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Irgendwann wird er durchs Gras geschleift, sein Körper vollkommen gefühllos, das Bewusstsein bereits am Rand zur inneren Nacht. Der heruntergebrochene Ast zeigt die Silhouette eines riesigen schwarzen Insekts. Schaller steigt in das Wirrwarr aus zerbrochenen Zweigen, zerrt Kron mit sich, lässt ihn zu Boden plumpsen und schiebt ein paar Äste über ihn.

Das Letzte, was Kron sieht, ist ein dunkler Körper neben sich, ein nasses Bündel unter den Trümmern der hölzernen Explosion. Er streckt die Hand aus, erreicht einen Ellbogen oder ein Knie. Rüttelt daran. Sagt einen Namen, Erik, mehrmals, und erhält keine Antwort. Dann verliert er das Bewusstsein.

Kron konnte nicht ewig seine Schuhspitze betrachten. Irgendwann musste er den Blick heben, um seiner Tochter ins Gesicht zu sehen. Als es passierte, wünschte er, es nicht getan zu haben. Die Mischung aus Enttäuschung und Entsetzen in ihrer Miene schnitt ihm ins Herz, dass er nach Luft schnappte. Als Vater war er längst beerdigt. Nun starb auch die Hoffnung, in Kathrins Augen als Mensch zu bestehen.

»In all den Jahren«, begann Kathrin, »wenn du mit deiner Krücke herumgefuchtelt hast, um zu zeigen, dass du ein Opfer bist, immer, wenn einer wagte, an dir zu zweifeln – hast du dich da eigentlich nie geschämt? Erik gegenüber?«

An dieser Stelle entfuhr Kron ein Schmerzenslaut, den er in einen Hustenanfall verwandelte. Er wusste nicht, in wie vielen Nächten er sich gefragt hatte, ob er Erik hätte retten können, wenn er sich beherrscht hätte, statt sich wie ein Irrer in einen sinnlosen Zweikampf zu stürzen. Das kaputte Bein war Eriks Mahnmal und Gombrowskis Anklage und als Strafe doch nicht schwerwiegend genug, um Krons Schuld zu tilgen.

Plötzlich lächelte Kathrin. »Der böse Gombrowski ist also eine Erfindung.« Das Lächeln vertiefte sich. Langsam begann die Bedeutung der Geschichte in ihren Verstand einzudringen. »Jetzt weiß ich, warum du so sicher bist, dass er nicht hinter Krönchens Verschwinden steckt. Stimmt’s Papa? Sieh mich an und sag es mir.«

Da musste sich Kron mit dem Ärmel übers Gesicht wischen, um zu verbergen, dass ihm die Tränen kamen. In voller Überzeugung konnte er noch einmal versichern, dass Gombrowski mit Krönchens Verschwinden nichts zu tun hatte. Es gab überhaupt keinen verbrecherischen Gombrowski, sondern nur einen halb verrückten Kron, der jahrelang einen tragischen Unfall benutzt hatte, um sich zum Opfer eines Komplotts zu stilisieren. Für Kathrin war das vielleicht Grund zur Erschütterung, aber kein Grund, Unterleuten zu verlassen. Kron hatte gewonnen. Er hatte sich zum peinlichsten Hanswurst unter der Sonne gemacht, aber im Gegenzug würde er Tochter und Enkelin behalten. Dafür war ihm kein Preis zu hoch.

»Okay, Papa«, sagte Kathrin. »Ich glaube, ich muss jetzt ein bisschen nachdenken. Vielen Dank für deine Ehrlichkeit.«

Mit diesen Worten hatte sie die Lichtung verlassen, auf der Kron allein und erschöpft, aber friedlich zurückgeblieben war.

Seit dem Gespräch mit Kathrin waren zwei Tage vergangen. Sie hatte sich nicht bei ihm gemeldet, was er als gutes Zeichen wertete. Je länger sie keine Lust verspürte, ihn zu sehen, desto sicherer konnte er sein, dass sie ihre Angst vor Gombrowski begraben hatte. Außerdem konnte er auf diese Weise in Ruhe seinen Geschäften nachgehen.

Jetzt war es 6:30 Uhr und Zeit, mit der Arbeit zu beginnen. Kron streckte sich und stand auf, wobei Rücken, Hüfte, Schulter und rechtes Bein schmerzhaft rebellierten. Mit geübten Bewegungen legte er Helm und Handschuhe an und machte die Motorsäge startklar. Er hatte bis halb sieben gewartet, um Kathrin nicht vor der Zeit zu wecken. Jetzt gerade war sie damit beschäftigt, in der Küche das Frühstück für die Familie vorzubereiten. Die Vorstellung, wie ihr nichtsnutziger Ehemann beim Aufheulen der Säge aus dem Bett fallen würde, bereitete Kron Vergnügen. Auch Arnes alarmierte Verwunderung stellte er sich gerne vor. Kathrin würde nur den Kopf heben und sich fragen, ob ein Holzdieb zugange war oder ob ihr Vater einen Schlag durchführte, von dem sie nichts wusste.

