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»Es sind zum Tode Verurteilte.« Hilde begann zu schluchzen. »Von schlechten Menschen auf den Müll geworfen. Ich gebe ihnen Namen. Ich füttere sie. Ich streichele sie. Viele werden gesund, die anderen dürfen in Frieden sterben.«

Aus dem Haus erklang Geschrei. Jule wusste, wie Katzen schreien konnten; es klang trotzdem nach geprügelten Kindern. Hilde Kessler stöhnte auf, als wäre es ihr eigener Hals, um den sich die Schlinge legte. Erst wollte sie zum Haus laufen; dann beschloss sie, alle Hoffnung in Jule zu setzen. Ihr Griff um Jules Unterarm verstärkte sich.

»Ich kenne dich. Du bist die Frau vom Vogelschützer. Ihr mögt Tiere. Ihr seid keine schlechten Menschen.«

Jule versuchte, ihren Arm zu befreien, und gab auf, als sich Hildes Fingernägel tiefer in ihr Fleisch bohrten. Sophie begann im Tragetuch zu wimmern.

»Was geschieht mit den Tieren?«, fragte Jule den Soziologen.

Der zuckte die Achseln.

»Sie kommen nach Neuruppin ins Heim. Einen Großteil wird man einschläfern müssen.«

»Nein!« Hilde schrie wie eine Sterbende. »Jeder hier weiß, dass ich gut bin zu meinen Katzen. Sag ihm das, Mädchen, um Gottes willen!«

»Kennen Sie diese Frau?«, fragte der Soziologe.

Mit einem Mal blieb die Zeit stehen. Die gegenwärtige Sekunde dehnte sich zu einem Raum, in dem Seltsames geschah. Zwei Wege wurden ausgerollt, die sich vor Jules Füßen kreuzten. Der eine verlief gerade und wirkte vertraut. Auf einem Wegweiser stand das Wort »Erbarmen«. Der andere führte über eine wacklige Brücke und verlor sich im Nebel. Statt eines Wegweisers gab es eine Tafel, die mit mehreren Fragen beschriftet war: Ist das Gombrowskis Handlangerin, die um das Schicksal ihrer räudigen Katzen weint? Hat sie noch vor wenigen Tagen kaltlächelnd ein Kind eingesperrt, während die Eltern tausend Tode starben? War es vielleicht sogar Hilde und nicht Schaller, die ihr bemaltes Clownsgesicht über Sophies Bettchen gebeugt und die Kleine herausgehoben hat?

Jule kniff die Augen zusammen, um das Bild von der Tafel loszuwerden. Ihre Entscheidung, sich ab jetzt aus allem herauszuhalten, stand unumstößlich fest. Neutralität bedeutete nicht, der Gegenseite zu helfen. Es bedeutete, die Dinge geschehen zu lassen.

Ihr Blick klärte sich. Es war Donnerstag, der 29. Juli 2010, 8:30 Uhr am Morgen. Auch heute würden die Temperaturen wieder über 30 Grad klettern. Seit Tagen dröhnten Gombrowskis Mähdrescher rund um die Uhr über die Felder, um unter Hochdruck die Ernte einzubringen. Bei Nacht sandten die Scheinwerfer der großen Maschinen Lichtduschen ins Schlafzimmer, wenn sie an der Straße wendeten.

»Nein«, sagte Jule. »Zu Frau Kesslers Katzen kann ich keine Auskunft geben.«

Der gerade Weg verschwand. Hilde Kesslers geschminkte Miene zerfiel in tausend Teile.

»Nächste Ladung«, rief der Birnenförmige, während er, mit jeder Hand den Tragegriff eines Metallkäfigs umklammernd, aus dem Haus trat.

Hilde Kessler knickte ein, als wolle sie gleich hier auf dem Bürgersteig zusammenbrechen. Dann aber sah Jule, wie sie nach einem Feldstein griff, der im Rinnstein lag. Sie entwischte dem Soziologen, der ihr aufhelfen wollte, und rannte auf den Birnenförmigen zu. Der ließ die Käfige fallen, kaum dass er die Situation begriff. Die alte Frau war klein, aber der Stein beängstigend groß. Mit unerwarteter Behändigkeit wich der Birnenförmige aus, Hildes Schlag ging ins Leere. Im nächsten Augenblick hatte der Soziologe sie von hinten gepackt und hob sie hoch wie ein tobsüchtiges Kind. Der Stein fiel zu Boden. Hilde schrie, unartikuliert und verzweifelt wie ihre Katzen. Jule spürte, wie sich der Anblick der heulenden Greisin in ihre Erinnerung fraß, unauslöschlich, ein Bild, das in vielen dunklen Momenten zu ihr zurückkehren würde.

»Hol einen Krankenwagen«, rief der Soziologe. »Die Alte hat einen Nervenzusammenbruch. Ich sperr sie ins Badezimmer, damit wir hier fertig machen können.«

Er trug Hilde ins Haus, das Geschrei wurde leiser und verstummte schließlich. Jule lehnte sich gegen Gombrowskis Zaun. Schweiß lief ihr über die Stirn, was um diese Uhrzeit noch nicht von der Hitze herrühren konnte. Der Birnenförmige räumte die beiden Käfige in den Transporter. Als er fertig war, kam er auf Jule zu und trug ein Klemmbrett mit Formularen vor sich her.

