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Er breitete die Arme aus.

»Seit jenem Tag ist Harriet Vanger spurlos verschwunden.«

»Verschwunden?«, echote Mikael.

»In all den Jahren gab es nicht die geringste Spur von ihr.«

»Aber wenn sie verschwunden ist, können Sie doch nicht behaupten, dass sie ermordet wurde.«

»Ich verstehe Ihren Einwand. Ich habe genauso gedacht. Wenn ein Mensch spurlos verschwindet, gibt es vier Möglichkeiten: Er kann freiwillig verschwunden sein und sich verstecken. Er kann bei einem Unfall ums Leben gekommen sein. Er kann Selbstmord begangen haben. Und er kann Opfer eines Verbrechens geworden sein. Ich habe über all diese Möglichkeiten nachgedacht.«

»Sie glauben also, dass jemand sie umgebracht hat. Warum?«

»Weil das die einzig logische Schlussfolgerung ist.« Henrik Vanger hielt einen Finger in die Höhe. »Von Anfang an habe ich gehofft, sie sei einfach davongelaufen. Doch mit der Zeit begriffen wir, dass es nicht so war. Ich meine, wie könnte ein sechzehnjähriges Mädchen aus behüteten Verhältnissen, auch wenn sie clever ist, alleine klarkommen und sich so verstecken, dass sie nicht entdeckt wird? Woher sollte sie das Geld haben? Und selbst, wenn sie irgendwo einen Job gefunden hätte, brauchte sie immer noch eine Steuerkarte und einen festen Wohnsitz.«

Er hielt zwei Finger in die Höhe.

»Mein nächster Gedanke war natürlich, dass sie irgendeinen Unfall gehabt haben musste. Tun Sie mir bitte den Gefallen und öffnen Sie die oberste Schublade meines Schreibtischs. Dort liegt eine Karte.«

Mikael tat, worum man ihn gebeten hatte, und breitete die Karte auf dem Serviertischchen aus. Die Hedeby-Insel war eine unregelmäßig geformte Landmasse von ungefähr drei Kilometern Länge, die an ihrer breitesten Stelle knapp anderthalb Kilometer breit war. Zum überwiegenden Teil bestand die Insel aus Wald. Besiedelt war sie in unmittelbarer Nähe zur Brücke und rund um den Bootshafen. Auf der anderen Seite der Insel gab es noch einen Hof, Östergården, wo der unglückliche Aronsson seine Fahrt begonnen hatte.

»Erinnern Sie sich bitte, dass sie die Insel nicht verlassen haben kann«, unterstrich Vanger. »Auch hier auf der Hedeby-Insel kann man natürlich einen Unfall haben. Man kann vom Blitz getroffen werden - aber an jenem Tag gab es kein Gewitter. Man kann von einem Pferd niedergetrampelt werden, in einen Brunnen fallen oder in eine Felsspalte stürzen. Es gibt garantiert Hunderte von Möglichkeiten, wie man hier einem Unfall zum Opfer fallen könnte. Über die meisten von ihnen habe ich nachgedacht.«

Er hielt einen dritten Finger hoch.

»Es gibt ein einziges ›Aber‹, und das gilt auch für die dritte Möglichkeit - dass sich das Mädchen wider Erwarten das Leben genommen haben könnte. Irgendwo auf dieser begrenzten Fläche müsste ihr Körper gefunden werden.«

Vanger schlug mit der Hand mitten auf die Karte.

»In den Tagen nach ihrem Verschwinden suchten wir die ganze Insel ab. Die Suchmannschaft durchkämmte jeden Graben, jedes Stückchen Ackerland, jede Felsspalte und sah hinter jedem umgestürzten Baum nach. Wir haben jedes Gebäude, jeden Schornstein, jeden Brunnen, jede Scheune und jeden Dachboden durchsucht.«

Der alte Mann wandte den Blick von Mikael ab und starrte in die Dunkelheit vor seinem Fenster. Seine Stimme bekam einen tieferen und persönlicheren Klang.

»Den ganzen Herbst suchte ich sie, auch nachdem die Suche offiziell eingestellt worden war. Da ich mich nicht unbedingt meiner Arbeit widmen musste, begann ich Spaziergänge auf der Insel zu machen, von einem Ende zum anderen. Es wurde Winter, ohne dass wir die geringste Spur von ihr gefunden hätten. Im Frühjahr suchte ich immer noch nach ihr, obwohl ich einsah, dass es sinnlos war. Als es Sommer wurde, heuerte ich drei erfahrene Waldarbeiter an, die mit Spürhunden alles noch einmal von vorne absuchten. Sie durchkämmten systematisch jeden Quadratmeter dieser Insel. Zu jenem Zeitpunkt begann ich zu glauben, dass ihr jemand etwas angetan haben könnte. Sie suchten nach einem verborgenen Grab, drei Monate lang, ohne Resultat. Es war, als hätte sie sich in Luft aufgelöst.«

»Ich kann mir eine ganze Menge Alternativen vorstellen«, wandte Mikael ein.

