»Leicht? nein, wenn man kalt überlegt, wenn man berechnet, auswählt und sich selber hoch anschlägt; aber es ist sehr leicht, sich ohne Überlegung hinzugeben.«
»Warum sollte man sich nicht ein wenig hoch anschlagen? Wenn man nichts wert ist, wozu sich geben?«
»Das ist nicht die Sache dessen, der sich gibt, der andere muß schätzen, was man wert ist. Das Wesentliche ist, daß man sich zu geben weiß.«
Madame Odinzoff zuckte ein wenig mit den Achseln.
»Sie sprechen ganz, wie wenn Sie all das an sich selber erfahren hätten,« sagte sie zu Bazaroff.
»Reiner Zufall, Anna Sergejewna; denn derartige Angelegenheiten schlagen, wie Sie wissen, nicht in mein Fach.«
»Aber Sie verstünden, sich zu geben?«
»Ich weiß das nicht; ich will mich nicht rühmen.«
Frau Odinzoff antwortete nicht, und Bazaroff schwieg. Die Töne des Klaviers trafen ihr Ohr.
»Wie spät Katia heut abend noch spielt,« sagte Frau Odinzoff.
Bazaroff erhob sich.
»Es ist in der Tat sehr spät; Sie sollten schlafen gehen.«
»Warten Sie, warum so eilen... Ich habe Ihnen noch ein Wort zu sagen.«
»Welches Wort?«
»Warten Sie,« wiederholte Frau Odinzoff halblaut, und ihre Augen ruhten auf Bazaroff. Sie schien ihn aufmerksam zu prüfen.
Bazaroff machte einige Schritte durchs Zimmer, dann näherte er sich plötzlich Frau Odinzoff, sagte rauh zu ihr: »Adieu!« und verließ das Zimmer, indem er ihr die Hand drückte, daß sie fast geschrien hätte. Sie führte ihre noch aneinandergepreßten Finger zum Munde und blies darauf; dann erhob sie sich plötzlich und ging rasch nach der Türe, als ob sie Bazaroff zurückrufen wollte. Eine Kammerfrau trat mit einer Flasche auf silberner Platte ins Zimmer. Frau Odinzoff blieb stehen, hieß sie gehen, warf sich wieder in den Sessel und versank von neuem in Nachdenken. Eine Flechte ihres Haares löste sich und rollte sich wie eine schwarze Schlange über ihre Schulter.
Die Lampe brannte noch lange im Salon, und Frau Odinzoff blieb immer unbeweglich; zuweilen nur fuhr sie über die nackten Arme, da sie die frische Nachtluft zu fühlen begann.
Fast zwei Stunden später kam Bazaroff auf sein Zimmer, mit wildem Blick, die Haare in Unordnung, die Stiefel feucht vom Tau. Arkad saß noch an seinem Tische, ein Buch in der Hand und den Rock bis ans Kinn zugeknöpft.
»Du schläfst noch nicht?« fragte Bazaroff fast ärgerlich.
»Du bist diesen Abend sehr lange bei Frau Odinzoff geblieben,« antwortete Arkad, ohne auf die Frage zu antworten.
»Ja, ich bin so lange geblieben, als du mit Katharina Sergejewna Klavier gespielt hast.«
»Ich habe nicht gespielt,« erwiderte Arkad und sagte nichts weiter. Er fühlte, daß seine Augen feucht wurden, und er wollte vor seinem Freund, dessen spöttische Launen er fürchtete, nicht weinen.
Achtzehntes Kapitel.
Am andern Morgen, als Frau Odinzoff zum Tee kam, saß Bazaroff lange über seine Tasse geneigt da; dann plötzlich heftete er die Augen auf sie... sie wandte sich gegen ihn, als ob er sie gestoßen hätte, und er glaubte zu bemerken, daß sie noch bleicher sei als tags zuvor. Er ging bald auf sein Zimmer zurück und zeigte sich erst wieder beim Frühstück. Der Vormittag war regnerisch. Die ganze Gesellschaft war im Salon beisammen. Arkad nahm die neueste Nummer einer Revue und las laut vor. Die Fürstin, nach ihrer Gewohnheit, schien darüber erst höchlich erstaunt, als ob er etwas sehr Unschickliches begangen hätte; dann maß sie ihn mit bösen Blicken, was er aber nicht beachtete.
»Eugen Wassilitsch,« sagte Frau Odinzoff, »kommen Sie auf mein Zimmer... Ich möchte Sie fragen... Sie haben mir gestern den Titel eines Werkes genannt...«
Sie erhob sich und ging nach der Türe. Die Fürstin blickte rund umher, und in ihrem Gesicht stand deutlich geschrieben: »Seht, seht, wie ich darüber erstaune!« Sie blickte Arkad wiederholt an, aber er wechselte einen raschen Blick mit Katia, die neben ihm saß, und las mit erhobener Stimme weiter. Frau Odinzoff ging raschen Schrittes nach ihrem Zimmer. Bazaroff folgte ihr, ohne die Augen aufzuschlagen, und hörte das leichte Rauschen der seidenen Robe, die vor ihm hinglitt. Anna Sergejewna setzte sich in denselben Sessel wie tags zuvor, und Bazaroff nahm auch den gleichen Platz wieder ein.