»Das ist ein offizielles Verwaltungsverfahren«, sagte er. »Ich möchte Sie bitten, den Vorgang zu bezeugen.«

Ohne lange zu überlegen, trug Jule Namen und Adresse in die vorgesehenen Zeilen ein, unterschrieb das Papier und gab es dem Birnenförmigen zurück, der den Durchschlag abtrennte, faltete und in einen Umschlag schob. Mit einer auffällig voluminösen Zunge leckte er über die Klebekante des Kuverts.

Machtlos sah Jule zu, wie der Umschlag in Hilde Kesslers Briefkasten verschwand, der in den Betonpfeiler des Gartentors eingelassen war. Sie fragte sich, ob sie verrückt geworden war. Das Papier zu unterschreiben, kam einem Selbstmord gleich. Die Wahrscheinlichkeit, dass Gombrowski es zu Gesicht bekommen würde, lag bei annähernd hundert Prozent. Kein Mensch würde ihr glauben, dass sie zufällig vorbeigekommen war und mit der Anzeige von Hilde Kessler nichts zu tun hatte. Hilde würde erzählen, dass sich Jule geweigert hatte, ihr zu helfen. Dass sie auf dem Bürgersteig gestanden hatte, um sich an ihrem Elend zu weiden. Gombrowski würde das als Kampfansage verstehen.

»Sich raushalten?«, hatte Gerhard während einer ihrer Auseinandersetzungen gerufen und gelacht. »Im Krieg gibt es keine Neutralität. Das wirst du noch lernen.«

Eins war gewiss: Schlimmer hätten die Dinge kaum laufen können.

50 Gombrowski, geb. Niehaus

»Tut mir leid«, sagte die Dame vom Plausitzer Taxidienst, »die Postleitzahl 16879 wird von uns nicht bedient.«

Natürlich wusste Elena, dass es in Unterleuten normalerweise keine Taxis gab.

»Ich zahle dem Fahrer zusätzlich die komplette Anfahrt«, schlug sie vor. »Nehmen Ihre Leute auch Hunde mit?«

»Ich schicke einen Kombi«, versprach die Dame. »In einer knappen Stunde.«

Elena fühlte sich ruhig. Erntezeit war die beste Zeit des Jahres. Gombrowski kam mittags nicht nach Hause und blieb bis zum späten Abend in der Ökologica. Für die Taxibestellung hatte sie das Telefon in seinem Arbeitszimmer benutzt, einem Raum, den sie normalerweise nur zum Staubsaugen betrat. Jetzt ging sie gemächlich zum Fenster, stützte die Ellenbogen auf das Kissen, welches seit gestern Morgen auf der Fensterbank lag, und wartete.

Es dauerte 50 Minuten, bis das Taxi vorfuhr. Elena ließ das Kissen an seinem Platz und stellte sich vor, dass auch Gombrowski es nicht wegräumen würde, dass es vielmehr bis in alle Zeiten als persönliches Mahnmal dort liegen würde. Sie lief die Treppe hinunter, kontrollierte den Inhalt ihres Portemonnaies, schulterte die Handtasche und hakte die Leine in Fidis Halsband.

»Das ist aber mal ein Prachtkerl«, sagte der Taxifahrer, als er die Heckklappe öffnete.

»Es ist ein Mädchen«, sagte Elena. »Sie sabbert.«

»Schlimm?«

»Ich gebe Trinkgeld.«

Elena nahm auf der Rückbank Platz und begann, in ihrem Taschenkalender zu blättern, um den Taxifahrer von jeglichen Gesprächsversuchen abzuhalten. Das Büchlein enthielt nicht mehr als Püppis Adresse sowie ein paar Telefonnummern von Doppelkopf-Freundinnen, die Elena seit Jahren auswendig kannte.

Kaum eine Minute später lag Unterleuten hinter ihr. Fast geräuschlos schwebte das Taxi den Anstieg zur Plausitzer Höhe hinauf. Für einen Augenblick meinte Elena, die Schatten riesiger Rotorblätter über die Schiefe Kappe huschen zu sehen. Sie dachte über eine ungewöhnliche Frage nach: Konnte ein Kissen das Leben eines Menschen zerstören?

Die wahrscheinlichste Antwort lautete: Ein Kissen war höchstens in der Lage, ein bereits zerstörtes Leben endgültig über den Rand des Abgrunds zu stoßen. Wäre das Kissen auf der Fensterbank nicht gewesen, säße Elena jetzt nicht im Taxi. Diese Tatsache war simpel und unbestreitbar richtig.

Sie beugte sich vor, sah die Tachonadel auf 120 km/h zeigen und bat den Fahrer, das Tempo zu verringern. Die scharfe Rechtskurve, die aus dem Wald hinausführte, wurde von entgegenkommenden Fahrzeugen gern geschnitten.