Heute war Jule gleich nach dem Aufstehen mit Sophie und einer Tasse Kaffee nach draußen gegangen. Der Wein wollte gewässert, die Himbeeren zurückgeschnitten, heruntergefallene Äste eingesammelt werden. Als Gerhard zur Arbeit aufgebrochen war, hatte Sophie auf einer gefalteten Decke im Kinderbettchen gelegen, mit den Beinen gestrampelt und die Arme nach den Ästen des Holunders ausgestreckt, der ihr Schatten spendete. Das friedliche Bild hatte ihn mit Glück erfüllt.
Stockend berichtete Jule, dass Sophie den ganzen Morgen bester Laune gewesen sei. Immer wieder habe sie nach dem Baby gesehen, zwischendurch gestillt, woraufhin die Kleine eingeschlafen sei. Ein perfekter Vormittag. Sie habe dann begonnen, hinter der Himbeerhecke Unkraut zu jäten, bis sie plötzlich von einer seltsamen Unruhe befallen worden sei. Sie sei sofort aufgesprungen und zum Kinderbettchen gegangen. Leer. Außer Sophie habe auch die bunte Decke gefehlt.
Der Gedanke an diesen Augenblick schüttelte Jules Körper, als hielte etwas Großes sie an den Schultern gepackt. Das Grauen konnte Gerhard am eigenen Leib spüren. Seit Sophie auf der Welt war, gab es Ängste, die er früher nicht gekannt hatte. Keine Temperaturschwankungen innerhalb einer gemäßigten emotionalen Klimazone, sondern Erschütterungen, die alles mit sich rissen. Er konnte vor sich sehen, wie Jule blind und taub hin und her gerannt war, den Namen ihrer Tochter rufend, nicht klüger als eine Tiermutter, die nach ihrem Jungen schreit. In Jules Erinnerung hatte es eine halbe Ewigkeit gedauert, bis sie in der Lage war, die Umlaufbahn des Kinderbettchens zu verlassen. Immer wieder hatte sie nachgeschaut, ob Sophie nicht doch darin lag. Dass es sich dabei vermutlich nur um Minuten gehandelt hatte, spielte keine Rolle. Blankes Entsetzen wusste nichts von Zeit.
Irgendwann war sie dann doch ums Haus herum gelaufen, um das Telefon zu holen und Gerhard anzurufen oder gleich die Polizei. Sie stolperte um die Ecke – und blieb wie angewurzelt stehen. Unter dem Goldregen vor dem Haus, direkt neben der Bank, auf der sie und Gerhard früher ganze Abende verbracht hatten, saß Sophie auf ihrer sauber ausgebreiteten bunten Decke und schlug mit beiden Händchen lachend auf eine unsichtbare Trommel. Sie hatte sich zum ersten Mal aus eigener Kraft aufgesetzt. Vor Freude über diesen Erfolg strahlte sie wie eine kleine Sonne. Es verging eine halbe Ewigkeit, bis Jule begriff, dass dieses Baby erstens real und zweitens ihre Tochter war.
Gerhard wusste, dass Jule ausrasten würde, wenn er Fragen stellte, aber es ließ sich nicht vermeiden. Die Geschichte, die sie erzählt hatte, war zu seltsam. Er versuchte, seiner Stimme einen möglichst milden Klang zu geben.
Ob es vielleicht so gewesen sein könnte, dass sie selbst Sophie unter den Goldregen gebracht, es dann aber vergessen habe? Ein winziger Blackout, wie er im Gehirn nicht selten vorkomme? So gern sich der menschliche Verstand als unfehlbar betrachte, so unzuverlässig sei er doch in Wahrheit …
Jule sprang vom Sofa und fing wieder an, durchs Zimmer zu streunen. Ihr Lachen zischte wie das Drohgeräusch eines Raubtiers.
»Hältst du mich für geisteskrank? Willst du sagen, dass ich nicht alle Tassen im Schrank habe?«
Gerhard bat sie, sich zu beruhigen. Er versuche nur, sich den Ablauf der Ereignisse genau vorzustellen. Er frage sich, ob es wirklich denkbar sei, dass jemand in den Garten eindringe und die schlafende Sophie unbemerkt aus dem Bettchen nehme, während Jule hinter den Himbeeren hockte.
Sie bedachte ihn mit einem Blick voll abgrundtiefer Verachtung.
»Wegen Kathrins Tochter spielst du den Ritter auf dem weißen Pferd. Und wenn sich jemand an Sophie vergreift, leide ich unter Halluzinationen?«
»Nehmen wir mal an, es war so, wie du sagst.«
»Keine Minute länger rede ich mit dir, wenn du mir nicht glaubst!«
»Ich glaube dir doch, Jule. Das ist eine furchtbar ernste Angelegenheit, verstehst du? Wir müssen uns gemeinsam klarmachen, was vorgefallen ist.«
Sie schwieg.
»Jemand hat also Sophie aus dem Bettchen genommen, um uns einen teuflischen Schrecken einzujagen.«
Sie nickte zögerlich.
