Выбрать главу

Er wandte sich an Mikael.

»Ich wohne rechter Hand auf der anderen Seite der Brücke. Dort können Sie in fünf Minuten zu Fuß hinüberspazieren, es ist das dritte Haus am Wasser, neben der Konditorei. Und wenn Sie mich brauchen, müssen Sie mich nur anrufen.«

Mikael nutzte die Gelegenheit, um seine Hand in die Jackentasche zu stecken und ein Diktiergerät einzuschalten. Paranoid, ich? Mikael hatte keine Ahnung, was Henrik Vanger von ihm wollte, aber nach den Scherereien, die er dieses Jahr mit Wennerström gehabt hatte, wollte er eine exakte Dokumentation aller seltsamen Ereignisse in seiner Umgebung. Und eine plötzliche Einladung nach Hedestad gehörte definitiv in diese Kategorie.

Der ehemalige Großindustrielle klopfte Dirch Frode zum Abschied auf die Schulter und zog die Tür zu, bevor er seine ganze Aufmerksamkeit auf Mikael richtete.

»Lassen Sie mich gleich zur Sache kommen. Das hier ist kein Spiel. Was ich Ihnen zu sagen habe, erfordert ein längeres Gespräch. Ich bitte Sie also, mir in Ruhe zuzuhören, und erst danach zu entscheiden. Sie sind Journalist, und ich würde Ihnen gerne einen freiberuflichen Auftrag erteilen. Anna hat in meinem Arbeitszimmer im Obergeschoss Kaffee vorbereitet.«

Henrik Vanger ging voraus, und Mikael folgte ihm. Sie betraten ein längliches, an die 40 Quadratmeter großes Zimmer an der Giebelseite des Hauses. Eine Wand wurde von einem zehn Meter langen, vom Boden bis zur Decke reichenden Bücherregal dominiert, das eine einzigartige Mischung aus Belletristik, Biografien, Geschichtsbüchern, Fachliteratur über Handel und Industrie sowie A4-Ordnern enthielt. Die Bücher waren nach keinem erkennbaren System geordnet. Es sah aus wie ein Bücherregal, das tatsächlich in Gebrauch ist, und Mikael folgerte, dass Henrik Vanger ein großer Leser war. Auf der gegenüberliegenden Seite stand ein imposanter Schreibtisch aus dunkler Eiche, sodass man, wenn man hinter dem Tisch saß, in den Raum hineinblickte. An der Wand hing eine große Sammlung gepresster, penibel gerahmter Blumen.

Durch das Giebelfenster hatte Henrik Vanger Ausblick auf die Brücke und die Kirche. Vor dem Fenster befand sich eine Sitzgruppe mit einem Serviertischchen, auf dem Anna Geschirr, eine Thermoskanne, selbst gebackene Zimtröllchen und Kuchen angerichtet hatte.

Henrik Vanger machte eine einladende Geste, die Mikael geflissentlich übersah. Stattdessen drehte er eine Runde durchs Zimmer und studierte zunächst das Bücherregal und danach die Wand mit den gerahmten Blumen. Der Schreibtisch war säuberlich aufgeräumt, ein paar einzelne Blätter waren zu einem Stoß aufgeschichtet. Ganz hinten auf dem Tisch stand die gerahmte Fotografie eines hübschen dunkelhaarigen Mädchens mit herausforderndem Blick. Eine junge Dame, die in absehbarer Zeit gefährlich werden wird, dachte Mikael. Das Bild war offensichtlich ein Konfirmationsporträt und so verblasst, dass es schon seit Jahren dort stehen musste. Plötzlich wurde Mikael gewahr, dass Henrik Vanger ihn beobachtete.

»Können Sie sich an sie erinnern, Mikael?«, fragte er.

»Erinnern?« Mikael zog die Augenbrauen hoch.

»Ja, Sie sind ihr schon begegnet. Sie sind sogar schon einmal in diesem Zimmer gewesen.«

Mikael sah sich um und schüttelte den Kopf.

»Nein - wie könnten Sie sich auch daran erinnern! Ich kannte Ihren Vater. Ich habe Kurt Blomkvist in den fünfziger und sechziger Jahren mehrmals Aufträge gegeben; er hat als Installateur und Maschinentechniker für mich gearbeitet. Ein talentierter Kerl war das. Ich versuchte ihn zu überreden, sich fortzubilden und Ingenieur zu werden. Sie waren den ganzen Sommer 1963 hier, als wir den Maschinenpark einer Papierfabrik in Hedestad auswechselten. Es war schwierig, eine Wohnung für Ihre Familie zu finden. Wir haben das Problem damals so gelöst, dass Sie in dem kleinen Holzhaus auf der anderen Seite der Straße wohnten. Sie können das Haus von diesem Fenster aus sehen.«

Henrik Vanger trat an den Schreibtisch und nahm das Porträt in die Hand.

