»Unglücklicher!« rief Paul, außerstande, sich länger zu halten. »Wenn du dir nur wenigstens darüber Rechenschaft geben wolltest, was du in Rußland mit deiner lächerlichen Phrase behauptest! Das ist doch wahrlich zu stark; es gehört die Geduld eines Engels dazu, all das zu ertragen! Die Kraft! Daran fehlt es auch dem wilden Kalmücken und dem Mongolen nicht; aber wozu kann sie uns dienen? Was uns teuer sein muß, das ist die Zivilisation; ja ja, meine lieben Herren, die Früchte der Zivilisation. Und sagt mir nicht, daß diese Früchte wertlos seien; der schlechteste Schmierer von einem Schildermaler, der elendeste Fiedler, der um fünf Kopeken den ganzen Abend Polkas und Walzer spielt, sind nützlicher als ihr; sie sind doch Repräsentanten der Zivilisation und nicht der plumpen Kraft der Mongolen! Ihr haltet euch für vorgeschrittene Leute, und euer eigentlicher Platz wäre in einer kalmückischen Kibitke. Die Kraft! Bedenkt doch, ihr Herren von der Kraft, daß ihr im ganzen ein Dutzend seid, und daß die andern nach Myriaden, nach Millionen zählen, und daß diese euch nicht erlauben werden, ihren heiligsten Glauben mit Füßen zu treten; sie werden euch zermalmen!«
»Wenn sie uns zermalmen, so müssen wirs uns gefallen lassen,« erwiderte Bazaroff, »allein Sie rechnen falsch. Wir sind viel zahlreicher, als Sie glauben.«
»Wie? Ihr glaubt im Ernst, das ganze Volk zur Vernunft bringen zu können?«
»Sie sollten wissen, daß ein Kreuzerlicht genügte, um die ganze Stadt Moskau in Brand zu stecken,« erwiderte Bazaroff.
»Da haben wirs. Zuerst ein fast fanatischer Hochmut und dann eine geschmacklose Ironie. Damit reißt man die Jugend fort; damit verführt man die unerfahrenen Herzen solcher Jungen. Da ist so einer, der fast in Verzückung vor Ihnen steht! (Arkad wandte sich finster zur Seite.) Und diese Ansteckung hat sich schon weit verbreitet. Man versichert mich, daß unsre Maler in Rom keinen Fuß mehr in den Vatikan setzen; sie heißen Raffael einen Stümper, bloß weil er, wie sie sagen, als Autorität gilt, und doch sind die, die ihn so nennen, das Unvermögen selbst; ihre Phantasie geht nicht über das bekannte ›Junge Mädchen am Brunnen‹ hinaus, sie mögen tun, was sie wollen, sie kommen nicht darüber, und selbst diese Malerei ist abscheulich. Und solche Bursche stehen bei euch in hoher Achtung, nicht wahr?«
»Ich meinesteils«, erwiderte Bazaroff, »gebe nicht einen Groschen für Raffael, und ich denke, die andern sind nicht mehr wert als er.«
»Bravo, bravo, hörst du's, Arkad! So müssen sich die jungen Leute jetzt ausdrücken. Oh, ich verstehe vollkommen, warum sie sich an euch drängen. Sonst fühlten sie die Notwendigkeit, sich zu unterrichten; da es ihnen nicht darum zu tun war, für Ignoranten zu gelten, waren sie gezwungen, zu arbeiten. Jetzt können sie einfach sagen: 's ist ja doch alles einfältiger Plunder auf dieser Welt! Und das Kunststück ist gelungen. Sie haben allen Grund, sich zu freuen. Vormals waren sie bloß Laffen, und nun sind sie im Sturm in Nihilisten verwandelt.«
»Mir scheint, daß Sie das Gefühl persönlicher Würde, wovon Sie so viel Aufhebens machen, vergessen,« erwiderte phlegmatisch Bazaroff, während Entrüstung die Stirne seines Freundes rötete und seine Augen belebte. »Unsere Erörterung hat uns viel zu weit geführt, und ich glaube, wir tun wohl daran, hier abzubrechen. Ich wäre einverstanden mit Ihnen,« fügte er im Aufstehen hinzu, »wenn Sie mir in unserer Gesellschaft eine einzige, auch nur eine Einrichtung bezeichnen können, die nicht verdiente, ganz und erbarmungslos abgeschafft zu werden.«
»Eine Million könnte ich Ihnen nennen, eine Million,« rief Paul. »Da ist z.B. die Gemeinde.«
Ein kaltes Lächeln verzog Bazaroffs Lippen.
»Was die Gemeinde anbelangt,« erwiderte er, »so würden Sie besser tun, darüber mit Ihrem Bruder zu reden. Er muß, denk ich, wissen, was man heutzutage von der Gemeinde, von der Solidarität der Bauern untereinander, von ihrem Mäßigkeitssinne und von vielen andern Scherzen der Art zu halten hat.«
»Und die Familie, die Familie, wie wir sie noch bei unserem Landvolk finden!« rief Paul Petrowitsch.
»Das ist abermals ein Kapitel, worauf Sie nach meiner Meinung besser nicht weiter eingingen. Folgen Sie meinem Rat, Paul Petrowitsch, und lassen Sie sich zwei oder drei Tage Zeit, darüber nachzudenken. Für den Augenblick wird Ihnen nichts einfallen. Nehmen Sie unsere Stände der Reihe nach durch und prüfen Sie genau; indessen werden wir, Arkad und ich...«
»Alles ins Lächerliche ziehen,« fiel Paul Petrowitsch ein.
»Nein, wir werden uns damit beschäftigen, Frösche zu sezieren. Komm, Arkad! Auf Wiedersehen, meine Herren!«
Die beiden Freunde entfernten sich. Paul und sein Bruder blieben allein und schauten sich im ersten Augenblick nur schweigend an.
Dann hob Paul an: »Dahin also ist es mit unserer Jugend gekommen! Das sind unsere Nachfolger!«
»Unsere Nachfolger!« wiederholte Kirsanoff mit einem tiefen Seufzer. Er hatte während des ganzen Streits wie auf Kohlen gesessen und sich damit begnügt, von Zeit zu Zeit einen traurigen Blick auf Arkad zu werfen. – »Weißt du wohl, lieber Bruder, welche Erinnerung das in mir wachruft? Eines Abends stritt ich mich lebhaft mit meiner verstorbenen Mutter; sie schrie und wollte mich nicht hören. Endlich sagte ich zu ihr: ›Sie können mich allerdings nicht verstehen; wir gehören zwei verschiedenen Generationen an.‹ Diese Worte verletzten sie sehr; aber ich sagte mir: ›Was ist da zu machen? Die Pille ist bitter, und doch muß sie verschluckt werden.‹ So kommen auch jetzt unsere Nachfolger zu uns und sagen: Ihr seid nicht von unserer Generation, verschluckt die Pille!«
»Du bist gar zu bescheiden und gutmütig,« antwortete Paul; »ich bin im Gegenteil überzeugt, daß wir viel mehr im Rechte sind als alle diese jungen Herren, wenn auch unsere Sprache vielleicht ein wenig veraltet ist, und wenn wir auch ihre Selbstüberschätzung nicht besitzen... Dabei sind sie so affektiert. Fragt man sie bei Tische: ›Wollen Sie roten oder weißen Wein?‹ so geben sie zur Antwort: ›Es ist Grundsatz bei mir, Rot vorzuziehen,‹ und das mit einer Baßstimme und einer so lächerlich wichtigen Miene, als ob die ganze Welt auf sie blicke...«
»Wünschen Sie keinen Tee mehr?« fragte Fenitschka durch die halbgeöffnete Türe; sie hatte Anstand genommen, während des Streits den Salon zu betreten.
»Nein, du kannst den Samowar wegnehmen,« erwiderte Kirsanoff, stand auf und ging vor ihr hinaus. Paul sagte ihr kurz guten Abend und suchte sein Zimmer auf.
Elftes Kapitel.
Eine halbe Stunde später trat Kirsanoff in den Garten und lenkte seine Schritte nach seinem Lieblingsboskett. Traurige Gedanken bedrängten ihn. Zum ersten Male hatte er die Kluft ermessen, die ihn von seinem Sohne trennte; ihm ahnte, daß sie sich mit jedem Tage erweitern werde. Umsonst also hatte er in Petersburg zwei Winter hindurch ganze Nächte mit der Lektüre der neuen Werke verbracht; umsonst hatte er den Unterhaltungen der jungen Leute aufmerksam gelauscht; der Eifer, mit dem er sich in ihre lebhaften Erörterungen gemischt hatte, war unnütz gewesen. »Mein Bruder behauptet, daß wir recht haben,« dachte er, und, alle Eigenliebe beiseite, scheint mirs selber auch, daß sie der Wahrheit ferner sind als wir. Und doch fühle ich, daß sie etwas haben, was wir nicht haben, eine gewisse Überlegenheit... Ist das die Jugend? Nein, sie ist es nicht allein. Sollte diese Überlegenheit nicht darin bestehen, daß ihnen weniger als uns die Herrengewohnheiten aufgeprägt sind?
»Aber die Poesie verachten?« sprach er bald nachher zu sich, »nichts für die Kunst, nichts für die Natur fühlen?...«
Er blickte ringsumher, als ob er zu begreifen suchte, wie's möglich sei, die Natur nicht zu lieben... Der Tag neigte sich rasch zu Ende. Die Sonne hatte sich hinter einem Espenwäldchen versteckt, das, auf einer halben Werst vom Garten entfernt, einen endlosen Schatten über die stillen Felder warf. Ein Bauer trabte auf einem Schimmel den schmalen Pfad am Waldsaum entlang; obgleich er im Schatten war, zeigte sich doch seine ganze Gestalt deutlich dem Blick, und man konnte sogar einen Flicken auf der Achsel seines Rocks unterscheiden; die Füße des Pferdes bewegten sich mit einer dem Auge wohltuenden Regelmäßigkeit und Zierlichkeit. Die Sonnenstrahlen drangen durch Busch und Baum und färbten die Espenstämme mit einem warmen Ton, der ihnen den Anschein von Tannenstämmen gab, während sich über den bläulichen Blättern der blasse, von der Abenddämmerung leicht gerötete Himmel wölbte. Die Schwalben flogen sehr hoch, der Wind hatte sich fast ganz gelegt; verspätete Bienen summten schwach und halbverschlafen in den Blüten des Fliedergebüsches, und ein Mückenschwarm tanzte über einem einzeln in die Luft ragenden Zweige. »Mein Gott, wie schön!« dachte Kirsanoff, und Verse, die er vor sich hin zu sagen liebte, wollten ihm über die Lippen treten, als er an Arkad und an »Kraft und Stoff« dachte und – schwieg. Doch blieb er sitzen und überließ sich dem süßen, traurigen Genuß einsamen Träumens. Das Landleben hatte ihm Geschmack dafür beigebracht; es war noch nicht lange her, als er wie heute im Hof jenes Wirtshauses saß und seinen Sohn erwartete, aber welch eine Veränderung war seitdem vor sich gegangen! Sein damals noch ungewisses Verhältnis zu Arkad war jetzt bestimmt ausgesprochen... und wie? Das Bild seiner verstorbenen Frau trat ihm vor die Seele, nicht wie er sie in den letzten Jahren gekannt hatte, nicht als die gute, heitere, freundliche Hausfrau, sondern als junges, schlankes Mädchen mit schuldlosem, fragendem Blick, das Haar in dichten Flechten über dem kindlichen Nacken, mit einem Wort so, wie er sie zum ersten Male sah, zu der Zeit, da er die Vorlesungen an der Universität besuchte. Als er ihr auf der Treppe des Hauses, das er damals bewohnte, begegnete, stieß er sie aus Versehen an und entschuldigte sich in seiner Verlegenheit mit den Worten: »Verzeihen Sie, mein Herr!« Sie senkte das Köpfchen, lächelte und fing, wie plötzlich erschreckt, zu laufen an; auf dem Treppenabsatz aber warf sie ihm einen raschen Blick zu, nahm eine ernsthafte Miene an und errötete. Darauf die ersten schüchternen Besuche, die halben Worte und das halbe Lächeln, die Stunden des Zweifels und der Betrübnis, und wieder das Entzücken der Leidenschaft, und endlich die Trunkenheit des Glücks... Was war aus all dem geworden? Wohl war er später in der Ehe so glücklich gewesen wie möglich... »Aber doch«, mußte er sich sagen, »gleicht nichts jenen ersten süßen Augenblicken der Glückseligkeit; ach, warum können sie nicht ewig dauern und nur mit dem Leben erlöschen!«