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Sie hatte versäumt, sich über den Grund klar zu werden, aus dem Gombrowski sich unbedingt mit ihr treffen wollte. Jetzt stand ihr die Sachlage klar vor Augen. Er hatte befürchtet, dass Linda nach den Ereignissen vom Wochenende vielleicht nicht mehr bereit war, an ihn zu verkaufen – oder jedenfalls nicht zu denselben Bedingungen. Gleichgültig, wie viel er mit Krönchens Verschwinden zu tun hatte, er stand zweifellos unter Druck, was bedeutete, dass die Welt für ihn teurer geworden war. Aber Linda, die angehende Super-Geschäftsfrau, hatte nicht einmal versucht, ihn in die Mangel zu nehmen, um den Preis zu treiben. Stattdessen war sie nach ein paar rührseligen Geschichten bereit gewesen, sich über eine längst erfolgte Zusage zu freuen. Die angekündigte Beschleunigung des Genehmigungsverfahrens stellte keine Aufbesserung des Angebots dar, sondern war der Tatsache geschuldet, dass Gombrowski es eilig hatte.

Die Kälte ihrer Wangen wich einer schamvollen Hitze. Vielleicht sollte sie ihm für dieses Propädeutikum in taktischer Gesprächsführung eine Seminargebühr überweisen. Bei allem Ärger musste sie anerkennen, dass er es auf diesem Gebiet zu wahrer Meisterschaft brachte. Sie hatte geglaubt, ihn genau zu beobachten, aber er vollführte seine Tricks wie ein Hütchenspieler, nicht obwohl, sondern weil man ihm auf die Finger sah.

Linda beschloss, sich nicht weiter zu ärgern, und machte sich auf den Heimweg. Gortz empfahl, Niederlagen als nützliche Erfahrungen zu verbuchen. Immerhin hatte sie heute ein für alle Mal gelernt, dass zwischen Pferden und Menschen gewisse Unterschiede bestanden. Am Ende würde sie Gombrowski trotzdem ins Gesicht lachen.

Sie hatte die mächtigen Steinpfosten neben der torlosen Einfahrt von Objekt 108 erreicht, als sie den Handschuh entdeckte. Er lag auf der untersten Stufe der Eingangstreppe, sauber drapiert, damit man sofort sah, dass der Mittelfinger fehlte. Offensichtlich war ihr Treffen mit Gombrowski im Dorf nicht unbemerkt geblieben; jetzt versuchte sich jemand in mafiösen Drohgebärden. Lächelnd bückte sie sich, hob den Handschuh auf und steckte ihn in die Hosentasche, bevor sie die restlichen Stufen zur Haustür hinaufging. Ihre gute Laune war endgültig wiederhergestellt. Sie mochte ein Frischling sein, der sich von einem alten Haudegen einwickeln ließ. Aber sie war klug genug zu wissen, dass ihr etwas Besseres als eine solche Drohung gar nicht passieren konnte.

47 Fließ

Nie laut die Meinung sagen. Man könnte ja falschliegen. Immer zweite Reihe, immer ausführendes Organ. Zu wenig Selbstvertrauen. Das war sein Problem, damit hatte er sich von Anfang an die Karriere versaut. Wie oft war es in seiner Zeit an der Universität vorgekommen, dass ein Kollege mit einer von Gerhards Ideen Furore machte! Für die Leistungsgesellschaft spielte es keine Rolle, wer einen Gedanken als Erster gefasst hatte. Es kam nur darauf an, wer ihn verkaufte. Und Gerhard war nun einmal in erster Linie Denker und nur in zweiter ein Mann der Tat. Wie sollte sich ein intelligenter Mensch überhaupt zum Handeln entschließen, wenn doch die Hauptaufgabe des Verstandes darin bestand, zu jedem »Für« ein »Wider« zu präsentieren? Schließlich hieß es cogito und nicht ago ergo sum, weshalb sich Gerhard für die akademische Laufbahn und nicht für den Kriegsdienst entschieden hatte. Lieber ein kluger Zauderer als ein dummer Draufgänger. Im Grunde seines Herzens vertrat Gerhard die Auffassung, dass nicht er selbst schuld war an seinen mangelnden Erfolgen, sondern das korrumpierte Uni-System. Er zog mit Jule aufs Land.

Aber leider waren Probleme anhänglich wie Hunde, sie folgten ihrem Herrn überallhin. Seit vier Tagen dachte Gerhard darüber nach, wo er jetzt stünde, wenn er in der Nacht zum Sonntag seiner Ahnung nachgegeben und die Initiative ergriffen hätte. Von der ersten Sekunde an war ihm klar gewesen, dass sich das Kind in Gombrowskis Händen befand. Er hatte sogar geahnt, dass Gombrowski zu klug war, um die Kleine bei sich zu Hause zu verstecken. Dass Gerhard zunächst fälschlicherweise auf Schaller getippt hatte, war ein verzeihlicher Irrtum und hätte seinen Sieg am Ende umso strahlender erscheinen lassen.

