»Dieser Doktor ist ein sonderbarer Mensch!« sagte sie, in ihrem prächtigen Bett auf Spitzenkissen unter einer leichten seidenen Decke liegend. Anna Sergejewna hatte etwas von ihres Vaters Liebe für den Luxus geerbt. Sie hatte ihren Vater sehr lieb gehabt, so lasterhaft er war, und er betete seine Tochter an, scherzte mit ihr wie mit einem Freund, bewies ihr ein grenzenloses Vertrauen und zog sie oft zu Rat. Von ihrer Mutter war ihr bloß eine dunkle Erinnerung geblieben.
»Dieser Doktor ist ein sonderbarer Mensch!« sagte sie sich wiederholt im Gedanken an ihn. Sie streckte sich in ihrem Bette, lächelte, legte den Arm unter den Kopf; dann, nachdem sie zwei oder drei Seiten eines schlechten französischen Romans überflogen hatte, ließ sie das Buch fallen und schlief, weiß, rein und kalt, in ihrem duftenden Bette ein.
Am andern Morgen nach dem Frühstück ging Frau Odinzoff mit Bazaroff botanisieren und kam erst zum Mittagessen wieder; Arkad, der nicht ausgegangen war, hatte fast eine Stunde mit Katia verbracht. Er hatte sich nicht gelangweilt, sie hatte sich erboten, ihm die Sonate vom Tag zuvor zu spielen; als aber endlich Frau Odinzoff zurückkehrte, als er sie wiedersah, zog sich sein Herz unwillkürlich zusammen. Sie kam sichtlich etwas müde den Garten herauf; ihre Wangen waren gerötet und ihre Augen glänzten mehr als gewöhnlich unter ihrem runden Strohhut. Sie drehte den zarten Stiel einer Feldblume zwischen den Fingern; ihre leichte Mantille war von den Schultern auf die Arme geglitten, und die langen Bänder ihres Huts schmiegten sich an ihre Brust. Bazaroff ging festen Schritts, unbefangen wie immer, hinter ihr. Aber der Ausdruck ihres Gesichts, obgleich er heiter und sogar herzlich war, gefiel Arkad nicht.
Bazaroff warf ihm einen »Guten Morgen« zu und ging auf sein Zimmer. Frau Odinzoff drückte ihm zerstreut die Hand und schritt ebenfalls an ihm vorüber.
»Guten Morgen?« dachte Arkad... »haben wir uns denn heute nicht schon gesehen?«
Siebzehntes Kapitel.
Die Zeit, die oft fliegt wie ein Vogel, schleicht ein andermal dahin wie eine Schildkröte; aber sie scheint nie angenehmer, als wenn man nicht weiß, ob sie schnell oder langsam geht. Und gerade so verbrachten Bazaroff und Arkad fast vierzehn Tage bei Frau Odinzoff. Die Ordnung, die sie in ihrem Hause und in ihrer Lebensweise eingeführt hatte, trug ohne Zweifel viel hierzu bei. Sie ihresteils beobachtete dieselbe streng, und wenn es galt, die andern dazu zu bringen, griff sie nötigenfalls zum Despotismus. Alles im Hause hatte seine festgesetzte Stunde. Morgens Punkt acht Uhr versammelte sich die ganze Gesellschaft zum Tee, nachher mochte jedes bis zum Frühstück tun, was ihm beliebte; die Herrin des Hauses erledigte während der Zeit die Geschäfte mit dem Verwalter, Haushofmeister und dem Oberschaffner. Vor Tisch versammelte man sich wieder zum Plaudern und Lesen; der Abend war den Spaziergängen, dem Spiel und der Musik gewidmet; Frau Odinzoff zog sich um zehneinhalb Uhr zurück, gab ihre Befehle für den folgenden Tag und legte sich schlafen. Dies regelmäßige und einigermaßen feierliche Leben behagte Bazaroff nicht sonderlich; er sagte, man meine auf Eisenbahnschienen dahinzurollen. Die Livreebedienten, die majestätischen Haushofmeister verletzten sein demokratisches Bewußtsein. Er war der Ansicht, daß man konsequenterweise auch nach englischer Sitte in Frack und weißer Halsbinde bei Tisch erscheinen müßte. Er erklärte sich eines Tages darüber gegen Anna Sergejewna, die jedem gestattete, seine Meinung offen auszusprechen. Sie ließ ihn ausreden und sagte: »Von Ihrem Standpunkte aus ist es wahr, daß ich ein wenig die Schloßherrin spiele. Allein auf dem Lande ist es unmöglich, ohne Ordnung zu leben; man würde rettungslos der Langeweile verfallen«. Sie fuhr nach ihrer Art fort; Bazaroff brummte, aber gerade deshalb, weil das Leben »wie auf Eisenbahnschienen« rollte, schien es ihm und Arkad so angenehm. Übrigens war seit ihrer Ankunft eine bemerkenswerte Änderung mit ihnen vorgegangen. Bazaroff, den Frau Odinzoff sichtlich bevorzugte, obgleich sie selten seiner Meinung war, zeigte nachgerade eine an ihm ungewohnte Aufregung; er brauste leicht auf, sprach ungern, sah oft verdrießlich aus und konnte nirgends ruhig bleiben, als ob ihn fortwährend etwas umhertrieb. Arkad seinerseits, der sich sofort gesagt hatte, daß er in Frau Odinzoff verliebt sei, überließ sich ohne weiteres einer stillen Schwermut, die ihn durchaus nicht hinderte, sich Katia zu nähern, sondern ihn einigermaßen mit dazu bestimmte. »Sie schätzt mich nicht! Nun wohl!... aber hier ist ein gutes Geschöpf, das mich nicht von sich stößt,« sagte er zu sich, und sein Herz genoß aufs neue das