»Aber wer war es dann?«
Sie öffneten Mikaels iBook und verbrachten die nächste Stunde damit, alle Menschen, die auf den Bildern des Unfalls auf der Brücke zu sehen waren, noch einmal detailliert durchzugehen.
»Ich kann es mir nicht anders vorstellen, es müssen nahezu alle Menschen aus der Stadt hier unten gewesen sein und zugesehen haben. Es war September. Die meisten tragen Jacken oder Pullover. Es gibt nur eine Person mit langen blonden Haaren und einem hellen Kleid.«
»Cecilia taucht auf sehr vielen Fotos auf. Sie scheint hin und her zu gehen zwischen den Gebäuden und den Leuten, die sich den Unfall ansehen. Hier spricht sie mit Isabella. Hier steht sie mit Pfarrer Falk zusammen. Hier ist sie mit Greger Vanger, ihrem mittleren Bruder.«
»Warte«, sagte Mikael plötzlich. »Was hat Greger denn da in der Hand?«
»Irgendwas Viereckiges. Sieht aus wie irgendein Kästchen.«
»Das ist eine Hasselblad. Er hatte auch eine Kamera.«
Sie ließen die Bilder noch einmal durchlaufen. Greger war auf mehreren Fotos zu sehen, doch oft nur verdeckt. Auf einem Bild sah man deutlich, dass er was Viereckiges in der Hand hatte.
»Ich glaube, du hast recht. Das ist eine Kamera.«
»Was bedeutet, dass wir noch mal auf Bilderjagd gehen müssen.«
»Okay, lassen wir das erst mal beiseite«, sagte Lisbeth. »Lass mich eine Hypothese formulieren.«
»Bitte sehr.«
»Was hältst du hiervon: Jemand aus der jüngeren Generation weiß, dass jemand aus der älteren Generation ein Serienmörder war, will aber nicht, dass es herauskommt. Die Familienehre und so weiter und so fort. Das würde bedeuten, dass es zwei Personen sind, die aber nicht unbedingt zusammenarbeiten. Der Mörder kann schon lange tot sein, aber unser Verfolger will einfach, dass wir alles stehen und liegen lassen und nach Hause fahren.«
»Daran hab ich auch schon gedacht«, sagte Mikael. »Aber wenn es so ist, warum legt er dann eine zerstückelte Katze auf den Treppenabsatz? Damit nimmt er ja direkt Bezug auf die Morde.« Mikael klopfte auf Harriets Bibel. »Wieder eine Parodie auf das Brandopfer-Gesetz.«
Lisbeth lehnte sich zurück und sah zur Kirche empor, während sie nachdenklich die Bibel zitierte. Es klang, als würde sie mit sich selbst sprechen.
»Dann soll er das Rind schlachten vor dem Herrn, und die Priester, Aarons Söhne, sollen das Blut herzu bringen und ringsum an den Altar sprengen, der vor der Tür der Stiftshütte ist. Und er soll dem Brandopfer das Fell abziehen und es in seine Stücke zerlegen.«
Sie verstummte und merkte plötzlich, dass Mikael sie gespannt ansah. Er schlug die Einleitung des Buches Levitikus auf.
»Kannst du auch Vers 12?«
Lisbeth schwieg.
»Und er zerlege …«, begann Mikael und nickte ihr zu.
»Und er zerlege es in seine Stücke, und der Priester soll sie samt dem Kopf und dem Fett auf das Holz über dem Feuer legen, das auf dem Altar ist.« Ihre Stimme war eiskalt.
»Und den nächsten Vers?«
Sie stand plötzlich auf.
»Lisbeth, du hast ein fotografisches Gedächtnis«, rief Mikael verblüfft aus. »Deswegen liest du die Seiten des Untersuchungsberichts also in zehn Sekunden.«
Ihre Reaktion war explosiv. Ihr Blick bohrte sich mit solchem Zorn in Mikaels, dass er ganz überrascht war. Dann füllten sich ihre Augen mit Verzweiflung, und sie lief zum Gartentor.
»Lisbeth!«, rief Mikael ihr bestürzt hinterher.
Sie lief die Straße entlang und verschwand.
Mikael trug ihren Computer hinein, schaltete den Alarm ein und schloss die Haustür, bevor er wegging, um sie zu suchen. Er fand sie zwanzig Minuten später im Kleinboothafen, wo sie auf einem Steg saß, die Füße ins Wasser baumeln ließ und eine Zigarette rauchte.
Sie hörte, wie er über den Steg ging, und er sah, wie sich ihre Schultern leicht versteiften. Zwei Meter vor ihr blieb er stehen.
»Ich weiß nicht, was ich falsch gemacht habe, aber ich hatte nicht die Absicht, dich zu verletzen.«
Sie antwortete nicht.
Er ging zu ihr, setzte sich neben sie und legte ihr vorsichtig die Hand auf die Schulter.
