»Solange das Tier da drüben sitzt, habe ich kein Zuhause.«
Er lächelte ihr zu, winkte mit kleiner Hand und ging ins Arbeitszimmer, wo er den Computer hochfuhr. Minuten später hatte er im bauordnungsrechtlichen Verfahren gegen Linda Franzen sein Einvernehmen nach § 18 Bundesnaturschutzgesetz erklärt. Als Nächstes machte er sich daran, eine Stellungnahme aufzusetzen, in der er darlegte, dass und warum ein Windpark in der Unterleutner Heide keine Schäden an bestimmten Arten, insbesondere an den Lebensräumen der geschützten Kampfläufer verursachen würde, mithin naturschutzrechtlich unbedenklich sei. Die Größe des Selbstverrats ließ ihn frösteln. Jede Formulierung schnitt er sich wie mit Rasierklingen aus dem Gehirn. »Unter Berücksichtigung aller Umstände … in Abwägung zwischen dem Staatsziel des Artenschutzes und den berechtigten Anliegen der Energiewende … teilt die Naturschutzbehörde nach nochmaliger Prüfung mit …«
Während der Buchstabenwurm auf dem Monitor wuchs, schwor sich Gerhard im Geiste, dass Gombrowski damit nicht durchkommen würde. Weder er noch Bodo Schaller noch die kleine Hexe Linda Franzen.
48 Kron
Er ließ sich Zeit mit dem Aussuchen. In aller Ruhe schritt er den Holzweg ab, der hinter den Gärten der Waldsiedlung verlief. Außer von Forstfahrzeugen wurde der Weg vom Tankwagen der Plausitzer Klärwerke benutzt, weil einige der Sammelgruben nur von der hinteren Grundstücksgrenze zugänglich waren. Mehrmals lief Kron hin und her, wobei er Abstecher in den Forst unternahm, um die Stämme einzelner Kiefern zu streicheln, als müsste er aus einer Herde braven Viehs ein paar Schlachttiere auswählen. Bäume konnten weder weglaufen noch kämpfen. Sie waren dazu verurteilt, zu wachsen und zu sterben, wie es dem Menschen gefiel. Im Grunde widerstrebte es Kron, sein Geld als Waldbesitzer zu verdienen. Der Holzernte wohnte etwas Unfaires inne. Er tötete Wesen, die älter waren als er selbst. Wenn er einen Saumschlag durchführen ließ und die mit Stämmen beladenen Forwarder aus dem Wald kommen sah, befiel ihn stets eine unbestimmte Traurigkeit. Nichts von dem, was er heute in seinen Wäldern pflanzte, würde er aufwachsen sehen.
Am liebsten hätte er sich für ein krankes oder schwächliches Exemplar entschieden, aber die meisten seiner Bäume erfreuten sich bester Gesundheit. Abgesehen davon wurde die Auswahl von den Bedingungen eingeschränkt. Der Baum musste schräg über den Weg fallen. Er durfte nicht zu dicht bei den anderen stehen, damit er im Sturz keinen Nachbarn mitriss. Auch nicht zu weit vorn, weil er sonst die rückwärtigen Zäune der Grundstücke gefährden würde. Schließlich markierte Kron eine hochgewachsene Kiefer mit blauer Kreide. Motorsäge, Helm und Handschuhe lagen bereit.
Statt gleich mit der Arbeit zu beginnen, setzte er sich auf die Erde, den Rücken an sein Opfer gelehnt, und streckte die schmerzenden Beine von sich. Es war sechs Uhr früh, in den Spinnennetzen zwischen den Farnen glänzte der Tau. Die Atmosphäre des frühmorgendlichen Waldes schloss ihn ein, jene besondere Stille, die keine war, sondern ein Konzert aus Geräuschen, die weder von noch für Menschen gemacht waren. Insekten summten, ein Specht klopfte, ein Eichelhäher warnte, irgendwo schlug eine verwirrte Nachtigall. Kron spürte, wie er zum ersten Mal seit Tagen zur Ruhe kam.
Den Wald hatte er schon geliebt, lange bevor er ihm gehörte. Ganz anders als in der Welt der Menschen besaß hier alles einen Sinn. Was existierte, bot einem anderen Wohnung oder Nahrung. Was verging, diente dem Überleben des Nächsten. Sterben bedeutete hier keinen Skandal. Es war nur eine unter vielen Funktionen des Seins. Im Wald gab es Töten ohne Hass, Fortpflanzung ohne Liebe, Kooperation ohne Gesetze, Ernährung ohne Wissenschaft und Lebensfreude ohne Philosophie. Im Wald herrschte eine gelassene Zweckmäßigkeit, der sich Kron mit erleichtertem Aufatmen überließ. Für eine Weile durfte er aufhören, eine Persönlichkeit zu sein und deshalb alles persönlich zu nehmen. Er konnte einfach am Fuß einer Kiefer sitzen und sich ohne jede Anstrengung logisch fühlen.