süße Glück, sich edelmütig zu fühlen, wie er es gegen seinen Vater gewesen war. Katia ahnte dunkel, daß er einigen Trost in ihrem Umgang suchte; sie versagte ihm die wohltuende Befriedigung nicht, welche eine schüchterne und doch vertrauende Freundschaft gewährt, und gab sich selber diesem Gefühl hin. Sie sprachen in Gegenwart der Frau Odinzoff nicht miteinander. Katia wich dem hellsehenden Blick ihrer Schwester gewissermaßen aus, und Arkad konnte, wie's einem Liebenden wohl ansteht, in Gegenwart seiner Flamme für irgend etwas anderes auch nicht die mindeste Aufmerksamkeit haben; behaglich fühlte er sich aber nur in Katias Gesellschaft. Er war so bescheiden, sich nicht für würdig zu halten, Frau Odinzoff zu beschäftigen; er kam aus der Fassung, wenn er mit ihr allein war, und wußte ihr nichts zu sagen; Arkad war zu jung für sie. Bei Katia dagegen fühlte er sich ganz behaglich; er behandelte sie mit Nachsicht, wehrte ihr nicht, ihm die Eindrücke mitzuteilen, welche Musik, Romane, Gedichte und andere »Albernheiten« auf sie machten, ohne zu bemerken oder sich gestehen zu wollen, daß diese »Albernheiten« ihn selber auch beschäftigten. Katia ihrerseits wehrte ihm nicht, den Melancholischen zu spielen. Arkad war es in Katias, Frau Odinzoff in Bazaroffs Gesellschaft wohl... und deshalb trennten sich, wenn alle vier zusammentrafen, die beiden Paare gewöhnlich nach wenigen Augenblicken wieder, und jedes ging, besonders auf den Spaziergängen, seiner Wege. Katia betete die Natur an, und Arkad liebte sie auch, obgleich ers nicht zu gestehen wagte; Frau Odinzoff war ziemlich gleichgültig dagegen, ganz so wie Bazaroff. Dies fast beständige Getrenntsein der beiden Freunde hatte zur Folge, daß ihr Verhältnis etwas von der früheren Innigkeit verlor. Bazaroff sprach mit Arkad nicht mehr von Frau Odinzoff und kritisierte sogar ihre »aristokratischen Manieren« nicht mehr; er fuhr fort, Katia zu loben, und riet Arkad nur, die sentimentale Richtung, die er an ihr bemerkte, etwas zu mäßigen; aber sein Lob war kurz, sein Rat etwas trocken; er unterhielt sich mit Arkad viel seltener als ehedem... er vermied ihn sogar; es schien fast, als schäme er sich vor ihm... Arkad bemerkte das alles ganz wohl; er vertraute es aber niemand.
Der wahre Grund dieser ganzen Veränderung war das Gefühl, welches Frau Odinzoff Bazaroff eingeflößt hatte, ein Gefühl, das ihn quälte und rasend machte, wogegen er sich aber mit verächtlichem Lächeln und zynischen Schimpfworten verwahrt haben würde, wenn sichs jemand hätte beikommen lassen, auch nur von ferne darauf anzuspielen. Bazaroff liebte die Weiber und wußte die Schönheit zu schätzen, aber er erklärte die ideale oder, wie ers hieß, romantische Liebe für eine unverzeihliche Narrheit, für eine Dummheit, und stellte die ritterlichen Gefühle mit physischen Krankheiten und Mißbildungen so ziemlich auf eine Stufe. Oft drückte er sein Erstaunen darüber aus, daß man den Ritter Toggenburg samt allen Minnesängern und Troubadours nicht ins Narrenhaus gesperrt habe... »Behagt euch ein Weib,« sagte er, »so sucht zu eurem Zweck zu kommen; weist sie euch ab, so lasset sie in Frieden und wendet euch woanders hin; die Erde ist groß genug.« Frau Odinzoff gefiel ihm; die Gerüchte, die über sie umliefen, ihr freies und unabhängiges Wesen, das Wohlwollen, das sie ihm bezeigte, alles schien wie gemacht, ihn zu ermutigen; aber er merkte bald, daß er mit ihr nicht zum Ziele komme, und doch fühlte er zu seinem großen Erstaunen nicht den Mut, sich woanders hinzuwenden. Sobald er an sie dachte, wallte sein Blut; er wäre leicht mit seinem Blut fertig geworden, aber er empfand noch etwas anderes, was er nie zugegeben, etwas, worüber er sich stets lustig gemacht hatte und was seinen Stolz empörte. In seinen Unterhaltungen mit Frau Odinzoff legte er stärker als je seine Verachtung und Geringschätzung für jede Art von Romantik an den Tag, und wenn er mit sich allein war, erkannte er mit finsterm Unmut, daß sich die Romantik seiner selbst bemächtigt hatte. Er floh in die Wälder, durchlief sie im Sturmschritt, brach die Zweige, die ihm in den Weg kamen, und murmelte Verwünschungen über sich und über sie; ein andermal legte er sich in einen Heuschober, schloß die Augen mit Gewalt und versuchte, sich zum Schlafen zu zwingen, was ihm natürlich nicht immer gelang. Er durfte sich nur vorstellen, daß diese keuschen Arme eines Tages seinen Hals umschlingen, diese stolzen Lippen seine Küsse erwidern, diese intelligenten Augen mit Zärtlichkeit, ja mit Zärtlichkeit auf den seinen ruhen würden... so fühlte er sich vom Schwindel ergriffen, und er vergaß sich einen Augenblick, bis der Unmut von neuem in seinem ganzen Wesen ausbrach.