Cecilia öffnete den Mund, aber Mikael ließ sie nicht zu Wort kommen.
»Cecilia, es ist mir egal, was mit dir los ist und warum du plötzlich meinen bloßen Anblick nicht mehr ertragen kannst. Ich werde nie wieder in deine Nähe kommen, und du brauchst keine Angst zu haben, dass ich dich weiter behelligen werde. In diesem Augenblick wünsche ich mir, ich hätte weder von dir noch von irgendeinem anderen Mitglied der Familie Vanger jemals etwas gehört. Aber ich will Antworten auf meine Fragen haben. Je schneller du antwortest, desto eher bist du mich los.«
»Was willst du wissen?«
»Erstens: Wo zum Teufel warst du vor einer Stunde?«
Cecilias Gesicht verfinsterte sich.
»Vor einer Stunde war ich in Hedestad. Ich bin vor einer halben Stunde zurückgekommen.«
»Kann jemand bezeugen, dich irgendwo gesehen zu haben?«
»Nicht dass ich wüsste. Ich brauche mich vor dir nicht zu rechtfertigen.«
»Zweitens: Warum hast du das Fenster in Harriets Zimmer geöffnet, an dem Tag, als sie verschwunden ist?«
»Was?«
»Du hast die Frage gehört. In all den Jahren hat Henrik versucht herauszufinden, wer das Fenster in Harriets Zimmer geöffnet hat, genau in den kritischen Momenten, als sie verschwunden sein muss. Alle haben es abgestritten. Einer lügt.«
»Und was in Dreiteufelsnamen bringt dich zu der Annahme, dass ich es war?«
»Dieses Bild«, erwiderte Mikael und pfefferte das unscharfe Foto auf ihren Küchentisch.
Cecilia kam an den Tisch und betrachtete das Bild. Mikael glaubte Staunen und Angst an ihr zu bemerken. Plötzlich bemerkte er, wie ein dünnes Blutrinnsal seine Wange herablief und auf sein T-Shirt tropfte.
»An diesem Tag waren ungefähr sechzig Personen auf der Insel«, erklärte er. »Achtundzwanzig von ihnen waren Frauen. Fünf oder sechs hatten schulterlanges blondes Haar. Eine Einzige von ihnen hatte ein helles Kleid an.«
Sie starrte intensiv auf das Bild.
»Und du glaubst, das da bin ich?«
»Wenn du es nicht bist, dann würde ich wahnsinnig gerne wissen, wer das deiner Meinung nach sein soll. Dieses Bild war bis dato unbekannt. Ich habe es jetzt seit ein paar Wochen und versuche, mit dir zu reden. Wahrscheinlich bin ich ein Idiot, aber ich habe es weder Henrik noch irgendjemand sonst gezeigt, weil ich furchtbare Angst hatte, dich falschen Anschuldigungen auszusetzen. Aber ich muss eine Antwort haben.«
»Du sollst deine Antwort haben.« Sie nahm das Bild und hielt es ihm hin. »Ich war an diesem Tag nicht in Harriets Zimmer. Das auf dem Bild bin nicht ich. Ich habe nicht das Geringste mit ihrem Verschwinden zu tun.«
Sie ging zur Tür.
»Du hast deine Antwort bekommen. Jetzt will ich, dass du gehst. Ich glaube, mit dieser Wunde da solltest du zu einem Arzt gehen.«
Lisbeth fuhr ihn ins Krankenhaus von Hedestad. Zwei Stiche und ein ordentliches Pflaster reichten, um die Wunde zu verschließen. Gegen den Brennnesselausschlag an Hals und Händen bekam er eine Kortisonsalbe.
Als sie das Krankenhaus verließen, überlegte Mikael lange, ob er zur Polizei gehen sollte. Plötzlich sah er die Überschrift vor seinem inneren Auge: Verurteilter Journalist in dramatische Schießerei verwickelt. Er schüttelte den Kopf. »Fahr nach Hause«, sagte er zu Lisbeth.
Als sie auf die Insel zurückkamen, war es dunkel, was Lisbeth sehr gelegen kam. Sie stellte eine Sporttasche auf den Küchentisch.
»Ich habe mir Ausrüstung von Milton Security ausgeliehen, und die muss jetzt zum Einsatz kommen, wo es dunkel wird. Setz inzwischen schon mal Kaffee auf.«
Sie stellte vier batteriebetriebene Bewegungsmelder rund ums Haus auf und erklärte, dass jeder, der sich dem Haus mehr als sechs bis sieben Meter näherte, ein Radiosignal auslöste, das wiederum einen Piepser in Gang setzte, den sie in Mikaels Schlafzimmer installiert hatte. Gleichzeitig würden zwei lichtempfindliche Videokameras, die sie in den Bäumen vor und hinter dem Haus montiert hatte, Signale an einen Laptop senden, den sie in das Schränkchen im Flur stellte. Sie tarnte die Kameras mit dunklem Stoff, sodass nur das Objektiv zu sehen war.
