Выбрать главу

Henrik Vanger verstummte und deutete auf eine Lücke in der Bilderreihe. Mikael spürte, wie sich ihm plötzlich die Nackenhaare aufstellten. Die ganze Wand war voll mit gepressten Blumen.

»1967, ein Jahr nachdem sie verschwunden war, bekam ich an meinem Geburtstag diese Blume. Es ist ein Veilchen.«

»Wie haben Sie die Blume bekommen?«, fragte Mikael leise.

»Mit der Post, in Geschenkpapier verpackt und in einem wattierten Umschlag. In Stockholm abgeschickt. Kein Absender. Keine Nachricht.«

»Sie wollen damit sagen, dass …« Mikael wedelte mit der Hand.

»Genau. Jedes verdammte Jahr an meinem Geburtstag. Können Sie sich vorstellen, was für ein Gefühl das ist? Das ist gegen mich gerichtet, als ob der Täter mich quälen wollte. Wieder und wieder habe ich mich gefragt, ob Harriet beseitigt wurde, weil jemand eigentlich mich treffen wollte. Es war kein Geheimnis, dass Harriet und ich ein besonderes Verhältnis hatten und dass ich sie als meine eigene Tochter betrachtete.«

»Was soll ich für Sie tun?«, fragte Mikael entschieden.

Nachdem Lisbeth Salander den Corolla in der Tiefgarage von Milton Security abgestellt hatte, nutzte sie die Gelegenheit, die Bürotoilette zu benutzen. Sie öffnete die Tür mit ihrer Magnetkarte und fuhr direkt in den dritten Stock, um nicht durch den Haupteingang im zweiten Stock gehen zu müssen, wo die Nachtwache saß. Sie suchte die Toilette auf und holte sich eine Tasse Kaffee von der Espressomaschine, die Dragan Armanskij angeschafft hatte, nachdem ihm klar geworden war, dass sie niemals Kaffee kochen würde, nur weil es von ihr erwartet wurde. Anschließend ging sie in ihr Büro und hängte ihre Lederjacke über einen Stuhl.

Ihr Büro war ein zwei mal drei Meter großer Raum, der sich vor einer Glaswand befand. Er war mit einem Schreibtisch und einem älteren Dell PC ausgestattet, einem Bürostuhl, einem Papierkorb, einem Telefon und einem Bücherregal. Im Bücherregal lagen ein Satz Telefonbücher und drei leere Notizblöcke. Die beiden Schreibtischschubladen enthielten ein paar ausgediente Kugelschreiber, Büroklammern und einen Notizblock. Auf dem Fensterbrett stand eine tote Blume mit braunen verwelkten Blättern. Lisbeth Salander musterte sie einen Moment lang nachdenklich, bevor sie die Blume entschlossen in den Papierkorb warf.

Sie hatte selten etwas in ihrem Büro zu erledigen und besuchte es vielleicht ein halbes Dutzend Mal pro Jahr, hauptsächlich, wenn sie einen Bericht kurz vor der Abgabe noch einmal ungestört überarbeiten wollte. Dragan Armanskij hatte darauf bestanden, dass sie einen eigenen Platz bekam. Sein Hintergedanke war, dass sie sich als ein Teil des Unternehmens fühlen sollte, auch wenn sie nur auf freier Basis arbeitete. Sie selbst hatte Armanskij im Verdacht, dass er hoffte, auf diese Art ein wachsames Auge auf sie haben zu können und sich in ihre Privatangelegenheiten zu mischen. Anfangs hatte sie sich ein größeres Zimmer mit einem Kollegen teilen sollen. Aber da sie nie dort war, hatte Armanskij ihr schließlich den freien Verschlag zugewiesen.

Lisbeth Salander holte die Manschette hervor, die sie von Plague bekommen hatte. Sie legte sie vor sich auf den Tisch und betrachtete sie nachdenklich, während sie an ihrer Unterlippe knabberte und überlegte.

Es war nach elf Uhr abends, und sie war alleine auf der Etage.

Sie stand auf, ging zum Büro am Ende des Flurs und drückte versuchsweise die Klinke zu Dragan Armanskijs Büro herunter. Abgeschlossen. Sie sah sich um.

Die Wahrscheinlichkeit, dass am 26. Dezember gegen Mitternacht jemand auf dem Korridor auftauchen würde, ging gegen null. Sie öffnete die Tür mit einem heimlich angefertigten Duplikat des Generalschlüssels, das sie sich vor ein paar Jahren besorgt hatte.

