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Leider konnte nichts falscher sein als diese Version. In dem Augenblick, als ein ohrenbetäubender Knall die Luft zerriss und ein riesiger Schatten aus der Buche herabstürzte, war Kron gerade dabei gewesen, in besinnnungsloser Wut auf seinen Gegner einzuschlagen. Unzählige Male hatte er sich seitdem gefragt, ob er in seinem Kampfrausch überhaupt mitbekommen hatte, dass Erik unter dem Ast begraben lag. Die Antwort war er sich schuldig geblieben, vielleicht, weil sie zu schrecklich war. Fest stand, dass er nicht den Hauch eines Versuchs unternommen hatte, dem Freund zu helfen.

Trotzdem hatte er sich immer gewünscht, vor seiner Tochter als Held dazustehen. Zwanzig Jahre lang hatte sein Schweigen Platz für jede erdenkliche Legende gelassen; Krückstock und Hinken hatten als stumme Herolde fungiert. Und jetzt, da Kathrin endlich glaubte, was sie stets hatte glauben sollen – jetzt musste er widersprechen. Er brauchte eine Version, die Gombrowski entlastete, auch wenn das bedeutete, sich vor Kathrins Augen endgültig in einen Popanz zu verwandeln.

»Gombrowski hatte dich um ein Gespräch unter vier Augen gebeten. Richtig?«

»Er wollte mir die Kapitulation abkaufen. Ich sollte den Widerstand gegen die LPG-Umwandlung aufgeben und dafür ein Stück Wald bekommen.«

»Deshalb hat er dich hierherbestellt. Um mit dir das angebotene Gebiet abzuschreiten.«

»Mir schien das merkwürdig. Schließlich kam es nicht auf konkrete Flurstücke an. Kein Mensch macht in solchen Fällen eine Waldbegehung.«

»Also hast du Erik mitgenommen. Als Verstärkung.«

Kron nickte. Bis hierher war die Geschichte bekannt. Zuletzt hatte er sie Kathrin vor ein paar Jahren erzählt und wie immer behauptet, sich an alles Weitere nicht zu erinnern. Heute würde er zum ersten Mal die selbstgezogene Grenze überschreiten, wenn auch nicht in Richtung Wahrheit.

»Okay, Papa. Dann kam das Gewitter.« Kathrin hatte seine Hände endlich losgelassen, weil sie die eigenen für ermutigende Gesten brauchte. Ein bisschen kam sich Kron vor wie ein Vieh, das auf den Transporter zum Schlachthof gescheucht werden sollte.

»Es donnerte schon, als wir gegen halb fünf das Dorf verließen«, sagte er. »Der Wind stand massiv aus Osten, mindestens 60 km/h. Während wir in den Wald eindrangen, holte das aufziehende Wetter uns ein. Es wurde dunkel wie in der Nacht.«

»Regnete es?«

»Wie aus Kübeln.«

»Ihr habt Schutz unter dem Baum gesucht«, sagte Kathrin, fasste Kron am Arm und drehte ihn so, dass sie beide mit dem Rücken zum Stamm standen. »Buchen sollst du suchen.«

»Was übrigens völliger Unsinn ist. Selbst wenn man davon ausgeht, dass ein glatter Buchenstamm bei durchgängig feuchter Rinde …«

»Ich weiß, Papa. Ich weiß. Wo ist Gombrowski?«

»Wie bitte?«

»Gombrowski, Papa! Wann kommt er hinzu? Zeig mir die Stelle, an der er steht. Hier, direkt vor uns? Oder weiter drüben, da vorn vielleicht, wo es zum Plattenweg geht?«

Krons Blick wanderte über die Lichtung und direkt in die Vergangenheit. Es ist dunkel und der Regen so stark, dass die Sicht verschwimmt. Im Sturm verneigt sich der Wald nach Westen, als wohne dort ein Wesen, das es um Gnade anzuflehen gilt. Am südlichen Rand der Lichtung tritt eine Gestalt zwischen den Bäumen hervor. Groß, schwer, von einem zeltförmigen Regenmantel verhüllt, auf dem Kopf ein Wachshut mit breiter Krempe, die das Gesicht beschattet.

»Gombrowski kommt nicht«, sagte Kron.

Es dauerte eine Weile, bis Kathrin den Sinn dieser Worte begriff. Kron konnte förmlich sehen, wie sich die Räder in ihrem Kopf widerwillig drehten. Zweifelnd schaute sie ihn an. Dabei hatte er bis jetzt noch gar nicht gelogen. Der Mann unter der Hutkrempe war nicht Gombrowski gewesen.

»Wie meinst du das, er kommt nicht?«

Kron zuckte die Achseln. Gerade rechtzeitig fiel ihm ein, dass es höchste Zeit war, eine schuldbewusste Miene aufzusetzen. Er wandte das Gesicht ab, sah zu Boden und tat so, als untersuche er etwas mit der Stiefelspitze im Gras.