Dass der Flecken, auf dem er saß, zu seinem Eigentum gehörte, bereitete ihm zusätzliche Befriedigung. Er empfand besondere Sympathie für Käfer und Ameisen, die auf seinem Grund herumkrabbelten. Er liebte die unzähligen Vögel, Hasen, Rehe, Füchse und Hirsche, die alle seine Untermieter waren. Selbstverständlich hätte der Wald über die Idee, im Eigentum eines anderen zu stehen, nur gelacht. Trotzdem bedeutete es Kron etwas, ein Gebiet von der doppelten Ausdehnung Unterleutens zu besitzen. Hinter seiner ständig auf kleiner Flamme brodelnden Wut wohnte ein heimliches Einverständnis mit den Dingen. Niemals hätte er zugegeben, dass er um keinen Preis mit Gombrowski tauschen wollte. Aber die Wahrheit war, dass ihm schon die Vorstellung, Gombrowskis großes Haus zu bewohnen, umgeben von einer verholzten Ehefrau, einer eingeschrumpften Geliebten, einer entlaufenen Tochter und einem sabbernden Hund, den Magen umdrehte. Dagegen erschien ihm sein einsames, spitzgiebeliges Jagdhaus wie ein Stück vom Paradies. Nachts hörte er das Rauschen der Bäume und das Miauen der Eulen und manchmal den Todesschrei eines Beutetiers.
Bäume besaßen keine Vergangenheit. Auch Käfer und Ameisen, Vögel, Hasen oder Rehe hielten sich nicht mit dem auf, was hinter ihnen lag, sondern folgten den Befehlen des jeweiligen Augenblicks. Nur der Mensch wollte das Leben partout als Straße und nicht als Zustand verstanden wissen, weshalb er sich selbst und andere mit Ereignissen quälte, die schon stattgefunden hatten oder noch kommen sollten. Wenn nichts und niemand außer dem Menschen so etwas wie Vergangenheit kannte, lag die Vermutung nahe, dass es sich um eine menschliche Erfindung handelte. Wer Kron für einen Ewiggestrigen hielt, einen Rückwärtsgewandten, der sein Heil im Gewesenen suchte, befand sich im Irrtum. Im Gegenteil war er in der Lage, ein armes Schwein wie Schaller zu beneiden. Auch er hätte statt eines Beines lieber das Gedächtnis verloren. Dann hätte er sich Kathrin gegenüber darauf berufen können, dass er sich an nichts erinnerte.
Gestern Abend war sie gegen sieben im Jagdhaus erschienen, ohne Krönchen, ohne Wäschekorb oder Einkaufstüten. Sie musste gleich nach der Arbeit zu ihm gefahren sein. Äußerlich ruhig, von innen aber wie mit schwelender Glut durchsetzt. Den Most aus eigener Pressung hatte sie abgelehnt. Setzen wollte sie sich auch nicht. Sie kam gleich zur Sache. Vor ein paar Jahren hatte sie schon einmal versucht, ihn wegen des Schicksalstags und Gombrowski zur Rede zu stellen. Damals ohne Erfolg. Kron wusste, wie man Fragen nicht beantwortete, er hatte sein halbes Leben nichts anderes getan. Aber diesmal meinte Kathrin es ernst. Als er ein paar Bemerkungen darüber probierte, dass die Vergangenheit doch ohnehin nichts weiter als eine Erfindung des Menschen sei, wurde sie wütend. Mit großen Schritten lief sie durch die Wohnstube des Jagdhauses und bombardierte ihn mit Fragen, als ginge es um Leben und Tod.
Warum er an jenem Novembertag des Jahres 1991 gemeinsam mit Erik Kessler in den Wald gegangen sei. Ob er sich mit Gombrowski getroffen habe. Wer noch dabei gewesen sei. Ob sie gestritten hätten. Wo Gombrowski sich aufhielt, als der Ast herabstürzte.
Als Kron wissen wollte, warum sie nicht gleich zu Gombrowski gehe, wenn sich 90 Prozent ihrer Fragen um Gombrowski drehten, schrie sie ihn an. Sie habe ein Recht auf die Wahrheit. Denn die Vergangenheit sei dabei, ihre Zukunft zu zersetzen wie ein langsam wirkendes Gift.
Es war typisch für Kathrin, gleich nach einem Schuldigen zu suchen, wenn etwas nicht so lief, wie sie es wünschte, und nach alter Familientradition war Kron an allem schuld. Er konnte es ihr nicht verdenken. Zum einen wurden alle Eltern schuldig an ihrem Nachwuchs, schließlich hatten sie die Kinder ungefragt gezeugt und zur Welt gebracht. Zum anderen hatte er Kathrin die Mutter genommen, indem er es nicht schaffte, attraktiver zu sein als ein Leben im Westen. In alter Gewohnheit war er auch diesmal davon ausgegangen, dass Kathrins Fragen einzig dem Zweck dienten, ihm die Schuld an Krönchens Verschwinden in die Schuhe zu schieben. Alles sollte eine Folge des alten Streits zwischen Kron und Gombrowski sein. Das war Kathrins Logik: Wenn Kron endlich bereit wäre, die ewige Fehde ruhen zu lassen, müssten sie und Krönchen nicht für seine Sturheit büßen.