»Als Einziger völlig unverdorben.«
»Jetzt kommen wir zum Punkt.«
Er stieß die Zigarre gegen den Laternenpfahl, verteilte die herabstürzende Glut mit dem Fuß und zertrat schließlich noch den verlöschenden Stummel. Das jedenfalls war keine Show. Die wochenlange Trockenheit bedeutete Waldbrandgefahr, höchste Gefahrenstufe.
»Verdorben bin ich genau wie der Rest«, fuhr Gombrowski fort. »Hier ein zugedrücktes Auge, da ein paar Tricks. Auch mal eine harte Hand, wenn mir der Kragen platzt.«
Er sah auf und lächelte schief.
»Danke übrigens wegen Kron«, sagte er. »Ich war außer mir. Was auch immer passiert wäre, ich hätte es nicht gewollt.«
Er sah sie direkt an, und am Grund seines triefäugigen Blicks wohnte Aufrichtigkeit. Linda nickte. Die Szene gefiel ihr immer besser.
»Ich habe eine Grundregel«, machte Gombrowski weiter. »Hab ich dir vielleicht schon mal erzählt. Sie lautet: Es gibt immer eine Lösung, die alle glücklich macht. Die muss gefunden werden. Nicht aus Menschenliebe, sondern aus Vernunft. Größtmögliche Zufriedenheit bringt den größtmöglichen Nutzen. Auch wenn manche Leute zur Zufriedenheit gezwungen werden müssen.«
»Kron zum Beispiel«, sagte Linda.
»Wer auch immer. Passen Sie auf. Jetzt kommt das Geheimnis. Da können Sie noch was lernen.«
Beeindruckt nahm Linda die Rückkehr zum »Sie« zur Kenntnis.
»Prinzipien«, sagte Gombrowski, »sind nicht nur das beste Gegenmittel gegen das Unterleutner Gift. Sie sind überhaupt die Rettung vor dieser seltsamen Welt.«
»Klingt altmodisch.«
»Nicht Rettung der Welt«, rief Gombrowski. »Rettung vor der Welt. An Prinzipien kannst du dich festhalten wie Kron an seiner Krücke. Damit du nicht verloren gehst. Und deshalb entführst du, Scheiße noch mal, keine kleinen Kinder.«
»Darf man stehlen?«
»Wenn’s sein muss.«
»Lügen?«
»Geht ja nicht anders.«
»Betrügen?«
»Das heißt jetzt Kapitalismus.«
»Töten?«
»Je nachdem.«
»Fremdgehen?«
»Nein«, sagte Gombrowski ohne Zögern.
»Interessant.« Linda tat so, als müsste sie nachdenken. Das Gespräch nahm definitiv surreale Züge an. »Und was ist mit Hilde Kessler?«
»Jetzt willst du’s aber wissen, was?« Gombrowski rieb sich mit beiden Händen das Gesicht. »Hast gemerkt, dass der alte Mann heute Abend mit dem Rücken zur Wand steht und reden will. Weil man ihm mal wieder voll in die Eingeweide getreten hat. Hätte gar nicht gedacht, dass da noch irgendwas wehtun kann.« Als er aufschaute, waren seine Tränensäcke durchs Reiben geschwollen und verwandelten ihn endgültig in einen traurigen Bernhardiner. »Es gibt in Unterleuten jemanden, der mich noch zehnmal mehr hasst als Kron und meine Frau zusammen. Das ist Hilde Kessler. Meine liebe Freundin, der einzige Mensch, dem ich in diesem Drecknest vertraue. Gott hatte Spaß daran, Hilde und mich ein paar Jahre zu spät miteinander bekannt zu machen, obwohl er ganz genau wusste, dass wir füreinander bestimmt waren. Stattdessen waren wir dann beide mit der falschen Person verheiratet. Aber man betrügt seine Familie nicht.«
»So, wie man keine kleinen Kinder entführt.«
»Ganz genau.« Gombrowski klatschte sich die flache Hand in den Nacken und betrachtete anschließend, was er erschlagen hatte. »Als Hildes Mann starb, war Püppi gerade aus dem Haus. Hilde ging fest davon aus, dass ich Elena verlassen und sie heiraten würde. Alles schien zu passen, der tote Erik, Püppis Auszug, Elena, die mich schon lange nicht mehr ertrug. Dass ich trotzdem bei meiner Frau blieb, ging über Hildes Kräfte. Sie verlangte eine Erklärung, ich hatte keine. Es gehörte sich einfach so. Hilde hat mir das nie verziehen. Kurz darauf fing das mit den Katzen an und dass sie nicht mehr aus dem Haus ging. Auf diese Schuld zahle ich ein Leben lang.«
Sie schwiegen. Linda verspürte Lust, dem alten Bernhardiner über den Kopf zu streicheln. Er tat ihr leid. Gleichzeitig war sie stolz darauf, dass er ausgerechnet ihr seine Geschichte erzählte. Bestimmt hatte er schon lange nicht mehr so offen mit jemandem gesprochen. Von außen betrachtet waren sie zwei Wesen völlig unterschiedlicher Art, aber im Kern verband sie eine Gemeinsamkeit: Sie waren Kämpfer. Mit ihrem Eingreifen Samstagnacht hatte Linda seinen Respekt erworben. Eine leichte Gänsehaut überzog ihre Unterarme, als sie dachte, dass unter dieser Laterne vielleicht gerade eine merkwürdige Freundschaft begann.
