»Habe ich Ihren Fuß nicht zu fest verbunden?« fragte endlich Bazaroff.
»Nein, durchaus nicht! Alles ist ganz gut,« erwiderte Paul, und wenige Augenblicke darauf setzte er hinzu: »Es wird nicht möglich sein, meinen Bruder zu täuschen; ich werde ihm erzählen, daß wir über eine politische Frage Streit bekommen haben.«
»Ganz recht!« antwortete Bazaroff. »Sie können sagen, daß ich in Ihrer Gegenwart alle Anglomanen angegriffen habe.«
»Richtig! Apropos, was glauben Sie, daß dieser Mann von uns denkt?« fuhr Paul fort, indem er mit der Hand auf denselben Bauer deutete, welcher kurz vor dem Duell, seine Pferde treibend, an Bazaroff vorübergegangen war, und der diesmal, als er die Herren bemerkte, das Haupt entblößte und von der Straße bog.
»Wer weiß es,« antwortete Bazaroff, »wahrscheinlich nichts. Der russische Bauer gleicht ganz dem geheimnisvollen Unbekannten, von dem so viel in den Romanen der Anna Ratcliffe die Rede ist. Wer kennt ihn? er kennt sich selber nicht.«
»Ah, Sie glauben?« erwiderte Paul; plötzlich aber rief er aus: »Sehen Sie die Dummheit Ihres Peter! Da kommt mein Bruder selbst mit.«
Bazaroff wandte sich um und gewahrte das bleiche Gesicht Kirsanoffs, der in der Droschke saß. Er sprang heraus, ehe der Kutscher hielt, und lief auf seinen Bruder zu.
»Was bedeutet das?« fragte er mit bewegter Stimme; »Eugen Wassiliewitsch, wie ist es möglich?«
»Es ist gar nichts,« antwortete Paul, »es war unrecht, dich zu stören. Wir haben einer augenblicklichen Aufwallung nachgegeben, Herr Bazaroff und ich; ich wurde ein wenig dafür gestraft, das ist das Ganze.«
»Aber aus welcher Veranlassung, großer Gott?«
»Wie soll ich dirs erklären? Herr Bazaroff hat sich in meiner Gegenwart in unziemlicher Weise über Sir Robert Peel ausgedrückt. Ich muß jedoch gleich hinzufügen, daß ich allein an allem schuld bin, und daß sich Herr Bazaroff höchst ehrenhaft betragen hat. Ich habe ihn provoziert.«
»Ich sehe Blut?«
»Dachtest du denn, ich hätte Wasser in den Adern? Ich versichere dich, daß mir dieser kleine Aderlaß sehr gut tun wird. Nicht wahr, Doktor? Hilf mir in die Droschke steigen, und überlaß dich keinen trüben Gedanken. Morgen bin ich wieder ganz wohl. So, es könnte mir gar nicht besser zumut sein. Fort, Kutscher!«
Kirsanoff folgte der Droschke zu Fuß, Bazaroff war zurückgeblieben.
»Ich muß Sie bitten, meinen Bruder in Behandlung zu nehmen,« sagte Kirsanoff zu ihm, »bis man einen Arzt aus der Stadt geholt hat.«
Bazaroff verneigte sich schweigend.
Eine Stunde darauf lag Paul in seinem Bett, und ein kunstgerechter Verband umhüllte sein Bein. Das ganze Haus war in Aufregung; Fenitschka war unwohl geworden. Kirsanoff rang in der Stille die Hände, und Paul lachte und scherzte, besonders mit Bazaroff. Er hatte ein Batisthemd und eine elegante Morgenjacke angelegt und ein Fes aufgesetzt; er verlangte, daß man die Vorhänge nicht herunterlasse, und beschwerte sich scherzend über die Diät, zu der er sich verdammt sähe.
Gegen Abend stellte sich jedoch ein leichtes Fieber ein, und er bekam Kopfschmerzen. Ein Arzt aus der Stadt erschien. Kirsanoff hatte den Wunsch seines Bruders nicht beachtet, und Bazaroff selbst hatte verlangt, daß man einen Kollegen rufe. Bis zu dessen Ankunft hatte er sich fast beständig in seinem Zimmer gehalten; er sah gereizt und gelb aus und beschränkte sich darauf, dem Verwundeten kurze Besuche abzustatten. Zwei- oder dreimal begegnete er Fenitschka, die ihm mit einem gewissen Schrecken auswich. Der neue Doktor verordnete kühle Getränke und bestätigte die Ansicht Bazaroffs, daß die Wunde wenig zu bedeuten habe. Kirsanoff sagte ihm, daß sein Bruder sich aus Unvorsichtigkeit selbst verwundet habe, worauf der Doktor mit einem »Hm« antwortete, da er aber im gleichen Augenblick einen Fünfundzwanzigrubelschein in seine Hand gleiten fühlte, fügte er hinzu: »In der Tat! Das ist ein Fall, der sehr häufig vorkommt.« Im ganzen Haus war niemand, der sich zu Bett legte oder die Augen schloß.
