Kron guckte. Er wechselte die Motorsäge unter den anderen Arm und schien zu warten. Jule beschloss, möglichst schnell loszuwerden, was es noch zu sagen gab, und zu verschwinden.
»Außerdem bin ich hier, weil ich es meinem Mann versprochen habe.«
Gerhard machte sich Sorgen, was das Dorf und insbesondere Kron von ihm dachte, weil er die Baugenehmigung für Linda Franzen freigegeben und seine Einwände gegen den Windpark zurückgezogen hatte. Es hatte ihn gewaltige Überwindung gekostet, auf diese Weise gegen alle seine Prinzipien zu verstoßen. Jule wollte in aller Deutlichkeit klarstellen, dass er das nur ihretwegen getan hatte. Sie hatte ihn zum Einlenken gezwungen. Das sollte Kron ruhig jedem erzählen, der es hören wollte. Sie stand zu ihrer Entscheidung. Wenn Kron nun plante, aus Rache gegen sie zu Felde zu ziehen, sollte er das gleich sagen. Sie hoffte nur, dass er Ehrenmann genug war, um bei allem, was noch kam, ihre Tochter zu schonen.
»Schließlich wissen Sie ja selbst, was es bedeutet, ein kleines Mädchen zu lieben.«
Mit diesem Paukenschlag endete die Ansprache. Kron schaute sie an, als könne er sich beim besten Willen nicht zusammenreimen, worum es hier ging. Fast schien es, als sei er nicht einmal sicher, wer Jule war. Sein Blick blieb auf einen rätselhaften Punkt in Jules Gesicht gerichtet, irgendwo zwischen Nase und rechtem Ohr, so dass sie unwillkürlich an die Stelle fasste, als könnte dort etwas Unerwünschtes kleben.
Ob sie ein Glas Apfelwein aus eigener Pressung trinken wolle, fragte Kron.
Als Jule verneinte, ging er an ihr vorbei ins Haus und schloss die Tür.
Auf dem Weg zurück versuchte sie, sich wie ein Mensch zu fühlen, der alles richtig gemacht hatte. Ihr Rücken tat weh. Weil sie Kinderwagen nicht leiden konnte, schleppte sie Sophie noch immer im Tragetuch mit sich herum. Langsam wurde das Baby zu schwer dafür. Um nicht weiter über Kron nachdenken zu müssen – es war gut, ihr Statement abgegeben zu haben, ganz egal, ob Kron sie verstanden hatte –, stellte sie Überlegungen dazu an, was lächerlicher wäre, ein hochbeiniges Retro-Modell mit Speichenrädern oder einer von diesen Plastikpanzern mit Geländebereifung, die für eine Himalaya-Überquerung konstruiert schienen. Bis sie die Autos am Rand des Beutelwegs bemerkte. Zwei Männer in Overalls liefen hin und her. Eine winzige alte Frau rang auf dem Bürgersteig die Hände.
Jules erster Gedanke war: Sie verhaften ihn. Vor ihrem geistigen Auge erstand eine Szene wie aus dem Fernsehen: der bullige Gombrowski, die Arme auf den Rücken gedreht, das Gesicht gesenkt, während ihm ein Uniformierter die Hand auf den Kopf legt und ihn in einen Streifenwagen bugsiert.
Eine Welle gemischter Gefühle überflutete sie. Einerseits spürte sie den Wunsch, loszulaufen und zu rufen: Lasst ihn los, er hat nichts getan. Andererseits empfand sie Genugtuung. Sollte er wirklich das Tier von nebenan angewiesen haben, seine hässlichen Pranken an Sophie zu legen, dann war Gefängnis das Mindeste, was er verdiente.
Gleich darauf sah sie ein, dass es sich bei Gombrowskis Verhaftung nur um ein hitziges Gedankenspiel handelte. Bei Tageslicht betrachtet, war er nicht einmal anwesend. Zwar parkten die Fahrzeuge vor seinem Grundstück; es waren aber keine Polizeiwagen, sondern ein alter Mercedes Kombi in Grau sowie ein Kleintransporter mit vergitterter Hecktür. Die beiden fremden Männer trugen keine Uniformen, sondern blaue Arbeitsanzüge. Einer von ihnen, dünn und langhaarig wie ein Soziologiestudent, hatte eine Stange bei sich, an deren Ende sich eine Lederschlinge befand. Die winzige Alte gebärdete sich wie toll. Einerseits versuchte sie, den Kopf mit den Armen zu schützen, als könnte jeden Augenblick etwas Schweres aus dem blauen Himmel fallen; andererseits war sie bereit, sich auf den zweiten Arbeiter zu stürzen, der, geformt wie eine Birne, gerade mit einer Art Wäschekorb auf den Armen aus dem Haus kam. Nicht aus Gombrowskis großem Haus, sondern aus dem kleinen von Hilde Kessler.
