In diesem Fall aber hatte er keine Lust gehabt, den Sündenbock zu spielen. Selbst wenn es ein geheimes Gesetz gab, nach dem man für die Taten seines schlimmsten Feindes verantwortlich war, lag die Sache anders. Aus einem simplen Grund: Gombrowski war unschuldig. Seit Kron wieder klar denken konnte, wusste er, dass die Entführung eines Kindes nicht zum Stil seines Widersachers passte. Abgesehen davon kannte er seine Enkelin gut genug, um zu ahnen, was passiert war. Das Mädchen hatte sich in Hildes Haus versteckt, um ihren Eltern eins auszuwischen. Eingeschlafen war sie mit Sicherheit nicht. Vielmehr reichte ihr starker Wille mühelos für ein paar Stunden Trotz. Kron konnte das Mädchen vor sich sehen, mit geballten Fäusten im Versteck kauernd und sich an der Vorstellung berauschend, wie Kathrin und Wolfi alle Gemeinheiten bereuten, die sie ihr jemals angetan hatten. Erst als die Kleine schließlich nach Hause zurückkehrte, verstand sie, was sie angerichtet hatte. Sie hatte Angst bekommen und gelogen. Gut möglich, dass die ganze Geschichte Gombrowski zupass kam, aber eingefädelt hatte er sie nicht.
Für Kron selbst machte das wenig Unterschied. Dass er noch in derselben Nacht Gombrowskis Fenster mit Keramikfröschen eingeworfen hatte, stand nicht mit der Frage in Zusammenhang, was Gombrowski tatsächlich getan hatte, sondern nur damit, wonach es aussah. Genauso stellte Gombrowskis anschließender Angriff auf Kron keinen Ausdruck von Hass, sondern von Logik dar. Warum die seltsame Pferdefrau eingegriffen hatte, obwohl sie mit Gombrowski unter einer Decke steckte, wusste Kron nicht; das gehörte zur Welt der Zugezogenen und damit zu den Dingen, die er nicht verstand. Die Behauptung des Dorffunks, es habe sich bei der Rettungsaktion um eine Inszenierung von Seiten Gombrowskis gehandelt, hielt Kron für unwahrscheinlich. Aber da ihm diese Sichtweise nützte, widersprach er nicht.
Letztlich waren die Einzelheiten der Angelegenheit vollkommen gleichgültig. Im Grunde zählte nur eine schlichte Tatsache. Gombrowski würde für Krönchens Verschwinden bezahlen und wusste das. Die Menschen, die das begriffen, waren alt. Die Jüngeren wie Kathrin erhoben Anklage ohne die geringste Ahnung.
Genau das hatte er ihr gesagt. Schon während er sprach, wunderte er sich darüber, dass sie ihn ausreden ließ. Sie hatte den Kopf ein wenig schräg gelegt, als würde sie tatsächlich zuhören. Nur einmal unterbrach sie ihn mit einer Nachfrage:
»Du glaubst also, Gombrowski hat nichts damit zu tun?«
Der fehlende Widerspruch ließ Krons Rede versiegen. Verunsichert schaute er seine Tochter an. Sie legte einen Finger an die Nase, als wollte sie eine Brille hochschieben, die sie gar nicht besaß, und sagte:
»Es ist wichtig für mich, Papa. Ich muss herausfinden, ob das hier noch mein Zuhause ist.«
Da durchfuhr ihn ein kalter Schreck. Plötzlich erkannte er, worum es tatsächlich ging – nämlich um alles. Kathrin befand sich jenseits der Schuldfrage. Sie dachte darüber nach, Unterleuten zu verlassen. Für Kron war diese Vorstellung viele Male schlimmer als der Tod. Nachtschwarz wie ein Abgrund tat sich vor seinem inneren Auge das Dilemma auf. Weil seine Tochter erstmalig in Erwägung zog, den Streit mit Gombrowski nicht nur für ein Hirngespinst zu halten, erschien ihr das Dorf plötzlich als unsicherer Ort. Wenn Gombrowski tatsächlich so schlimm war, wie Kron immer behauptet hatte, wollte sie nicht mehr hier leben. Mit anderen Worten: In dem Augenblick, da Kathrin aufhören würde, ihren Vater für verrückt zu halten, würde er sie verlieren. Fast hätte Kron gelacht. Sollte es doch einen Gott geben, hatte der gewiss helle Freude an dieser Zwickmühle.
Langsam hatte er sich aus seinem Sessel erhoben, noch langsamer war er auf Kathrin zugegangen, um seinem mit zehnfacher Geschwindigkeit arbeitenden Gehirn Zeit zu geben, eine Lösung zu entwickeln. Als er seine Tochter erreicht hatte, war er zu einem Ergebnis gekommen.