Kirsanoff schlich jeden Augenblick auf den Zehen in das Zimmer seines Bruders und verließ es ebenso wieder. Der Verwundete schlummerte auf Augenblicke ein, stieß leise Seufzer aus, sagte seinem Bruder: »Geh doch zu Bett«, und verlangte zu trinken. Kirsanoff hieß Fenitschka einmal ihm ein Glas Limonade reichen; Paul sah sie fest an und trank das Glas bis zum letzten Tropfen aus. Das Fieber nahm gegen Morgen zu, und der Verwundete delirierte ein wenig. Er sprach in unzusammenhängenden Worten, dann öffnete er plötzlich die Augen, und als er seinen Bruder erblickte, der sich am Bett stehend über ihn beugte und ihn sorgenvoll betrachtete, sagte er zu ihm:
»Nicht wahr, Nikolaus, Fenitschka hat etwas von Nelly?«
»Welche Nelly meinst du, Paul?«
»Wie kannst du fragen! Die Fürstin R...! Namentlich im oberen Teil des Gesichts. C'est de la même famille.«
Kirsanoff antwortete nichts und verwunderte sich über die Zähigkeit der Gefühle des menschlichen Herzens. »Wie so was doch immer wieder an die Oberfläche dringt,« dachte er.
»Ach, wie lieb ich dieses Geschöpf... dies unbedeutende!« rief Paul mit schmerzlichem Ton aus und legte den Arm unter den Kopf. – »Ich werde nie dulden, daß ein Unverschämter sie zu berühren sich erlaube...« murmelte er kurz darauf.
Kirsanoff seufzte; er hatte keine Ahnung, auf wen sich diese Worte bezogen.
Am andern Morgen erschien Bazaroff gegen acht Uhr bei ihm, er hatte inzwischen seine Effekten gepackt und alle seine Frösche, Vögel und Insekten in Freiheit gesetzt.
»Sie kommen, mir Lebewohl zu sagen,« sagte Kirsanoff aufstehend.
»Mein Gott, ja!«
»Ich verstehe Sie und gebe Ihnen vollkommen recht. Mein armer Bruder hat ohne Zweifel unrecht gehabt, auch ist er dafür gestraft. Ich weiß es von ihm selber, daß er Sie in die Unmöglichkeit versetzt hatte, anders zu handeln, als Sie taten. Ich glaube, daß es Ihnen sehr schwer geworden wäre, dies Duell zu vermeiden, welches... welches sich bis zu einem gewissen Grad aus dem beständigen Widerstreit Ihrer gegenseitigen Ansichten erklärt. (Nikolaus Petrowitsch verwirrte sich in seinen Worten und atmete schwer.) Mein Bruder ist reizbarer Natur, eigensinnig den alten Ideen zugetan... Ich danke Gott, daß alles so ohne weitere Folgen abgelaufen ist; übrigens habe ich alle Vorkehrungen getroffen, daß die Sache nicht ruchbar wird...«
»Ich werde Ihnen meine Adresse hinterlassen, und falls man aus alledem eine Geschichte machen wollte, können Sie mich immer wiederfinden,« warf Bazaroff hin.
»Hoffentlich ist dieser Vorsicht unnötig, Eugen Wassilitsch... Ich bedaure sehr, daß Ihr Aufenthalt in unserem Hause ein... derartiges Ende genommen hat. Das bekümmert mich um so mehr, als Arkad...«
»Vermutlich werde ich ihn wiedersehen,« erwiderte Bazaroff, den jede Art von »Auseinandersetzung« oder »Erklärung« ungeduldig machte. – »Andernfalls bitte ich Sie, ihn von mir zu grüßen und ihm mein ganzes Bedauern auszudrücken.«
»Auch ich bitte Sie...« antwortete Kirsanoff, sich verbeugend.
Bazaroff wartete jedoch das Ende der Phrase nicht ab und ging.
Als Paul erfuhr, daß Bazaroff im Begriff sei abzureisen, äußerte er den Wunsch, ihn zu sehen, und drückte ihm die Hand, Bazaroff aber zeigte sich nach seiner gewöhnlichen Art kalt wie Eis; er merkte sehr wohl, daß Paul den Großmütigen spielen wollte. Von Fenitschka konnte er nicht Abschied nehmen; er begnügte sich damit, ihr einen Blick zum Fenster hinauf zuzuwerfen. Sie kam ihm traurig vor. »Sie weiß sich vielleicht nicht zu helfen?« dachte er... »Übrigens warum nicht?« Peter war derart gerührt, daß er, an die Schulter Bazaroffs gelehnt, so lange fort weinte, bis dieser ihn mit der Frage zur Ruhe brachte, »ob seine Augen vielleicht in feuchtem Boden stünden?« Duniascha mußte in das Gehölz laufen, um ihre Bewegung zu verbergen. Der Urheber all dieser Schmerzen bestieg eine Telege, steckte sich eine Zigarre an, und als er vier Werst weiter bei einer Wendung des Weges zum letztenmal das Haus Kirsanoffs mit seiner ganzen Umgebung erblickte, spie er aus, murmelte zwischen den Zähnen: »Verfluchte Krautjunker,« und hüllte sich in seinen Mantel.