Von Gerhard hatte Jule das eine oder andere über Hilde Kessler gehört, auch wenn sie die Frau noch nie mit eigenen Augen gesehen hatte. Angeblich war Hilde schon zu DDR-Zeiten die Geliebte von Gombrowski gewesen. Als sie schwanger wurde, hatte sie einen Holzarbeiter namens Erik geheiratet, den Gombrowski laut Gerhard später umbringen ließ. Seit Eriks Tod lebte Hilde wie eine Gefangene in dem kleinen Haus neben den Gombrowskis, umgeben von einer Menge Katzen.
Selbst mit gutem Willen war schwer vorstellbar, was ein Mann an einer Frau wie Hilde finden sollte. In früheren Zeiten hätten die Dorfkinder sie als Hexe verschrien, hätten ihr Haus mit Kastanien beworfen und wären kreischend geflohen, wenn sie sich am Fenster zeigte. Auf der Straße wirkte sie dem Untergang preisgegeben. Wie eine Schnecke, die man aus ihrem Haus gerissen hat, um ein grausames Spiel mit ihr zu treiben. Eine Weile hing sie schlaff am Arm des Soziologiestudenten, dann ballte sie plötzlich alle Kraft, rannte im Zickzack über den Bürgersteig, wobei sie fast gegen den Mast der Straßenlaterne geprallt wäre, und hängte sich an den Birnenförmigen, um ihn am Verladen des Wäschekorbs zu hindern.
»Nein!«, rief sie. »Das dürfen Sie nicht!«
»Frau Kessler«, sagte der Birnenförmige. »Wir tun nur unsere Pflicht.«
»Es ist das Beste für die Tiere«, sagte der Soziologe, bemüht, Hilde beiseitezudrängen, um die Hecktür des Kleintransporters zu öffnen.
»Klingeln Sie da drüben!« Hilde zeigte auf Gombrowskis Haus. »Dort wird man Ihnen bestätigen, wie gut es die Kätzchen bei mir haben!«
»Haben wir schon versucht«, sagte der Birnenförmige sanft. »Keiner zu Hause.«
Jule war ein Stück näher gekommen. Durch die Stäbe des Korbs sah sie zwei dunkle Wesen, die rosafarbenen Mäuler in panischem Fauchen aufgesperrt.
»Das sind meine Kinder«, rief Hilde.
Dem Birnenförmigen gelang es, den Korb im Transporter zu verstauen. Der Soziologe schloss die Tür und lehnte sich dagegen.
»Gib mal den Käscher«, sagte der Birnenförmige. »Da sitzen noch mindestens zehn unter der Couch.«
Er nahm die Stange und ging zurück zum Haus. Als Hilde ihm nacheilen wollte, bemerkte sie Jule. Wie ein Derwisch kam sie herangewirbelt und krallte die winzigen Händchen in Jules Unterarm.
»Hilf mir! Sie nehmen mir meine Babys weg!«
Die Alte weinte. Tränen ließen die Wimperntusche in schwarzen Streifen über ihre Wangen laufen, der Lippenstift war verschmiert und hatte die Schneidezähne rot befleckt. Das Flehen der hellblauen Augen in diesem entstellten Gesicht war so unerträglich, dass Jule sich beherrschen musste, um Hilde nicht wegzustoßen.
»Damit es nicht zu Missverständnissen kommt«, sagte der Soziologe und hielt ihr einen Ausweis vom Tierschutzverein Neuruppin unter die Nase, »es gab eine Anzeige gegen Frau Kessler wegen Tierquälerei. Die Katzen befinden sich in erbärmlichem Zustand. Abgemagert, räudig, altersschwach.«
»Weil ich die Ärmsten der Armen bei mir aufnehme!«, rief Hilde. »Ich bekomme sie vom Tierheim in Plausitz! Rufen Sie dort an, man wird das bestätigen!«
»Da drinnen stinkt es«, sagte der Soziologe. »Über zwanzig Katzen eingesperrt in einem Haus, das ist nicht artgerecht.«