»Wie nannten Sie das Buch?...« sagte sie nach einem Augenblicke Schweigen.
»Pelouse und Fremy, Anfangsgründe,« antwortete Bazaroff. »Übrigens kann ich Ihnen auch noch Ganots ›Handbuch der Experimentalphysik‹ empfehlen; die Zeichnungen sind detaillierter, und das Buch ist im ganzen...«
»Entschuldigen Sie, Eugen Wassilitsch,« sagte Frau Odinzoff und streckte die Hand aus; »ich habe Sie nicht hierher eingeladen, um über Handbücher zu reden. Ich möchte unsere Unterredung wieder aufnehmen. Sie haben mich so rasch verlassen... es wird Ihnen doch nicht langweilig sein?«
»Ich stehe zu Dienst... aber wovon sprachen wir doch gestern abend?«
Frau Odinzoff sah Bazaroff ein wenig von unten herauf an.
»Ich glaube,« sagte sie, »wir sprachen vom Glück. Ich unterhielt Sie von mir. Aber weil ich eben das Wort Glück gebraucht habe, muß ich Ihnen eine Frage vorlegen. Warum, selbst wenn wir z.B. den Genuß einer Musik, eines schönen Abends, einer Unterhaltung mit irgend jemand, der uns sympathisch ist, gehabt haben, warum scheint uns dieser Genuß vielmehr eine Andeutung irgendeines unbekannten Glücks, das sich irgendwo findet, als ein wirkliches Glück, ein Glück, das wir selber genießen? Antworten Sie mir... aber möglicherweise haben Sie ein ähnliches Gefühl noch gar nicht gehabt.«
»Sie kennen das Sprichwort: ›Uns ist es nur da wohl, wo wir nicht sind‹,« antwortete Bazaroff; »übrigens haben Sie mir gestern selbst gesagt, daß Sie sich unbefriedigt fühlen. Auch ist es sehr wahr, daß mir dergleichen Gedanken nie in den Sinn kommen.«
»Sie erscheinen Ihnen vielleicht lächerlich?«
»Das nicht, aber sie sind mir nie in den Kopf gekommen.«
»Wirklich? ich möchte wohl wissen, an was Sie denken?«
»Wieso? ich verstehe Sie nicht.«
»Hören Sie; längst schon wünschte ich, mich mit Ihnen auszusprechen. Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, daß Sie kein gewöhnlicher Mensch sind, Sie wissen es sehr gut. In Ihrem Alter hat man noch einen langen Weg vor sich. Auf was bereiten Sie sich vor? welche Zukunft erwartet Sie? auf welches Ziel steuern Sie los? wohin gehen Sie? was haben Sie auf dem Herzen? mit einem Wort, wer sind Sie, und was sind Sie?«
»Sie setzen mich in Erstaunen, Madame, Sie wissen ja, daß ich mich mit den Naturwissenschaften beschäftige; und was meine Person betrifft...«
»Ja, wer sind Sie?«
»Ich habe bereits die Ehre gehabt, Ihnen zu sagen, daß ich ein künftiger Distriktsarzt bin.«
Frau Odinzoff machte ein Zeichen von Ungeduld.
»Warum sprechen Sie so mit mir?« sagte sie; »Sie glauben selber nicht an das, was Sie sagen. Arkad hätte mir so antworten können, aber Sie?«
»Aber worin ist Arkad...«
»Gehen Sie doch; ist es möglich, daß ein so bescheidener Wirkungskreis Sie befriedigen kann? Gestehen Sie nicht selber, daß Sie nicht an die Medizin glauben? Ein Distriktsarzt? Sie! mit Ihrem Selbstgefühl! Sie antworten mir nur so, um meiner Frage auszuweichen. Ich flöße Ihnen kein Vertrauen ein, doch, Eugen Wassilitsch, darf ich Sie versichern, daß ich Sie zu verstehen vermocht hätte; ich war selber arm und voll Selbstgefühl wie Sie; ich habe vielleicht dieselben Prüfungen durchgemacht wie Sie.«
»Das alles ist sehr schön, Anna Sergejewna, aber Sie müssen entschuldigen... ich bin nicht gewöhnt, andern mein Herz zu erschließen, und zudem ist zwischen uns beiden eine solche Kluft...«
»Gehen Sie! wollen Sie mir noch einmal sagen, daß ich eine Aristokratin bin! Ich glaube Ihnen bewiesen zu haben...«