In der Zwischenzeit hatte es an der Küste von Norrland heftig geschneit. Den Spuren der Räumfahrzeuge und den aufgehäuften Schneebergen nach zu urteilen, hatte der Winterdienst in Hedestad auf Hochtouren gearbeitet. Der Taxifahrer, der laut Ausweis an der Windschutzscheibe Hussein hieß, schüttelte den Kopf, als Mikael fragte, ob das Wetter sehr hart gewesen sei. Er erklärte in breitestem Norrland-Dialekt, es sei der schwerste Schneesturm seit Jahrzehnten gewesen, und er bereue es bitter, über Weihnachten nicht in Griechenland Urlaub gemacht zu haben.
Mikael dirigierte das Taxi zu Henrik Vangers frisch geräumter Auffahrt, wo er die Koffer auf dem Treppenabsatz abstellte und dem Auto hinterhersah, als es wieder Richtung Hedestad verschwand. Plötzlich fühlte er sich einsam und verunsichert. Vielleicht hatte Erika recht gehabt, als sie das ganze Projekt als verrückt bezeichnete.
Er hörte, wie die Tür hinter ihm aufging, und drehte sich um. Henrik Vanger war in einen dicken Ledermantel gehüllt, trug solide Stiefel und eine Mütze mit Ohrenklappen. Mikael stand in Jeans und einer dünnen Lederjacke vor ihm.
»Wenn Sie hier wohnen, müssen Sie lernen, sich in dieser Jahreszeit besser anzuziehen.« Sie gaben sich die Hand. »Sind Sie sicher, dass Sie nicht im großen Haus wohnen wollen? Nein? Dann fangen wir wohl am besten damit an, dass Sie sich in Ihrer neuen Wohnung einrichten, denke ich.«
Mikael nickte. Eine seiner Forderungen in den Verhandlungen mit Vanger und Frode war gewesen, dass er seinen eigenen Haushalt führte und nach Belieben kommen und gehen konnte. Vanger führte Mikael wieder auf die Straße und bog durch ein Tor auf einen frisch geräumten Hof mit einem Holzhäuschen, das sich unmittelbar neben der Brücke befand. Es war unverschlossen, und der alte Mann hielt ihm die Tür auf. Sie traten in einen kleinen Vorraum, wo Mikael mit einem Seufzer der Erleichterung seine Koffer abstellte.
»Das ist unser sogenanntes Gästehäuschen, hier quartieren wir Leute ein, die etwas länger bleiben. Hier haben Sie 1963 mit Ihren Eltern gewohnt. Es ist tatsächlich eines der ältesten Häuser am Ort, aber es ist modernisiert worden. Ich habe Gunnar Nilsson - das ist mein Hausmeister - heute Morgen einheizen lassen.«
Das ganze Haus bestand aus einer großen Küche und zwei kleineren Zimmern, insgesamt ungefähr 50 Quadratmeter. Die Küche beanspruchte die Hälfte der Fläche und war modern ausgestattet: Elektroherd, kleiner Kühlschrank und fließend Wasser. Auf dem Flur stand aber auch noch ein alter gusseiserner Ofen, mit dem tagsüber eingeheizt worden war.
»Diesen Ofen brauchen Sie nicht zu benutzen, außer wenn es wirklich eiskalt ist. Der Holzkasten steht draußen im Vorraum, und hinterm Haus ist noch ein Holzschuppen. Das Häuschen steht seit dem Herbst leer. Wir haben heute Morgen Feuer gemacht, um einmal richtig durchzuheizen. Aber für den täglichen Gebrauch reicht der Elektro-Radiator. Sie dürfen bloß keine Kleidung drauflegen, die kann anfangen zu brennen.«
Mikael nickte und sah sich um. Die Fenster gingen in drei Richtungen; vom Küchentisch aus hatte man die ungefähr dreißig Meter entfernte Brücke im Blick. Ansonsten war die Küche mit ein paar großen Schränken, Küchenstühlen, einem alten Küchensofa und einem Regal mit Zeitungen möbliert. Ganz obenauf lag eine alte Zeitschrift von 1967. In der Ecke stand ein Abstelltisch, der als Schreibtisch herhalten konnte.
Die Küchentür befand sich auf der einen Seite des gusseisernen Ofens. Auf der anderen Seite führten zwei schmale Türen in die kleinen Zimmer. Das rechte, das näher an der Außenwand war und als Arbeitszimmer diente, war eher eine Kammer, möbliert mit einem kleinen Schreibtisch, einem Stuhl und einem Regal, die hintereinander an der Längswand standen. Das andere Zimmer, zwischen dem Eingangsflur und Arbeitszimmer gelegen, war eine ziemlich kleine Schlafkammer. Die Möblierung bestand aus einem schmalen Doppelbett, einem Nachttischchen und einem Kleiderschrank. An den Wänden hingen ein paar Bilder mit Naturmotiven. Die Möbel und Tapeten im ganzen Haus waren alt und ausgeblichen, aber es roch sauber und angenehm. Irgendjemand hatte sich mit einer ordentlichen Portion Schmierseife über den Boden hergemacht. In der Schlafkammer gab es noch eine seitliche Tür, die in den Vorraum zurückführte, wo eine alte Abstellkammer zu einer Toilette mit kleiner Dusche umgebaut worden war.
»Mit dem Wasser kann es manchmal Probleme geben«, erklärte Henrik Vanger. »Wir haben heute Morgen überprüft, ob es funktioniert, aber die Rohre liegen zu nah an der Oberfläche, und wenn sich die Kälte länger hält, können sie zufrieren. Draußen steht ein Eimer. Wenn nötig, können Sie hochkommen und bei uns Wasser holen.«
»Ich werde ein Telefon brauchen«, sagte Mikael.
»Habe ich schon angefordert. Sie kommen morgen vorbei und installieren alles. Na, was sagen Sie? Wenn Sie Ihre Meinung ändern, können Sie immer noch ins große Haus ziehen.«
»Es ist ganz wunderbar hier«, antwortete Mikael. Er war jedoch längst nicht überzeugt, dass die Situation, in die er sich gebracht hatte, vernünftig war.
»Gut. Es ist noch eine Stunde hell. Wenn wir noch eine Runde gehen, können Sie sich mit der Stadt vertraut machen. Aber ich schlage vor, Sie ziehen sich Stiefel und warme Socken an. Sie finden alles im Schrank, draußen im Vorraum.«
Mikael folgte Vangers Rat und beschloss, sich schon morgen lange Unterhosen und ein Paar vernünftige Winterschuhe zu besorgen.
Der alte Mann erklärte Mikael zu Beginn ihres Rundgangs, dass schräg gegenüber von Mikael Gunnar Nilsson wohnte, der Gehilfe, den Henrik Vanger hartnäckig als »Hausknecht« bezeichnete, obwohl er, wie Mikael bald begriff, eher Hausmeister sämtlicher Gebäude auf der Hedeby-Insel und zusätzlich als Verwalter für ein paar Häuser in Hedestad verantwortlich war.
»Sein Vater war Magnus Nilsson, der in den sechziger Jahren mein Hausknecht war. Er gehörte bei dem Unfall auf der Brücke zu den Helfern. