»Ich glaub es nicht, aber ich hätte vielleicht schweigen sollen.«
Bazaroff dachte dabei: »Das wird dich lehren, die Heuchlerin zu spielen.«
»Warum hätten Sie nicht davon reden sollen? Ich glaube jedoch, daß Sie auch in diesem Falle einem vorübergehenden Eindruck eine zu große Bedeutung beigelegt haben. Ich fange an zu vermuten, daß Sie zur Übertreibung neigen.«
»Sprechen wir von etwas anderem, Madame.«
»Warum denn?« erwiderte sie, was sie jedoch nicht hinderte, auf einen anderen Gegenstand der Unterhaltung überzugehen.
Sie fühlte sich immer etwas unbehaglich Bazaroff gegenüber, obgleich sie sich eingeredet hatte, daß alles vergessen sei, wie sie ihn versichert. Bei der einfachsten Unterhaltung mit ihm, im Scherze sogar, empfand sie ein leises Gefühl von Furcht. So plaudert und scherzt man auf einem Dampfschiff auf hoher See, geradeso sorglos wie auf dem festen Lande; aber beim geringsten widrigen Zufall, beim kleinsten unvorhergesehenen Umstand ist auf allen Gesichtern eine eigentümliche Unruhe zu lesen, welche das fortwährende Bewußtsein einer fortwährenden Gefahr verrät.
Die Unterhaltung zwischen Frau Odinzoff und Bazaroff dauerte nicht lange. Anna Sergejewna wurde immer ernster, sie gab zerstreute Antworten und lud ihn schließlich ein, mit ihr in den Salon zu gehen. Sie fanden dort die Fürstin und Katia.
»Wo ist denn Arkad Nikolajewitsch?« fragte Frau Odinzoff. Als sie hörte, daß er schon seit einer Stunde verschwunden sei, schickte sie nach ihm.
Nachdem man in allen Richtungen gesucht hatte, fand man ihn endlich auf einer Bank am Ende des Gartens das Kinn in seine Hände gestützt, in tiefes Nachdenken versunken. Die Gedanken, welche den Gegenstand desselben bildeten, waren ernst, aber keineswegs traurig.
Er wußte, daß Frau Odinzoff mit Bazaroff allein war, und empfand nicht die mindeste Eifersucht; er sah im Gegenteil sehr heiter aus; er schien entschlossen, etwas zu tun, das ihn erfreute und verwunderte zu gleicher Zeit.
Der Gatte der Frau Odinzoff war kein Freund von Neuerungen gewesen, aber immer bereit, »den weisen Eingebungen eines geläuterten Geschmacks« nachzukommen, und infolge dieser Neigung hatte er in dem Garten zwischen der Orangerie und dem Weiher eine Art griechischer Säulenhalle von Backsteinen errichten lassen. Die Wand, welche den Hintergrund dieses Baues bildete, enthielt sechs zur Aufnahme von Statuen bestimmte Nischen, welche Herr Odinzoff vom Ausland kommen lassen wollte. Diese Statuen sollten die Einsamkeit, das Schweigen, das Nachdenken, die Schwermut, die Scham und das Zartgefühl vorstellen. Eine davon, die Göttin des Schweigens, mit dem Finger auf den Lippen, war angekommen und aufgestellt; aber gleich am Tage der Aufstellung schlugen ihr Gassenjungen die Nase ab, und obgleich ein benachbarter Stubenmaler sich anheischig gemacht hatte, ihr wieder eine »doppelt so schöne Nase« anzusetzen, ließ sie Herr Odinzoff doch wegnehmen, und man stellte sie in die Ecke einer Tenne, wo sie zum großen Schrecken abergläubischer Bäuerinnen stehenblieb. Seit vielen Jahren hatte dichtbelaubtes Gebüsch die Vorderseite der Halle überwachsen. Nur die Säulenkapitäle überragten noch die lebendige grüne Mauer. In der Säulenhalle war es immer sehr kühl, selbst während der heißesten Jahreszeit.
Anna Sergejewna liebte den Ort nicht mehr, seit sie dort auf eine Natter gestoßen war; Katia aber kam oft und setzte sich auf eine große Steinbank, welche unter einer der Nischen stand. Von der schattigen Kühle umfangen, las und arbeitete sie oder überließ sich dem süßen und sanften Gefühl einer tiefen Stille, ein Gefühl, das jeder kennt und dessen Reiz darin besteht, schweigend und fast unwillkürlich dem mächtigen Lebensstrom zu lauschen, der sich beständig rings um uns und in uns ergießt.