Statt mit der Suche im Wald Zeit und Kraft zu verschwenden und am Ende noch mit dem vor Angst verrückten Kron aneinanderzugeraten, hätte er Ingo und zwei weitere kräftige junge Männer auswählen und sich an die Spitze eines Sondereinsatzkommandos setzen können. Sie wären bei Schaller einmarschiert und hätten den Hof durchsucht, und wenn das Tier von nebenan versucht hätte, sie daran zu hindern, hätte es von den jungen Männern mächtig was zwischen die Hörner bekommen. Allein die Vorstellung wärmte Gerhard das Herz.

Danach hätte er sein Kommando in den Beutelweg geführt. Die verschreckte Elena hätte die Hände gerungen und immer wieder »oh Gott« gerufen, während Gombrowski ungerührt zugesehen hätte, wie sie erfolglos Raum für Raum durchsuchten. Am Ende hätte er Gerhard und seine Männer zur Tür begleitet und einen schönen Abend gewünscht.

An dieser Stelle wäre ein Moment der Ratlosigkeit eingetreten. Ingo hätte verlangt, dass sie nun endlich beim Indianer vorbeischauten. Aber dann wäre Gerhard plötzlich die zündende Idee gekommen. Er hätte seine Leute herangewunken und wäre mit ihnen ein Haus weitergegangen, um dort höflich zu klingeln. Hilde hätte geöffnet und sofort gewusst, dass das Spiel aus war. Auf seinen Armen hätte Gerhard das verängstigte Krönchen aus dem Haus getragen und im Triumphzug zu Eltern und Großvater zurückgebracht.

Durch diese Tat wäre er binnen Sekunden zum wichtigsten Mann im Dorf avanciert. Im Kampf gegen Gombrowskis Windräder hätte er ganz Unterleuten hinter sich versammeln können. Das Tier von nebenan hätte es nie wieder gewagt, ihnen das Leben schwer zu machen. Im Gegenteil wäre es mit seinem Schrotthaufen von Autowerkstatt pleitegegangen und verschwunden, weil niemand im Landkreis etwas mit den Feinden der Familie Fließ …

Das Telefon klingelte. Gerhard schreckte aus seinem Tagtraum. Johannes, ein junger Kollege, reichte ihm den Telefonhörer über den Schreibtisch. Drei Minuten später saß Gerhard im Auto und raste mit halsbrecherischer Geschwindigkeit nach Unterleuten.

Er hatte Jule in letzter Zeit oft hysterisch erlebt. Aber dieses Mal besaß der Anfall neue Qualität. Sie lief Kreise wie ein gefangenes Tier, rechts um den Couchtisch herum, links ums Sofa, eine Acht um Gerhard und die Bananenstaude, dann zurück zum Couchtisch. Dabei schob sie die schreiende Sophie von einer Hüfte auf die andere und raufte sich mit der freien Hand die Haare. Wenn Gerhard sie in den Arm nehmen wollte, riss sie sich los; wenn er etwas fragte, schrie sie immer den gleichen Satz:

»Ich will nach Hause! Ich will nach Hause!«

Aus Erfahrung wusste Gerhard, dass es manchmal gelang, die Hysterie zu durchbrechen, indem man laut wurde.

»Wo ist denn dein Zuhause?«, rief er, und tatsächlich blieb Jule einen Moment stehen.

Sie sah ihn an, als müsste sie nachdenken. Dann nahm sie ihren Kurs durchs Wohnzimmer wieder auf.

»Ich will hier weg«, weinte sie, aber es klang nicht mehr ganz überzeugt.

Danach gelang es ihm mit Geduld und Hartnäckigkeit, seine Frau auf die Couch zu bugsieren und zum Sprechen zu bringen. Aus den Satzfetzen, die sie hervorstieß, ließ sich rekonstruieren, was in etwa passiert sein musste.

Seit Anfang der Woche brannten die Feuer an der Grundstücksgrenze nicht mehr. Es war wie ein Wunder. Der Wind hatte die giftigen Dämpfe vertrieben und auch den Ascheteppich mitgenommen, als hätte es die Hölle rings ums Haus niemals gegeben. Einen vollen Tag hatten sie gebraucht, um dem Frieden zu trauen. Dann öffneten sie alle Fenster. Gerhard hatte den Rasensprenger in Stellung gebracht, um das gelb vertrocknete Gras neu zu beleben. Gemeinsam hatten sie das bemalte Kinderbettchen aus dem Keller getragen, das sie bei einem Antiquitätenhändler extra für den Garten gekauft hatten.