»Wer«, fragte Gerhard, »ist das deiner Meinung nach gewesen?«
Jule starrte ihn an wie einen Feind, ihre Augen wirkten entzündet. Der Streit der letzten Tage hatte sich immer wieder um Gombrowski gedreht. Ob er hinter Krönchens Entführung stecke oder nicht. Im Grunde hatte Jule zu den Auseinandersetzungen gar nicht viel beigetragen. Sie machte sich nicht die Mühe, nach Argumenten zu suchen. Sie wiederholte nur, dass Gombrowski kein Entführer sei – und fertig. Gerade dieses irrationale Beharren ließ Gerhard keine Ruhe; er kam immer wieder auf die Fakten zurück, die doch jeden denkenden Menschen überzeugen mussten. Zu Gombrowskis Täterschaft gab es schlicht und ergreifend keine logische Alternative. Abgesehen davon war ein Mann, der einen anderen aus Profitgier umbrachte und einen weiteren schwer verstümmelte, ebenso gut in der Lage, ein kleines Mädchen zu verstecken. Aber Jule hatte nicht nachgegeben. Angesichts ihrer Sturheit hatte Gerhard sich zu fragen begonnen, auf welcher Seite sie eigentlich stand. Konnte es sein, dass Gombrowski es geschafft hatte, sie um den Finger zu wickeln, genau wie Linda Franzen? Hatte er ihr etwas angeboten?
Mit einem Mal flog ihn der Gedanke an, Jule könnte sich die Geschichte mit Sophie nur ausgedacht haben. Sie könnte ihm etwas vorspielen. Um Gombrowski zu helfen, indem sie Gerhard unter Druck setzte. Er legte beide Hände an die Schläfen, als wollte er sich die Paranoia aus dem Gehirn pressen. Es war schrecklich, solche Dinge zu denken. Er fühlte sich vergiftet. In den vergangenen Wochen hatten er und Jule eine Menge durchgemacht, aber der ganze Ärger hatte nicht ihre Beziehung angegriffen. Im Gegenteil hatte er gespürt, wie die Ereignisse sie fester zusammenschweißten. Gerhard verstand nicht, was sich nun änderte und warum. Er hob den Kopf und sah Jule an.
»Wer?«, wiederholte er, ein wenig heftiger als beabsichtigt.
»Wer wohl«, sagte Jule. »Das Tier von nebenan.«
»Du hast mir tagelang erzählt, dass Gombrowski kein Entführer ist.«
»Ich sagte nicht Gombrowski, ich sagte: das Tier von nebenan.«
»Bodo Schaller tut doch nichts auf eigene Rechnung! Der ist nur ein Handlanger von Gombrowski.«
»Das ist mir scheißegal.« Sie begann zu zittern. »Solange das Tier da drüben sitzt …«
Das Zittern wurde so stark, dass Gerhard zu ihr eilte, um zu verhindern, dass sie fiel. Behutsam bugsierte er sie zur Couch zurück, setzte sich neben sie und bemühte sich, sie von der Seite zu umarmen, ohne Sophie in Bedrängnis zu bringen.
»Solange das Tier …« Obwohl sie von einem Weinkrampf geschüttelt wurde, wollte sie den Satz unbedingt zu Ende bringen. »Da drüben …«
»Okay«, sagte Gerhard. »Sch-sch. Hör mir zu.«
Ihren Tränen hatte er nichts entgegenzusetzen. Mitleid ergriff von seinem Körper Besitz wie ein Schwächeanfall. Er wusste jetzt, was sich zwischen ihn und Jule schob, was sie auseinanderdrängte, Misstrauen säte, die Stimmung verdarb. Es war pure Erschöpfung. Sie konnten nicht mehr, alle beide.
»Ich kann machen, dass das aufhört. Möchtest du das?«
»Solange …«
»Ich gebe Gombrowski, was er will. Dann lässt er uns in Ruhe.«
Das Schluchzen hinderte Jule am Sprechen, Gerhard fasste sie fester.
»Es wäre eine schmerzhafte Kapitulation. Ein Verrat an allem, was uns heilig ist. Ein weiteres Mal hätte Gombrowski gewonnen. Mit seinen Einschüchterungen, seinem ganzen Terrorismus.«
Jules Weinen wurde stärker, jetzt begann auch Sophie zu wimmern.
»Nicht«, sagte Gerhard. »Pass auf. Ich gehe kurz an den Rechner und schreibe zwei Mails. Franzen kriegt ihre Baugenehmigung, damit sie das Land an Gombrowski verkauft, und der Naturschutz wird keine Einwände gegen den projektierten Windpark erheben. Dann ist der Zauber in ein paar Tagen vorbei. Gut?«
Das Schluchzen versiegte, auch wenn Jules Schultern noch immer so stark bebten, dass Gerhard kaum wagte, sie loszulassen. Er küsste sie und merkte, dass er alle Kraft zusammennehmen musste für den nächsten Schritt. Schon an der Tür hörte er, wie es Jule endlich gelang, ihren Satz zu vollenden.