Am Morgen nach Bazaroffs Ankunft saß Katia auf ihrer Lieblingsbank, und Arkad befand sich wieder an ihrer Seite. Sie hatte eingewilligt, mit ihm nach der Säulenhalle zu gehen. Es war nur noch eine Stunde bis zum Frühstück; die Hitze des Tages hatte die Morgenfrische noch nicht vertrieben. Arkads Gesicht hatte den gleichen Ausdruck wie tags zuvor; Katia schien befangen. Ihre Schwester hatte sie gleich nach dem Tee in ihr Kabinett gerufen und ihr, nach einigen Liebkosungen, die Katia immer etwas erschreckten, den Rat gegeben, in ihrem Betragen gegen Arkad etwas behutsamer zu sein und namentlich das Alleinsein mit ihm zu vermeiden, da diese allzu häufigen »à part« der Tante und dem ganzen Haus auffielen. Zudem war Anna Sergejewna schon abends zuvor schlecht aufgelegt gewesen, und Katia selber war in Unruhe, als ob sie sich etwas vorzuwerfen hätte. Als sie daher dem Wunsche Arkads willfahrte, hatte sie sich gelobt, daß dies das letztemal sein sollte.
»Katharina Sergejewna,« sagte plötzlich Arkad mit einer unbeschreiblichen Mischung von Sicherheit und Befangenheit, »seitdem ich das Glück habe, mit Ihnen unter einem Dach zu leben, habe ich schon über eine Menge Dinge mit Ihnen geplaudert, eine Frage aber nie berührt... die sehr wichtig für mich ist. Sie haben gestern bemerkt, daß man mich hier anders gemacht habe,« fügte er bei, indem er den fragenden Blick Katias zu gleicher Zeit suchte und vermied; »in der Tat habe ich mich auch in vielen Dingen geändert, und Sie wissen es besser als irgend jemand, wem ich in Wirklichkeit diese Veränderung verdanke.«
»Ich... Sie...« erwiderte Katia.
»Ich bin nicht mehr der anmaßende Bursche, der ich bei meiner Ankunft hier war,« versetzte Arkad; »nicht umsonst habe ich mein dreiundzwanzigstes Jahr hinter mir. Mein Gedanke ist immer noch, mich der Welt nützlich zu machen und alle meine Kraft der... dem Triumph der Wahrheit zu weihen; ich suche aber mein Ideal nicht mehr da, wo ich es ehemals suchte; es scheint mir... viel näher zu liegen. Bisher verstand ich mich selber nicht, ich befaßte mich mit Problemen, die über meine Kräfte gingen... Endlich sind mir die Augen aufgegangen, dank meinem Gefühl... Ich drücke mich vielleicht nicht ganz klar aus, aber ich hoffe, Sie verstehen mich.«
Katia antwortete nicht und sah Arkad nicht mehr an.
»Ich denke,« fuhr er mit erregter Stimme fort, während über seinem Haupte ein Buchfink sein sorgloses Lied in den Zweigen einer Birke sang, »ich denke, daß es Pflicht jedes ehrlichen Mannes ist, sich offen und freimütig in bezug auf die zu zeigen,... auf die, welche... mit einem Wort die, welche ihm teuer sind, und darum... bin ich entschlossen...«
Hier wurde Arkad von seiner Beredsamkeit im Stich gelassen; er verwickelte sich in seinen Phrasen, verlor die Fassung und mußte innehalten; Katia saß immer mit gesenkten Augen da; sie begriff nicht, wo er hinauswollte, und doch schien sie etwas zu erwarten.
»Ich sehe voraus, daß ich Sie überrasche,« fuhr Arkad fort, sobald er sich wieder gesammelt hatte, »um so mehr, als dies Gefühl gewissermaßen Bezug... gewissermaßen... wohlverstanden... auf Sie hat. Ich glaube mich zu erinnern, daß Sie mir gestern Mangel an Ernst vorgeworfen haben,« fügte er hinzu mit der Miene eines Mannes, der, in einen Sumpf geraten, fühlt, daß er mit jedem Schritt tiefer einsinkt, und nichtsdestoweniger immer vorwärts geht, in der Hoffnung, rascher wieder herauszukommen. »Diesen Vorwurf macht man oft... jungen Leuten, selbst dann, wenn sie ihn nicht mehr verdienen... und wenn ich mehr Selbstvertrauen hätte...« Komm mir doch zu Hilfe! Komm! dachte Arkad in seiner Verzweiflung; aber Katia rührte sich nicht. »Und wenn ich hoffen könnte...«
»Wenn ich Ihren Worten Glauben schenken dürfte,« sagte plötzlich neben ihnen Frau Odinzoff mit ihrer ruhigen, klaren Stimme.
Arkad schwieg augenblicklich, und Katia erbleichte. Ein kleiner Fußpfad führte hart an dem Gebüsch vorüber, das die Halle verbarg; Frau Odinzoff hatte ihn mit Bazaroff eingeschlagen. Sie konnte weder von Katia noch Arkad gesehen werden, diese hörten aber ihre Worte und beinahe ihren Atem. Die Spaziergänger machten noch einige Schritte und blieben wie mit Absicht gerade vor der Halle stehn.
»Sehen Sie,« fuhr Frau Odinzoff fort, »Sie und ich, wir haben uns getäuscht; keins von uns beiden steht mehr in der ersten Jugend, ich zumal; wir haben gelebt, wir sind beide müde, wir sind, warum soll ichs nicht aussprechen, beide gescheit, wir haben uns erst gegenseitig interessiert, unsere Neugier wurde rege... dann...«