Eine dritte Kamera brachte sie in einem Nistkasten über der Tür an. Um das Kabel verlegen zu können, bohrte sie ein Loch in die Wand. Das Objektiv war auf den Weg und das Stück zwischen Zaun und Haustür gerichtet. Es sendete jede Sekunde ein Bild mit geringer Auflösung, das auf einem weiteren Laptop bei der Garderobe gespeichert wurde.
Anschließend legte sie noch eine druckempfindliche Matte vor die Tür. Sollte es jemandem gelingen, den Bewegungsmeldern zu entgehen und ins Haus einzudringen, würde eine Sirene mit 115 Dezibel losheulen. Lisbeth zeigte ihm, wie er die Detektoren mit einem Schlüssel ausschalten konnte, den sie im Kleiderschrank versteckt hatte. Sie hatte sich auch noch ein Nachtsichtgerät ausgeliehen, das sie auf den Tisch im Arbeitszimmer legte.
»Du überlässt nicht gerade viel dem Zufall«, sagte Mikael und goss ihr einen Kaffee ein.
»Noch was: Keine Joggingausflüge mehr, bevor wir das hier nicht gelöst haben.«
»Mein Bedarf an Joggingausflügen ist vorerst gedeckt - das kannst du mir glauben.«
»Das ist kein Witz. Das hier hat als historisches Rätsel angefangen, aber heute Morgen lag eine tote Katze auf der Treppe, und heute Abend hat jemand versucht, dir den Schädel wegzupusten. Wir sind jemandem auf der Spur.«
Sie aßen ein spätes Abendessen mit Aufschnitt und Kartoffelsalat. Mikael war plötzlich todmüde und hatte rasende Kopfschmerzen. Er konnte sich nicht mehr unterhalten und ging schlafen.
Lisbeth blieb noch auf und las bis zwei Uhr weiter im Untersuchungsbericht. Der Auftrag in Hedeby hatte komplizierte und bedrohliche Formen angenommen.
23. Kapitel
Freitag, 11. Juli
Mikael wurde um sechs Uhr morgens davon wach, dass ihm die Sonne durch einen Spalt in der Gardine direkt ins Gesicht schien. Er hatte vages Kopfweh, und es schmerzte, als er sein Pflaster betastete. Lisbeth lag auf dem Bauch und hatte einen Arm um ihn gelegt. Er blickte auf den Drachen, der sich vom rechten Schulterblatt bis zum Hintern erstreckte.
Er zählte ihre Tattoos. Neben dem Drachen auf dem Rücken und der Wespe auf dem Hals hatte sie eine Schlinge rund um einen Knöchel, eine andere Schlinge rund um den Bizeps ihres linken Armes, ein chinesisches Schriftzeichen auf der Hüfte und eine Rose auf der Wade. Abgesehen vom Drachen waren die Tattoos klein und diskret.
Mikael stieg vorsichtig aus dem Bett und zog die Gardinen vor. Er ging zur Toilette, schlich zurück zum Bett und kroch dann so leise wie möglich wieder unter die Decke, um sie nicht zu wecken.
Ein paar Stunden später frühstückten sie im Garten. Lisbeth sah Mikael an.
»Wir müssen ein Rätsel lösen. Wie fangen wir’s an?«
»Wir stellen die Fakten zusammen.«
»Ein Fakt ist, dass es jemand in unserer Nähe auf dich abgesehen hat.«
»Die Frage ist nur, warum? Weil wir dabei sind, das Rätsel um Harriet lösen, oder weil wir einen unbekannten Serienmörder gefunden haben?«
»Das muss miteinander zusammenhängen.«
Mikael nickte.
»Wenn es Harriet gelungen ist herauszufinden, dass es einen Serienmörder gab, dann muss es jemand in ihrer direkten Umgebung gewesen sein. Wenn wir die Personengalerie aus den sechziger Jahren anschauen, gibt es da mindestens zwei Dutzend mögliche Kandidaten. Heute ist kaum noch einer davon übrig, außer Harald Vanger, und ich glaube einfach nicht, dass er mit seinen bald fünfundneunzig Jahren mit einem Gewehr im Wald herumläuft. Der könnte so einen Elchstutzen wahrscheinlich kaum noch heben. Die Personen sind entweder zu alt, um heute noch gefährlich zu sein, oder zu jung, als dass sie in den fünfziger Jahren schon hätten aktiv sein können. Womit wir wieder beim Ausgangspunkt wären.«
»Vielleicht arbeiten ja zwei Personen zusammen. Eine ältere und eine jüngere.«
»Harald und Cecilia. Das glaube ich nicht. Ich glaube, sie hat die Wahrheit gesagt, als sie behauptete, dass sie nicht die Person an Harriets Fenster war.«