»Vielleicht dachte er, dass unsere Verabredung bei dem Unwetter nicht mehr gilt«, sagte er. »Wer geht schon bei strömendem Regen in den Wald.«

»Ich bin immer noch nicht sicher, ob ich richtig verstanden habe«, sagte Kathrin. »Kam er später?«

»Er ist überhaupt nicht aufgetaucht.« Kron hielt den Blick zu Boden gerichtet. Tatsächlich verspürte er nicht das geringste Bedürfnis, seine Tochter anzusehen.

»Und dann?«, fragte Kathrin.

Dann hatte Kron den Mann unter der Hutkrempe erkannt und begriffen, dass Gombrowski ihnen einen Schläger geschickt hatte. Auf der Lichtung im Wald sollten keine Verhandlungen geführt, sondern Denkzettel erteilt werden. In Kron war eine Wut aufgestiegen, die ihm die Sinne raubte. Seit der Wende und besonders seit der Sache mit der LPG-Umwandlung hatte sich die Stimmung in Unterleuten immer weiter aufgeheizt. Die untergegangene DDR hatte alte Stillhalteabkommen mit in den Abgrund gerissen. Plötzlich standen die Menschen gegeneinander auf. Verratene gegen Verräter. Betrogene gegen Betrüger. Erniedrigte gegen Unterdrücker. An den alten Mustern hatte der Sozialismus nicht das Geringste ändern können. Arbeiter blieben Arbeiter und Landbesitzer blieben Landbesitzer. Kaum zeigte sich die Gelegenheit, entblößte Gombrowski sein Junkergesicht. Dazu passten die klassischen Methoden: Aufmüpfige Leibeigene wie Kron bezogen Prügel. Was da im Regenmantel auf ihn zukam, war nicht nur Gombrowskis schlagkräftigster Handlanger. Es war die personifizierte Ungerechtigkeit.

In ihrer Heftigkeit hatte Krons Wut dem Gewitter an nichts nachgestanden. Er sah nicht, dass Gombrowskis Abgesandter doppelt so schwer war wie er selbst. Er sah die kurze Eisenstange nicht, die aus dem Ärmel des Regenmantels ragte. Er sprang los wie ein Raubtier, das Blut gerochen hat. Die Gnadenlosigkeit seiner Attacke machte den Angreifer zum Opfer. Der schwere Mann ging zu Boden, verfing sich im Regenmantel und wälzte sich, den Kopf mit den Armen schützend, im nassen Gras. Minutenlang behielt Kron die Oberhand. Er ließ nicht ab, als Blitz und Donner in eins zusammenfielen und hinter ihm das Krachen von splitterndem Holz erklang. Was auch immer er wirklich gesehen und gehört hatte – in diesem Augenblick wusste er nichts von Erik und von herabstürzenden Ästen. Er prügelte wie ein Besessener und hatte alles andere um sich herum komplett vergessen.

»Dann haben wir gewartet«, sagte Kron.

»Auf Gombrowski?«

»Das Gewitter war so laut, dass wir schreien mussten, um uns zu verständigen. Ich schrie: Fünf Minuten, dann hauen wir ab. Erik schrie: Alles klar. – Das waren seine letzten Worte.«

Kathrin schwieg, perplex.

»Und dann«, fragte sie noch einmal, zaghafter.

»Dann gab es einen ohrenbetäubenden Knall.«

»Und der Ast stürzte herab?«

Kron nickte und zuckte gleichzeitig die Achseln.

»Ich denke, ich habe sofort das Bewusstsein verloren.«

»Du meinst: Das ist alles?«

Wieder blickte Kron zu Boden und bohrte mit der Fußspitze im Gras.

»Einfach nur ein Unfall?«, fragte Kathrin. »Gombrowski hatte überhaupt nichts damit zu tun?«

Es verging eine nicht unbeträchtliche Menge völlig leerer Zeit.

»Oh, Papa«, sagte Kathrin dann. »Das Dorf denkt seit zwanzig Jahren, dass Erik ermordet wurde und dass man dir das Bein zertrümmert hat. Und dass Gombrowski schuld daran ist.«

»Das habe ich nie behauptet«, sagte Kron leise.

»Du hast alle in dem Glauben gelassen.«

Kron schwieg. Der wichtigste Teil der Lüge bestand darin, an dieser Stelle nicht weiterzusprechen. Nicht davon zu erzählen, wie seine Kräfte nachgelassen hatten. Wie der Riese im nassen Gras die Chance erkannt und sich mühelos aufgerichtet hatte, nahezu unverletzt, Kron abschüttelnd wie eine Fliege. Ein paar gezielte Schläge, und Kron lag hilflos auf dem Rücken, betäubt, aber noch bei Bewusstsein. Er erinnerte sich daran, wie sich sein Angreifer über ihn beugte. Die leicht hängende Unterlippe, der ausdruckslos stierende Blick. Bodo Schaller, der Mann fürs Grobe. Kron sieht, wie er sich aufrichtet und den Arm hebt. Die Eisenstange fährt durch die Luft, einmal, noch einmal, immer wieder. Schmerzen empfindet er nicht. Trotzdem weiß er, dass es sein rechtes Bein ist, das getroffen wird. Sein Gehirn funktioniert einwandfrei. Es denkt: Das Schwein schlägt mich zu Brei. Und: Wo ist Erik?