jahren Superfortschritt liegt hier begraben. Schau dich um, es wächst ja nichts. Um was Essbares anzupflanzen, musst du nicht Landwirt sein, sondern Hexenmeister.«

»Die Felder stehen voll.«

Gombrowski winkte ab.

»Schweinefutter und Biodiesel. Die Tomaten bei Rewe kommen aus Spanien.« Er zog an seiner Zigarre. »Das Gift schlägt den Leuten aufs Gemüt. Wer schlau ist, haut ab. Wer nicht wegkommt, fängt an zu hassen. Oder krepiert. Deine Villa Kunterbunt hat noch keiner überlebt.«

»Das läuft nicht, Gombrowski.«

Er hob das Kinn, damit sie sich erkläre.

»Sie machen mir keine Angst«, sagte Linda.

Lachend trat er einen Schritt vor, um ihr auf die Schulter zu klopfen.

»Weiß ich, Schätzchen! Wenn du von der ängstlichen Sorte wärst, hättest du keine Freude daran, dich mitten in der Nacht mit dem fetten alten Hund zu treffen. Du bist hart, und du hast was im Kopf. Gute Mischung. So eine wie dich hätte ich mir als Tochter gewünscht.«

Linda musste sich eingestehen, dass er sie rührte. Ein Einzelkämpfer, hässlich wie kein Zweiter, mächtig, aber unbeliebt, von Frau und Tochter im Stich gelassen. Dabei klug genug, um zu wissen, dass seine Partie zu Ende ging. Gleichzeitig registrierte sie, wie perfekt er es verstand, das Spiel zu machen. Das war sein Auftritt, seine Szene. Er war es, der Linda zum Reagieren zwang, nicht umgekehrt. Dabei hatte sie es noch nicht einmal geschafft, ihn zu fragen, was er von ihr wollte. Warum er um dieses Treffen gebeten hatte. Sie beschloss, ihn noch eine Weile reden zu lassen. Je mehr sie über ihn erfuhr, desto besser.

»Du wirst deine eigenen Erfahrungen machen«, sagte Gombrowski.

Das »Sie« war im Lauf seines Vortrags auf der Strecke geblieben, und Linda hätte gern gewusst, ob Achtlosigkeit oder Kalkül dahintersteckten. Sie ermahnte sich, von Letzterem auszugehen. Der tollpatschige Grobian konnte ein Avatar sein, den Gombrowski an tausend feinen Fäden führte. Sie wusste selbst am besten, wie nützlich es war, von anderen Menschen falsch eingeschätzt zu werden.

»Wenn Unterleuten so furchtbar ist«, fragte sie, »was machen Sie dann noch hier?«

»Wo sollte ich sonst sein?« Er lehnte sich wieder gegen die Laterne. »Geh mal auf deinen Dachboden und schau aus der Luke neben der zugemauerten Esse nach Osten.«

Daran, dass jeder in Unterleuten ihr Haus besser kannte als sie selbst, hatte sich Linda inzwischen gewöhnt.

»Alles, was du dann siehst bis zum Horizont, hat meinem Vater gehört. Sie haben ihn gezwungen, seinen Besitz in die LPG einzubringen. Mächtig angestrengt haben sie sich, um Land und Leute zu verderben, mit äußerster Effizienz, denn im Verderben waren sie einsame Spitze. Nach der Wende habe ich dafür gekämpft, die Flächen zusammenzuhalten, den Betrieb zu retten, bevor ein Investor aus dem Westen kommt, der sich von der EU fürs Brachlegen bezahlen lässt. Jetzt sitze ich hier, auf dem lieben, armen, verdorbenen Land zwischen lieben, armen, verdorbenen Leuten und mache weiter, so gut ich kann.«