»Das ist Harriet Vanger, die Enkelin meines Bruders Richard Vanger. Sie hat in jenem Sommer ein paarmal auf Sie aufgepasst. Sie waren damals zwei oder drei Jahre alt - ich erinnere mich nicht. Harriet war zwölf.«

»Sie müssen verzeihen, aber ich habe nicht die geringste Erinnerung an die Dinge, die Sie mir da erzählen.« Mikael war nicht einmal völlig überzeugt davon, dass Henrik Vanger die Wahrheit sagte.

»Das kann ich verstehen. Aber ich erinnere mich an Sie. Sie sind hier überall auf dem Hof herumgesprungen, mit Harriet im Schlepptau. Wenn Sie irgendwo auf die Nase fielen, konnte ich Sie schreien hören. Ich erinnere mich, dass ich Ihnen einmal ein Spielzeug gegeben habe, einen gelben Blechtraktor, mit dem ich selbst als Kind gespielt hatte und der Sie in hellste Begeisterung versetzte. Ich glaube zumindest, dass er gelb war.«

Plötzlich wurde Mikael innerlich kalt. Allerdings erinnerte er sich an den gelben Traktor. Als er älter wurde, hatte er immer noch zur Zierde auf einem Regal in seinem Kinderzimmer gestanden.

»Erinnern Sie sich daran?«

»Ja, ich erinnere mich. Vielleicht amüsiert es Sie zu hören, dass es diesen Traktor immer noch gibt, im Spielzeugmuseum am Mariatorget in Stockholm. Ich habe ihn gestiftet, als sie vor zehn Jahren altes Originalspielzeug suchten.«

»Wirklich?« Henrik Vanger gluckste vergnügt. »Ich möchte Ihnen etwas zeigen …«

Der alte Mann trat ans Bücherregal und zog ein Fotoalbum aus einem der unteren Fächer. Mikael bemerkte, dass er offenbar Schwierigkeiten mit dem Bücken hatte und sich deshalb am Regal abstützte, als er sich wieder aufrichtete. Henrik Vanger machte Mikael ein Zeichen, sich aufs Sofa zu setzen, während er im Fotoalbum blätterte. Er wusste, wonach er suchte, und legte das Album kurz darauf auf das Tischchen. Er deutete auf ein Schwarz-Weiß-Foto, auf dem man den Schatten des Fotografen am unteren Rand erkennen konnte. Im Vordergrund stand ein hellhaariger, kleiner Junge mit kurzer Hose, der verwirrt und ein bisschen ängstlich in die Kamera starrte.

»Das hier sind Sie, in jenem Sommer. Ihre Eltern sitzen auf den Gartenmöbeln im Hintergrund. Harriet wird halb verdeckt von ihrer Mutter, und der Junge links neben Ihrem Vater ist Harriets Bruder, Martin Vanger, der heute den Vanger-Konzern führt.«

Mikael erkannte ohne Probleme seine Eltern wieder. Seine Mutter war offenkundig schwanger - seine Schwester musste damals also unterwegs gewesen sein. Er betrachtete das Bild mit gemischten Gefühlen, während Henrik Vanger Kaffee einschenkte und ihm die Schüssel mit dem Gebäck zuschob.

»Ich weiß, dass Ihr Vater tot ist. Lebt Ihre Mutter noch?«

»Nein«, erwiderte Mikael. »Sie ist vor drei Jahren gestorben.«

»Sie war eine nette Frau. Ich kann mich sehr gut an sie erinnern.«

»Herr Vanger, ich bin sicher, Sie haben mich nicht hierhergebeten, um mit mir über alte Erinnerungen an meine Eltern zu reden.«

»Da haben Sie völlig recht. Ich habe mehrere Tage darüber nachgedacht, was ich Ihnen sagen will. Aber jetzt, wo Sie mir endlich gegenübersitzen, weiß ich nicht recht, wie ich anfangen soll. Ich nehme an, Sie haben einiges über mich gelesen, bevor Sie hierhergekommen sind. Dann wissen Sie auch, dass ich früher einmal großen Einfluss auf die schwedische Industrie und den Arbeitsmarkt gehabt habe. Heute bin ich ein alter Mann, der vermutlich bald sterben wird, und vielleicht ist der Tod sogar ein ausgezeichneter Ausgangspunkt für dieses Gespräch.«

Mikael nahm einen Schluck schwarzen Kaffee und fragte sich, worauf diese Geschichte hinauslaufen würde.

»Ich habe Schmerzen in der Hüfte und Schwierigkeiten mit längeren Spaziergängen. Eines Tages werden Sie selbst entdecken, wie alten Männern die Kräfte schwinden, aber ich bin weder altersschwach noch senil. Ich bin auch nicht besessen vom Tod, habe jedoch ein Alter erreicht, in dem ich akzeptieren muss, dass meine Tage gezählt sind. Es kommt einmal eine Zeit, da will man Bilanz ziehen und reinen Tisch machen. Verstehen Sie das?«