»Ich danke Ihnen, daß Sie mir Wort halten,« sagte sie; »ich hoffe, Sie werden nicht so bald wieder fortgehen. Sie werden sehen, es lebt sich hier nicht schlecht. Ich werde Sie mit meiner Schwester bekannt machen, sie spielt sehr gut Klavier. Das wird Ihnen nicht sehr gefallen, Herr Bazaroff; aber Sie, Herr Kirsanoff, ich glaube Sie lieben die Musik. Außer meiner Schwester haben wir noch eine alte Tante hier, und einer unserer Nachbarn kommt manchmal zu einer kleinen Spielpartie; wir sind unserer nicht viele, wie Sie sehen. Nun, setzen wir uns, wenns gefällig ist.«
Dieser kleine »Speech« wurde mit vollendeter Leichtigkeit vorgetragen. Frau Odinzoff schien ihn auswendig gelernt zu haben. Sie fing sofort eine Unterhaltung mit Arkad an. Es ergab sich, daß ihre Mutter eine genaue Bekannte von Arkads Mutter gewesen war, und daß diese noch als junges Mädchen sie zur Vertrauten ihrer Liebe zu Nikolaus Petrowitsch gemacht hatte. Arkad sprach mit Begeisterung von seiner Mutter; während er so plauderte, blätterte Bazaroff in einem Album.
»Wie ich zahm geworden bin!« sagte er zu sich selbst.
Ein hübsches Windspiel mit hellblauem Halsband lief in das Zimmer, seine Klauen klappten auf dem Fußboden; gleich darauf erschien ein junges Mädchen von ungefähr achtzehn Jahren, braun, mit dunkeln Augen und schwarzen Haaren; ihr nicht sehr regelmäßiges Gesicht hatte doch etwas Angenehmes, sie hielt ein mit Blumen gefülltes Körbchen in der Hand.
»Das ist meine Katia,« sagte Frau Odinzoff, mit dem Kopf nach ihrer Schwester hinwinkend.
Das junge Mädchen setzte sich leicht an ihre Seite und fing an, die Blumen zu ordnen. Das Windspiel, das Fifi hieß, näherte sich den beiden Gästen nacheinander, wedelte mit dem Schwanz und drückte seine kalte Nase an ihre Hand an.
»Hast du das alles selbst gepflückt?« fragte Frau Odinzoff.
»Ja,« sagte Katia.
»Wird die Tante zum Tee kommen?«
»Sie wird sogleich erscheinen.«
Im Sprechen lächelte Katia mit einem schüchternen, aber offenen Ausdruck des Gesichts, wobei sie mit einer Art anmutiger Herbheit von unten nach oben blickte. Alles an ihr atmete die Frische der Jugend: die Stimme, der leichte Flaum ihres Gesichts, die rosigen Hände, deren innere Fläche mit weißlichen Ringen bedeckt war, und ihre etwas schmalen Schultern. Sie errötete beständig und atmete tief und rasch.
Frau Odinzoff wandte sich zu Bazaroff:
»Es geschieht aus lauter Artigkeit,« sagte sie zu ihm, »wenn Sie das Album ansehen Eugen Wassilitsch! Das kann Sie nicht interessieren. Setzen Sie sich doch zu uns und lassen Sie uns über irgend etwas streiten.«
Bazaroff trat hinzu.
»Sehr gerne, aber worüber wollen Sie streiten?«
»Das gilt mir gleich. Ich sage Ihnen vorher, daß ich den Widerspruch liebe.«
»Sie?«
»Ja. Das scheint Sie zu wundern? Warum das?«
»Weil Sie, soweit ich es beurteilen kann, von kaltem und ruhigem Charakter sind; zum Streiten gehört die Eigenschaft, sich hinreißen zu lassen.«
»Wie haben Sie's gemacht, mich in so kurzer Zeit kennen zu lernen? Sie müssen vor allem wissen, daß ich ungeduldig und hartnäckig bin; fragen Sie nur Katia. Und dann lasse ich mich sehr leicht hinreißen.«
Bazaroff blickte Frau Odinzoff schweigend an.
»Es kann sein,« antwortete er, »Sie müssen es besser wissen als ich. Sie wollen also durchaus streiten? Wohlan. Jetzt eben hab ich in Ihrem Album die Ansichten der Sächsischen Schweiz betrachtet, und Sie haben mir gesagt, daß mich das nicht interessieren könne. Sie sagten dies, weil Sie voraussetzen, daß ich keinen Kunstsinn habe, und Sie täuschen sich nicht; aber diese Ansichten können mich recht gut von einem geologischen Standpunkt aus, vom Standpunkt der Bergformation zum Beispiel, interessieren.«
»Das gebe ich nicht zu; als Geolog müßten Sie eher zu einem Buche Ihre Zuflucht nehmen, zu einem fachwissenschaftlichen Werk, nicht zu Zeichnungen.«
»Eine Zeichnung stellt mir das mit einmal vor die Augen, was zehn Seiten Beschreibung in einem Buche erfordert.«
Frau Odinzoff antwortete nichts.
»Sie haben also keinen Kunstsinn,« hob sie wieder an und lehnte den Arm auf den Tisch, so daß sich ihr Gesicht dem Bazaroffs näherte. »Wie machen Sie's, um denselben missen zu können?«
»Wozu ist er gut, wenn ich fragen darf?«
»Wärs auch nur, um die Menschen studieren zu lernen.«
Bazaroff lächelte.
»Erstens«, fuhr er fort, »erreicht man das durch die Lebenserfahrung, und zweitens muß ich Ihnen sagen, daß ichs durchaus nicht für notwendig halte, jedes Individuum besonders kennen zu lernen. Alle Menschen gleichen sich, ebenso dem Leib als der Seele nach; jeder von uns hat ein Gehirn, ein Herz, eine Milz, Lungen, alles gleich gebaut. Die Eigenschaften, welche man ›moralische‹ nennt, sind ebenfalls identisch bei allen Menschen; sie zeigen nur unbedeutende Unterschiede. Ein einziges Menschenexemplar genügt, um alle andern zu beurteilen. Die Menschen sind wie die Birken des Waldes; keinem Botaniker wird es einfallen, jedes Muster besonders zu studieren.«
Katia, welche ihre Blumen langsam eine nach der andern ordnete, richtete die Augen erstaunt auf Bazaroff, wurde aber, als sie seinem unbefangenen, kühnen Blick begegnete, rot bis über die Ohren. Frau Odinzoff schüttelte den Kopf.
»Die Birken des Waldes!« wiederholte sie; »so ist also Ihrer Ansicht nach kein Unterschied zwischen einem dummen und einem geistreichen Menschen, zwischen Guten und Bösen?«
»O ja! wie zwischen einem gesunden und einem kranken Menschen. Die Lungen eines Schwindsüchtigen sind nicht in dem gleichen Zustande wie bei Ihnen oder bei mir, obgleich ihr Bau der gleiche ist. Die Gründe gewisser physischer Krankheiten kennen wir annähernd; was die moralischen Krankheiten betrifft, so kommen sie von schlechter Erziehung, von all den verschiedenen Dummheiten her, womit man uns die Köpfe vollpfropft, mit einem Wort, von dem unvernünftigen Zustand unseres sozialen Rechts. Reformieren Sie die Gesellschaft, und es gibt keine Krankheiten mehr!«
Bazaroff sprach diese Worte mit einem Ausdruck, als wollte er sagen: glauben Sie mir oder nicht, das ist mir vollkommen gleichgültig. Er fuhr sich mit seinen langen Fingern langsam durch den Bart, und seine Blicke schweiften von einer Seite des Zimmers auf die andere.
»Und Sie glauben,« nahm Frau Odinzoff das Wort, »daß, wenn die Gesellschaft reformiert ist, es weder Dumme noch Böse mehr geben wird?«
»Das ist jedenfalls sicher, daß es, wenn die Gesellschaft einmal vernünftig organisiert ist, vollkommen gleich sein wird, ob ein Mensch dumm oder gescheit, gut oder böse ist.«
»Ja, ich verstehe; sie werden alle die gleiche Milz haben.«
»Ganz richtig, Madame.«
Frau Odinzoff kehrte sich zu Arkad herum.
»Was denken Sie davon?« fragte sie ihn.
»Ich teile Eugens Meinung,« erwiderte dieser.
Katia sah ihn von unten herauf an.
»Sie setzen mich in Erstaunen, meine Herren,« sagte Frau Odinzoff; »aber wir werden auf all das zurückkommen. Ich erwarte meine Tante, die zum Tee kommt, man muß die alten Leute schonen.«
Anna Sergejewnas Tante, die Fürstin N..., eine kleine, hagere Alte mit ganz vertrocknetem Gesicht und strengen, starren Augen, trat ins Zimmer, grüßte die beiden jungen Männer kaum und ließ sich in einem weiten Samtfauteuil nieder, der ausschließlich für sie bestimmt war. Katia setzte ihr eine Fußbank unter die Füße; die Alte dankte nicht einmal mit dem Blick; sie bewegte ein wenig die Hände unter dem gelben Schal, der ihren dürren Leib beinahe ganz bedeckte. Die Fürstin liebte das Gelb; sie hatte auch goldgelbe Bänder auf der Haube.
»Wie hast du geschlafen, Tante?« fragte Frau Odinzoff mit erzwungener Freundlichkeit.