Noch einmal schätzte er die leichte Schräglage der Kiefer, die der geplanten Fallrichtung entgegen stand, aber durch den einseitig ausgeprägten Astbewuchs ausgeglichen wurde. Die Rückzugsbahn war frei; mit krummem Wuchs oder unregelmäßigen Wurzelansätzen bekam man es bei Kiefern normalerweise nicht zu tun. Mit einem einzigen geübten Ruck startete Kron die Motorsäge, ging in die Knie und machte sich daran, die Fällkerbe zu setzen. Er tat es mit kühlem Kopf, ohne eine Spur von Hass. Seine einzige Empfindung war ein leichtes Bedauern, von dem er nicht hätte sagen können, ob es sich auf die Kiefer oder auf sein eigenes Leben bezog.

49 Fließ-Weiland

Eine gute halbe Stunde hatte Jule mit Sophie auf der Veranda des Jagdhauses gesessen und gewartet. Als Kron erschien, erhob sie sich und stand wie eine Gastgeberin vor dem Eingang, während der eigentliche Hausherr in der Rolle eines zögernden Besuchers in mehreren Schritten Entfernung verharrte. Er trug eine Motorsäge, einen Gummihammer und ein sauber aufgenommenes Seil unter dem Arm. Auf dem Kopf saß ein Helm, der mit hochgeklappten Ohrenschützern und Schutzbrille überdimensioniert wirkte und ihn aussehen ließ wie ein Astronaut aus einem Zeichentrickfilm.

Sie hatte sich den Vortrag in allen Einzelheiten zurechtgelegt, und sie begann mit dem Ergebnis:

»Ich bin raus. Beim Protest gegen die Windkraftanlagen. Ich mache nicht mehr mit.«

Mit Feigheit, fügte sie schnell hinzu, habe das nichts zu tun. An der Universität sei sie stets die Erste gewesen, die bereit war, unbequeme Meinungen zu äußern und eine gerechte Sache bis ganz nach oben zu verfechten, zum Beispiel als sie beim Streit um die Neubesetzung des Lehrstuhls von Professor Schwan Position gegen den Dekan bezogen habe. Aber hier stehe nicht ihr eigenes Wohl, sondern das ihrer kleinen Tochter auf dem Spiel.

Krons Miene zeigte keinen Hauch von Verständnis. Jule wunderte sich, dass der Dorffunk so schlecht funktionierte, und entschied sich für eine kurze Zusammenfassung der jüngsten Ereignisse. In knappen Sätzen erzählte sie, wie Sophie verschwunden sei, was sich letztlich »nur« als perfides Versteckspiel erwiesen habe – die Anführungszeichen für das »nur« zeichnete sie mit zwei Fingern in die Luft. Den ausgestandenen Schrecken würde sie nie wieder vergessen. Ihr bleibe in einer solchen Situation nichts als Kapitulation.

Kron glotzte immer noch wie ein Schaf. Auch von Sophie nahm er keine Notiz, obwohl Jule das Baby zur Verdeutlichung ihres Berichts bei jeder Erwähnung auf den Armen hüpfen ließ. Da Jule nie sicher gewesen war, ob sich Kron bei vollem Verstand befand, wunderte sie sich nicht über die Abwesenheit von Reaktionen und setzte ihren Vortrag wie geplant fort.

Aus zwei Gründen sei sie heute hierhergekommen. Zum einen wolle sie Kron versichern, dass sie nicht etwa die Seiten gewechselt habe. Sie wolle sich von nun an einfach auf neutralem Terrain bewegen. Bestimmt könne er sich daran erinnern, dass sie in der Nacht von Krönchens Entführung Gombrowski verteidigt habe. Was auch immer Kron darüber denke – sie wolle ganz offen sagen, dass sie nicht bereit sei, es mit ihm zu diskutieren. Ihr Mann mache sie seit Tagen mit der Gombrowski-Frage verrückt, während sie einfach nur auf ihr Recht poche, in keiner Mannschaft mitzuspielen.

Tatsächlich gab Gerhard keine Ruhe. Er litt an dem, was er ihr vorwarf: einer krankhaften Gombrowski-Obsession. Er verhielt sich wie ein Inquisitor, der sie dazu bringen wollte, dem falschen Glauben abzuschwören. Dabei glaubte Jule gar nichts. Vielleicht hatte sie sich in Gombrowski getäuscht, vielleicht war sie im Irrtum gewesen, als sie seine Unschuld beteuerte. Aber was spielte das für eine Rolle? Die Entwicklung der Dinge hing nicht davon ab, was Jule Fließ-Weiland darüber dachte. Fest stand, dass alles, worunter ihre Familie seit Wochen zu leiden hatte, nicht von Gombrowski, sondern von Schaller ausging. Wenn Gerhard kämpfen wollte, dann bitte nicht gegen Windmühlen, sondern gegen das Tier von nebenan. Genau das hatte sie ihm gesagt: Dass es allerhöchste Zeit für ihn werde, sich wie ein Mann zu verhalten und sein Zuhause zu verteidigen. Andernfalls würde Jule über kurz oder lang ihre Sachen packen und das Auto besteigen, um Sophie und sich selbst aus dieser Hölle herauszubringen. Gerhards Augen war anzusehen gewesen, dass ihn diese Ankündigung bis ins Mark erschreckte.