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Henrik Vanger stand auf und trat ans Fenster. Er winkte Mikael zu sich und sagte: »14.15 Uhr, ein paar Minuten nachdem Harriet heimgekommen war, geschah da draußen auf der Brücke ein fürchterlicher Unfall. Ein Mann namens Gustav Aronsson, der hier auf der Insel einen Hof besitzt, bog auf die Brücke ein und stieß frontal mit einem Tanklaster zusammen, der gerade Heizöl ausliefern wollte. Wie genau der Unfall geschah, wurde nie wirklich geklärt - aus beiden Richtungen hatte man gute Sicht -, aber die zwei fuhren zu schnell, und so kam es zur Katastrophe. Der Fahrer des Tanklasters versuchte den Zusammenstoß zu vermeiden und riss wohl instinktiv das Steuer herum. Er fuhr ins Brückengeländer, der Tanklastzug kippte und legte sich quer über die Brücke, wobei das hintere Fahrgestell weit über die gegenüberliegende Kante hinausragte … Eine Metallstrebe bohrte sich wie ein Spieß in den Tankbehälter, worauf das leicht entflammbare Heizöl herauszuspritzen begann. Gustav Aronsson war auf dem Fahrersitz eingeklemmt und schrie vor Schmerzen. Der Fahrer der Tanklasters war auch verletzt, konnte sich aber aus seinem Fahrzeug befreien.«

Der alte Mann machte eine Pause und setzte sich wieder.

»Der Unfall hatte eigentlich nichts mit Harriet zu tun. Aber er war auf andere Weise bedeutsam. Menschen eilten herbei, um zu helfen; es war ein heilloses Chaos. Es bestand unmittelbare Brandgefahr, und man löste Großalarm aus. Polizei, Krankenwagen, Rettungsdienst, Feuerwehr, Presse und Schaulustige scharten sich um die Unglücksstelle. Natürlich sammelte sich alles auf der Festlandseite. Wir auf der Insel taten alles, um Aronsson aus seinem Autowrack zu befreien, was sich als verdammt schwierig herausstellte. Er war ziemlich eingeklemmt und schwer verletzt.

Wir versuchten ihn mit den Händen herauszuziehen, aber das ging nicht. Er musste herausgeschnitten oder -gesägt werden. Doch konnten wir natürlich nichts unternehmen, was eine Funkenbildung zur Folge gehabt hätte; wir standen ja mitten in einem See aus feuergefährlichem Heizöl neben einem umgekippten Tanklaster. Wäre der explodiert, wäre es mit uns allen zu Ende gewesen. Es dauerte lange, bevor wir Hilfe vom Festland bekamen, denn der Laster lag wie ein Keil quer über der Brücke, und man konnte uns nur erreichen, indem man über den Tankbehälter kletterte. Ebenso gut hätte man über eine tickende Bombe klettern können.«

Mikael hatte immer noch den Eindruck, dass der alte Mann eine oft wiederholte und wohlüberlegte Geschichte erzählte, um sein Interesse zu fesseln. Aber er musste auch zugeben, dass Vanger ein ausgezeichneter Erzähler war, der seinen Zuhörer in Bann zu ziehen wusste. Er hatte jedoch weiterhin keine Ahnung, worauf die Geschichte eigentlich hinauslaufen würde.

»Das Bedeutsame an diesem Unfall war, dass die Brücke für die nächsten vierundzwanzig Stunden gesperrt wurde. Erst am späten Sonntagabend gelang es, den verbliebenen Brennstoff abzupumpen, den Tanklaster wegzuhieven und die Brücke wieder für den Verkehr zu öffnen. Während dieser vierundzwanzig Stunden war die Hedeby-Insel praktisch von der Umwelt abgeschnitten. Zum Festland konnte man nur mit dem Feuerwehrboot gelangen, das eingesetzt wurde, um die Leute vom Bootshafen der Insel zum alten Fischerhafen unterhalb der Kirche zu bringen. Mehrere Stunden wurde das Boot ausschließlich von den Rettungsdiensten benutzt - erst am späten Samstagabend begann man auch Privatpersonen überzusetzen. Verstehen Sie, was das bedeutet?«

Mikael nickte. »Ich nehme an, dass auf der Insel irgendetwas mit Harriet geschah und die Verdächtigen aus dem Kreis derer kommen müssen, die sich ebenfalls hier aufhielten. Die klassische Situation eines geschlossenen Raumes in Gestalt einer Insel.«

Henrik Vanger lächelte ironisch.

»Mikael, Sie ahnen ja gar nicht, wie recht Sie haben. Auch ich habe meine Dorothy Sayers gelesen. Die Tatsachen sind Folgende: Harriet kam ungefähr um zehn nach zwei auf der Insel an. Wenn wir auch Kinder und Unverheiratete mit einschließen, haben sich im Laufe des Tages ungefähr vierzig Gäste hier eingefunden. Zusammen mit Personal und Inselbewohnern kommen wir auf vierundsechzig Personen, die sich hier und in der Nähe des Hofes aufhielten. Diejenigen, die hier übernachten wollten, richteten sich gerade in den umliegenden Häusern oder Gästezimmern ein.