»Los«, sagte er, griff nach dem Krückstock und führte Kathrin aus dem Haus.
Sie hatten kaum zehn Minuten zu gehen. Kron verzichtete auf den Umweg über den Plattenweg und wählte die kürzeste Strecke direkt durchs Unterholz, schonte Ameisenhaufen, wich Brombeerbüschen aus, stieg mithilfe des Krückstocks über Fallholz. Es gab kein Gelenk in seinem Körper, das nicht schmerzte. Die Anstrengungen des vergangenen Wochenendes steckten ihm in den alten Knochen. Aber wenn es darauf ankam, einen Wald zu durchqueren, machte niemand der Familie Kron etwas vor. Selbst Krönchen verfügte bereits über die Trittsicherheit einer Gemse.
Der kurze Spaziergang gab ihm Gelegenheit, ein wenig Ordnung in seine Überlegungen zu bringen. Das Ergebnis stand fest: Die Zeit des Schweigens war vorbei. Er würde alles daransetzen, Kathrin und Krönchen in Unterleuten zu halten, und er wusste auch schon, was er dazu brauchte: eine Lüge.
Sie erreichten jene Lichtung, die dafür gesorgt hatte, dass Gombrowski heute in seinem Luxushaus vor dem Flachbildfernseher saß, während Kron mit seiner Tochter im Wald stand – und nicht umgekehrt. Obwohl weiches Gras den Boden bedeckte, so gleichmäßig, als würde es von einem Gärtner gepflegt, fiel Kron das Weitergehen schwer. Vor seinen Füßen verwandelte sich ein trockenes Blatt in einen Laubsänger und flog auf; neben ihm stieß Kathrin einen leisen Schreckenston aus; offensichtlich war sie genauso angespannt wie er. Zwanzig Jahre lang hatte Kron diesen Ort auf seinen Streifzügen gemieden, jetzt lag die Lichtung unschuldig in der Abendsonne. Alles war schmeichelndes Licht, Moosgeruch und Vogelgesang. Kron wusste nicht, worüber er sich wunderte. Vielleicht hatte er heimlich geglaubt, auf der Lichtung tobe bis zum heutigen Tag das infernalische Gewitter. In der Mitte der Grasfläche stand die Buche, noch ein Stück breiter als damals und augenscheinlich völlig unverletzt. Kron kannte die Selbstheilungskräfte der Bäume. Der Wald hatte nichts zu erzählen, und genau dafür liebte er ihn.
Gemeinsam traten sie unter den Baum und legten die Köpfe in den Nacken. Ein Ringeltauben-Pärchen saß auf einem Ast, beugte sich vor und starrte zurück, bis es den Vögeln unheimlich wurde und sie davonflogen.
»Ich sehe nichts«, sagte Kathrin.
»So ist das beim Blick in die Vergangenheit«, sagte Kron.
Bevor sie wieder wütend werden konnte, streckte er den Arm aus und zeigte auf eine Stelle im mittleren Drittel, wo das Blattwerk dichter und die Strukturen ein wenig unklar wirkten.
»Da«, sagte er. »Die Wunde ist vernarbt und überwuchert. Dabei hat der Ast damals ein großes Stück vom Stamm mitgerissen.«
»Gab es eine Untersuchung?«, fragte Kathrin.
»Nachdem die Polizei den Ast gesehen hatte, stellte sie nicht mehr viele Fragen. Fremdeinwirkung ausgeschlossen.«
»Aber Gombrowski.« Kathrin stand jetzt vor ihm. Zu allem Überfluss griff sie nach seinen Händen. Kron spürte, wie sich seine Unterarme verkrampften. Er liebte seine Tochter, aber in körperlicher Nähe hatte er wenig Übung. »Erzähl mir, was passiert ist, Papa. Ich werde dich nicht unterbrechen.«
Kron räusperte sich. Dass er genau wusste, was er erzählen musste, machte die Sache nicht leichter.
»Bitte.« Kathrin klang nicht erbost, nicht einmal ungeduldig. Flehend sah sie ihn an. »Wo stand Gombrowski? Wie kommt es, dass er nicht vom Ast getroffen wurde? Hat er euch angegriffen? Lag Erik vielleicht schon verletzt im Gras, und du hast versucht, ihn zu retten, als der Ast herabstürzte?«
Kron hatte damit gerechnet, dass sie eine Theorie besaß, aber nicht damit, dass ihre These ihn zum Helden machte. Für einen Moment konnte er sehen, was sie sich vorstellte – ein rührendes Bild: Wie er im strömenden Regen verzweifelt versuchte, den verletzten Erik von der Buche wegzuziehen. Wie sich das Gewitter zum Inferno steigerte. Wie Kron trotzdem nicht aufgab, bis der Blitz einschlug und der gewaltige Ast beide unter sich begrub.