Armanskijs geräumiges Zimmer enthielt einen Schreibtisch, Besucherstühle und einen kleinen Konferenztisch in der Ecke, der acht Personen Platz bot. Es war tadellos aufgeräumt. Sie hatte lange nicht mehr bei ihm herumgeschnüffelt, doch wenn sie jetzt schon einmal hier war … Sie verbrachte eine Stunde an seinem Schreibtisch und brachte sich in diversen Angelegenheiten auf den neuesten Stand: wie die Suche nach einem mutmaßlichen Unternehmensspion voranging, welche Personen in ein Unternehmen eingeschleust wurden, in dem eine organisierte Diebesbande ihr Unwesen trieb, und welche Maßnahmen ergriffen worden waren, um eine Klientin zu schützen, die befürchtete, dass ihre Kinder von ihrem Vater entführt werden könnten.

Zum Schluss legte sie alle Papiere wieder so zurück, wie sie sie vorgefunden hatte, schloss die Tür von Armanskijs Büro ab und ging nach Hause in die Lundagata. Sie war zufrieden mit diesem Tag.

Mikael Blomkvist schüttelte abermals den Kopf. Henrik Vanger hatte hinter seinem Schreibtisch Platz genommen und sah Mikael ruhig an, als wäre er schon auf alle Einwände vorbereitet.

»Ich weiß nicht, ob wir jemals die Wahrheit erfahren, aber ich will nicht sterben, ohne einen letzten Versuch unternommen zu haben«, sagte der alte Mann. »Ich möchte Sie beauftragen, sämtliches Beweismaterial noch ein letztes Mal durchzugehen.«

»Das ist doch verrückt«, sagte Mikael.

»Warum sollte das verrückt sein?«

»Ich habe genug gehört, Henrik. Ich verstehe Ihre Trauer, aber ich möchte auch ehrlich zu Ihnen sein. Was Sie von mir wollen, ist nichts als Verschwendung von Zeit und Geld. Sie bitten mich, die Lösung eines Mysteriums herbeizuführen, an dem Kriminalpolizisten und professionelle Ermittler über die Jahre gescheitert sind, obwohl sie auf viel mehr Erfahrung und bessere Hilfsmittel zurückgreifen konnten als ich. Sie bitten mich, ein Verbrechen aufzuklären, das vor fast vierzig Jahren begangen wurde. Wie soll ich das denn anstellen?«

»Wir haben noch nicht über Ihr Honorar gesprochen«, gab Henrik Vanger zurück.

»Das ist auch gar nicht nötig.«

»Wenn Sie Nein sagen, kann ich Sie nicht zwingen. Aber hören Sie sich an, was ich Ihnen anbieten möchte. Dirch Frode hat bereits einen Vertrag aufgesetzt. Einzelheiten können wir noch verhandeln, aber der Vertrag ist einfach, es fehlt nur noch Ihre Unterschrift.«

»Es ist zwecklos, Henrik. Ich kann das Rätsel von Harriets Verschwinden nicht lösen.«

»Das brauchen Sie auch gar nicht. Alles, was ich will, ist, dass Sie Ihr Bestes tun. Wenn es Ihnen nicht gelingt, ist es Gottes Wille oder - falls Sie nicht an Gott glauben - eben Schicksal.«

Mikael seufzte. Ihm wurde immer unbehaglicher zumute und er wollte seinen Besuch in Hedeby gerne beenden, doch schließlich gab er nach.

»Erklären Sie mir, was Sie wollen.«

»Ich will, dass Sie ein Jahr lang hier in Hedeby wohnen und arbeiten. Ich will, dass Sie den ganzen Untersuchungsbericht zu Harriets Verschwinden durchgehen, Seite für Seite. Ich will, dass Sie alles mit unvoreingenommenen Augen untersuchen. Ich will, dass Sie alle alten Schlussfolgerungen infrage stellen, wie es sich für einen Journalisten gehört, wenn er Recherchen betreibt. Ich will, dass Sie Details nachsehen, die ich und die Polizei und andere Ermittler möglicherweise übersehen haben.«

»Sie bitten mich, für ein Jahr mein ganzes Leben und meine Karriere aufzugeben, um etwas zu tun, das auf völlige Zeitverschwendung hinausläuft?«

Plötzlich lächelte Henrik Vanger.

»Was Ihre Karriere angeht, sind wir uns wohl einig, dass sie momentan doch ziemlich auf Eis liegt.«

Darauf konnte Mikael nichts entgegnen.

»Ich will Ihnen ein Jahr Ihres Lebens abkaufen. Für einen Job. Der Lohn ist besser als für jedes andere Angebot, das Sie jemals kriegen könnten. Ich bezahle Ihnen 200 000 Kronen im Monat, also 2,4 Millionen Kronen, wenn Sie einwilligen und ein ganzes Jahr bleiben.«

Mikael saß stumm in seinem Sessel.

»Ich mache mir keine Illusionen. Ich weiß, dass Ihre Erfolgschancen minimal sind. Aber wenn Sie das Rätsel wider Erwarten doch lösen sollten, verdoppele ich Ihr Honorar auf 4,8 Millionen Kronen. Ach, seien wir großzügig - runden wir’s auf 5 Millionen auf.«