»Ich höre.«

»Sie kann ertrunken sein oder sich ertränkt haben. Das hier ist eine Insel, und Wasser kann fast alles verbergen.«

»Das stimmt. Aber die Wahrscheinlichkeit ist nicht groß. Bedenken Sie: Wenn Harriet einem Unfall zum Opfer gefallen und ertrunken wäre, dann müsste das logischerweise irgendwo hier in der Nähe des Ortes passiert sein. Und vergessen Sie nicht, dass der ganze Wirbel auf der Brücke seit Jahrzehnten das dramatischste Ereignis auf dieser Insel war - nicht gerade der Augenblick, den eine Sechzehnjährige sich aussucht, um einen Spaziergang zur anderen Seite der Insel zu unternehmen.

Noch wichtiger ist jedoch«, fuhr er fort, »dass es hier keine nennenswerten Strömungen gibt und der Wind im Frühherbst aus Norden oder Nordosten kommt. Wenn da etwas ins Wasser fällt, wird es irgendwo an der Küste des Festlands angeschwemmt, und die ist fast durchgehend besiedelt. Wir haben dies natürlich in Erwägung gezogen und suchten alle Stellen ab, wo sie eventuell ins Wasser hätte gehen können. Ich heuerte auch ein paar Jungs vom Taucherclub in Hedestad an. Wir haben hier hauptsächlich Sand- und Lehmboden. Sie verbrachten den Sommer damit, den Meeresgrund im Sund abzusuchen … keine Spur. Ich bin überzeugt, dass sie nicht im Wasser liegt, ansonsten hätten wir sie gefunden.«

»Aber kann sie nicht auch anderswo verunglückt sein? Die Brücke war zwar gesperrt, aber es ist nicht sonderlich weit bis zum Festland. Sie kann hinübergeschwommen oder gerudert sein.«

»Es war Ende September und das Wasser so kalt, dass Harriet kaum zum Baden gegangen sein dürfte, als hier der große Wirbel losging. Wäre sie zum Festland hinübergeschwommen, hätte man sie außerdem beobachtet. Dutzende von Augen auf der Brücke, und auf der Festlandseite standen zwei- bis dreihundert Menschen am Wasser und schauten dem Spektakel zu.«

»Ein Ruderboot?«

»Nein. An jenem Tag hatten wir hier auf der Insel genau dreizehn Boote. Unten am Bootshafen lagen zwei Petterson-Boote. Es gab sieben Ruderboote, von denen fünf schon an Land geholt worden waren. Neben dem Pfarrhaus lag ein Ruderboot an Land und eins im Wasser. Hinten beim Östergården gab es noch ein Motorboot und ein Ruderboot. All diese Boote sind registriert und lagen an ihrem Platz. Wenn sie hinübergerudert und weggelaufen wäre, hätte sie das Boot aber auf der anderen Seite lassen müssen.«

Vanger hielt einen vierten Finger in die Höhe.

»Damit bleibt nur eine einzige logische Möglichkeit: Harriet verschwand gegen ihren Willen. Jemand hat ihr etwas angetan und ihren Körper verschwinden lassen.«

Lisbeth Salander verbrachte den Weihnachtsmorgen mit der Lektüre von Mikael Blomkvists kontroversem Buch über Wirtschaftsjournalismus. Es hatte zweihundertzehn Seiten, trug den Titel Die Tempelritter und den Untertitel Strafaufgabe für Wirtschaftsjournalisten. Auf dem von Christer Malm trendy gestalteten Cover war die Stockholmer Börse abgebildet. Er hatte das Motiv mit Photoshop bearbeitet, und erst nach längerem Hinsehen fiel dem Betrachter auf, dass das Gebäude in der Luft schwebte. Es gab keinen festen Boden. Man konnte sich schwerlich ein Cover vorstellen, das besser angedeutet hätte, was im Buch folgen würde.

Salander stellte fest, dass Blomkvist ein ausgezeichneter Stilist war. Das Buch war geradlinig und interessant geschrieben, sodass auch Leute ohne Einblick in die Irrwege des Wirtschaftsjournalismus es mit Gewinn lesen konnten. Der Ton war bissig und sarkastisch, aber vor allem überzeugend.