»Pass auf«, sagte Gombrowski und lächelte sie an. »Schluss mit den alten Geschichten. Es gibt auch neue. Im Dorf ist die Hölle los, die drehen alle komplett durch.«
»Wie meinst du das?«, fragte Linda, und das klang so vertraut, als würden sie täglich ihre Angelegenheiten miteinander besprechen.
»Das mit der kleinen Kron war der berühmte letzte Tropfen. Das Fass ist mehr als voll. Wir sollten uns beeilen.«
Gombrowski wartete, bis sie verstanden hatte.
»Kein Problem«, sagte sie, »ich mag Tempo«, und freute sich schon darauf, diese Antwort später gegenüber Frederik zu zitieren.
»Wir regeln das alles schriftlich«, sagte Gombrowski. »Wenn du willst, kannst du auch Bargeld haben statt der Sanierung deiner Ställe. Hauptsache, wir kriegen das fix über die Bühne.«
»Die Baugenehmigung«, sagte Linda.
Gombrowski warf ihr einen schnellen Blick zu und hatte fast im gleichen Augenblick eine abwinkende Hand in der Luft.
»Ist längst angeleiert.«
»Angeleiert reicht nicht. Das Ding muss vorliegen. Vorher unterschreibe ich nichts.«
»Hab ich verstanden, hab ich verstanden.« Gombrowski schob die Hände in die Hosentaschen und prüfte mit zurückgelegtem Kopf, ob die Milchstraße noch da war. »Einen Vorteil hat die Sache mit der kleinen Kron: Sie erhöht das Drohpotenzial. Die Vogelschützer werden mir deine Baugenehmigung auf dem Silbertablett servieren. Freiheit fängt da an, wo die Leute einem alles zutrauen.«
Linda lachte und hörte wieder damit auf, als sie verstand, dass er keinen Witz gemacht hatte.
»Übernächste Woche bei Söldner«, sagte er.
»Wer ist Söldner?«
»Notarin in Berlin-Charlottenburg.«
Da war es wieder, das Kribbeln im Zwerchfell. Gombrowski war kein Mann, der Versprechen gab, die er nicht halten konnte. Wenn er es tatsächlich schaffte, die Baugenehmigung innerhalb von zehn Tagen zu besorgen, in einem Verfahren, das sich eigentlich über Monate, wenn nicht über Jahre hingezogen hätte, dann konnte Linda sofort mit den Umbaumaßnahmen beginnen und Bergamotte vielleicht noch vor Ende des Jahres ins Winterquartier holen. Damit hatte sie nicht gerechnet. Sie wollte Frederik anrufen, sofort. Sie spürte, wie sich ein breites Grinsen auf ihrem Gesicht ausbreitete. Gombrowski bemerkte ihre Miene und grinste ebenfalls.
»Lass den alten Hund nur machen.« Er streckte ihr die Hand hin, sie schlug ein. »Alles klar, Frau Franzen«, sagte er und ging.
Linda sah zu, wie er den Beutelweg hinunterschlenderte, wobei er die Transparente ignorierte, auf denen heute »Windkraft – nein danke« und »Kein Platz fur Kindentfuhrer« stand; die Ü-Punkte waren vergessen worden. Gombrowski öffnete und schloss das gusseiserne Tor vor seinem Haus; eine Fichte entzog ihn Lindas Blicken. Sie hörte, wie die Mastiff-Hündin anschlug, wie Gombrowski etwas sagte und die Haustür ins Schloss fiel. Dann herrschte Stille.
Linda stand reglos, in die Richtung starrend, in die Gombrowski verschwunden war. Mit seinem Abgang hatte sich die Atmosphäre verändert, als wäre Linda nach Ende eines Films plötzlich auf die nächtliche Dorfstraße hinausgetreten. Sie kämpfte mit dem Gefühl, dass etwas nicht stimmte. Die Erkenntnis kam so unvermittelt, dass ihre Wangen kalt wurden, während die Handflächen zu schwitzen begannen.