»Bitte, Lisbeth, sprich doch mit mir.«
Sie wandte den Kopf und sah ihn an.
»Da gibt es nichts zu reden«, sagte sie. »Ich bin ganz einfach ein Freak.«
»Ich wäre glücklich, wenn mein Gedächtnis nur halb so gut wäre wie deins.«
Sie warf die Zigarettenkippe ins Wasser.
Mikael schwieg eine ganze Weile. Was soll ich sagen? Du bist ein ganz normales Mädchen. Es macht doch nichts, wenn du manchmal ein bisschen eigen bist. Was hat sie eigentlich für ein Selbstbild?
»Als ich dich zum ersten Mal gesehen habe, habe ich mir sofort gedacht, dass du anders bist«, sagte er. »Und soll ich dir noch was sagen? Es ist mir lange nicht mehr passiert, dass ich jemand vom ersten Augenblick an spontan so gemocht habe.«
Ein paar Kinder kamen aus einem Haus auf der anderen Seite des Hafenbeckens gelaufen und warfen sich ins Wasser. Eugen Norman, der Maler, mit dem Mikael noch immer kein einziges Wort gewechselt hatte, saß auf einem Stuhl vor seinem Häuschen und betrachtete Mikael und Lisbeth.
»Ich will so gerne dein Freund sein, wenn du mich auch als Freund haben willst«, fuhr Mikael fort. »Aber das musst du entscheiden. Ich gehe zurück zum Haus und setze noch mal Kaffee auf. Komm nach Hause, wenn dir danach ist.«
Er stand auf und ließ sie zurück. Er war erst zur Hälfte den Hügel hinaufgegangen, als er ihre Schritte hörte. Sie gingen zusammen zurück, ohne ein Wort zu sagen.
Als sie zu Hause ankamen, hielt sie ihn fest.
»Ich war gerade dabei, einen Gedanken zu formulieren … Wir hatten gesagt, dass alles eine Parodie auf die Bibel ist. Er hat zwar eine Katze zerstückelt, vielleicht war es einfach zu schwierig, sich einen Ochsen zu besorgen. Aber er folgt dem Grundmuster. Ich frage mich …«
Sie blickte zur Kirche hoch.
»… sollen das Blut herzu bringen und ringsum an den Altar sprengen, der vor der Tür der Stiftshütte ist …«
Sie gingen über die Brücke und hinauf zur Kirche, wo sie sich umsahen. Die Kirchentür war verschlossen. Sie gingen ein bisschen herum, sahen sich aufs Geratewohl ein paar Grabsteine an und kamen schließlich zu der Kapelle, die ein bisschen näher am Wasser stand. Es war keine Kapelle, sondern ein Mausoleum. Über der Tür sah er den Namen Vanger eingemeißelt und einen lateinischen Vers, von dem er nicht wusste, was er bedeutete.
»Ruhe bis zu der Zeiten Ende«, sagte Lisbeth.
Mikael sah sie an. Sie zuckte die Schultern.
»Ich hab die Strophe mal irgendwo gesehen«, erklärte sie.
Plötzlich lachte Mikael laut los. Sie erstarrte und sah zuerst wütend aus, dann begriff sie aber, dass er nicht über sie lachte, sondern über die Situation, und entspannte sich wieder.
Mikael drückte gegen die Tür. Sie war verschlossen. Er überlegte kurz, dann sagte er zu Lisbeth, sie solle sich hinsetzen und auf ihn warten. Er ging zu Anna Nygren hinüber und klopfte. Er erklärte, dass er sich die Grabkapelle der Familie Vanger genauer ansehen wolle, und fragte, wo Henrik den Schlüssel verwahre. Anna zögerte, gab aber nach, als Mikael sie daran erinnerte, dass er direkt für Henrik arbeitete. Sie holte den Schlüssel aus seinem Schreibtisch.
Sowie Mikael und Lisbeth die Tür öffneten, wussten sie, dass sie richtig vermutet hatten. Ein penetranter Gestank nach verbranntem Kadaver und verkohlten Resten lag in der Luft. Aber der Katzenquäler hatte kein Feuer gemacht. In einer Ecke stand eine Art Lötlampe, wie sie Skifahrer benutzen, wenn sie ihre Skier wachsen. Lisbeth zog ihre Digitalkamera aus der Tasche ihrer Jeansjacke und machte ein paar Bilder. Die Lötlampe nahm sie mit.
»Das kann Beweismaterial werden. Vielleicht hat er Fingerabdrücke hinterlassen«, meinte sie.
»Na klar, wir könnten alle in der Familie Vanger bitten, ihre Fingerabdrücke nehmen zu lassen«, gab Mikael sarkastisch zurück. »Es wäre sicher ein Riesenspaß, dir dabei zuzusehen, wie du versuchst, Isabellas Fingerabdruck abzunehmen.«