Harriet wohnte früher in einem Haus auf der gegenüberliegenden Straßenseite, aber wie ich vorhin erzählt habe, waren weder ihr Vater Gottfried noch ihre Mutter Isabella stabile Persönlichkeiten, und ich konnte nicht zusehen, wie Harriet gequält wurde. Sie konnte sich nicht aufs Lernen konzentrieren, und 1964, als sie vierzehn war, ließ ich sie in mein Haus einziehen. Isabella passte es wohl ganz gut, dass sie die Verantwortung für sie loswurde. Harriet bekam ein Zimmer hier oben und wohnte die letzten zwei Jahre bei mir. Auch an jenem Tag kam sie hierher. Wir wissen, dass sie Harald Vanger auf dem Hof traf und ein paar Worte mit ihm wechselte - das ist einer von meinen Brüdern. Danach ging sie die Treppe hoch, in dieses Zimmer, und begrüßte mich. Sie sagte, dass sie mit mir über etwas sprechen müsste. In diesem Moment waren gerade ein paar andere Familienmitglieder bei mir, und ich hatte keine Zeit für sie. Aber es schien ihr so wichtig zu sein, dass ich versprach, gleich anschließend in ihr Zimmer zu kommen. Sie nickte und ging durch diese Tür dort hinaus. Das war das letzte Mal, dass ich sie gesehen habe. Ein paar Minuten später krachte es auf der Brücke, und das Chaos, das alle Pläne für den Tag über den Haufen werfen sollte, brach aus.«

»Wie starb sie?«

»Warten Sie. Es ist so kompliziert, ich muss die Geschichte chronologisch erzählen. Als die Wagen zusammenstießen, ließen die Leute alles stehen und liegen und rannten zur Unfallstelle. Ich war … ich denke, ich habe das Kommando übernommen und war in den nächsten Stunden fieberhaft beschäftigt. Wir wissen, dass auch Harriet nach der Kollision sofort zur Brücke hinunterlief - mehrere Personen haben sie gesehen -, aber wegen der Explosionsgefahr schickte ich alle, die nicht mithalfen, Aronsson aus seinem Autowrack zu befreien, wieder fort. Wir blieben zu fünft am Unfallort zurück: ich und mein Bruder Harald, ein Hofarbeiter namens Magnus Nilsson, Sixten Nordlander, ein Sägewerksarbeiter, der unten am Fischerhafen ein Haus hat, und ein Kerl namens Jerker Aronsson. Er war erst sechzehn, und ich hätte ihn eigentlich wegschicken sollen, aber er war Aronssons Neffe und kam wenige Minuten nach dem Unfall gerade mit seinem Fahrrad vorbei.

Ungefähr um 14.40 Uhr war Harriet in der Küche. Sie trank ein Glas Milch und wechselte ein paar Worte mit Astrid, der Köchin. Sie sahen durchs Fenster dem Tumult auf der Brücke zu.

Um 14.55 Uhr ging Harriet über den Hof. Sie wurde unter anderem von ihrer Mutter gesehen, aber sie sprachen nicht miteinander. Ein paar Minuten später traf sie Otto Falk, den Pastor der Kirche in Hedeby. Damals lag das Pfarrhaus dort, wo Martin Vanger heute seine Villa hat. Der Pastor wohnte also auf dieser Seite der Brücke. Er hatte sich erkältet und lag schlafend im Bett, als sich der Unfall ereignete. Er hatte das große Drama verschlafen, war nun alarmiert worden und auf dem Weg zur Brücke. Harriet hielt ihn auf und wollte ein paar Worte mit ihm wechseln, aber er wimmelte sie ab und eilte vorbei. Otto Falk war der Letzte, der sie lebend sah.«

»Wie starb sie?«, wiederholte Mikael.

»Ich weiß es nicht«, antwortete Henrik Vanger mit gequältem Blick. »Erst irgendwann gegen fünf Uhr nachmittags hatten wir Aronsson aus dem Wrack befreit - er überlebte übrigens, wenn auch übel zugerichtet -, und um kurz nach sechs galt die Brandgefahr als gebannt. Die Insel war immer noch vom Festland abgeschnitten, aber die Dinge beruhigten sich langsam. Erst als wir uns gegen acht zu einem verspäteten Abendessen zu Tisch setzten, entdeckte man, dass Harriet fehlte. Ich schickte eine ihrer Kusinen los, um sie aus ihrem Zimmer zu holen, aber sie kam zurück und sagte, sie könne sie nicht finden. Ich dachte nicht groß drüber nach und vermutete wohl, dass sie spazieren gegangen war oder nicht mitbekommen hatte, dass unser Abendessen wie geplant stattfinden sollte. Im Laufe des Abends gab es so einigen Streit mit der Familie. Erst am nächsten Morgen, als Isabella nach ihr suchte, wurde uns klar, dass Harriet bereits seit gestern Nachmittag verschwunden war.«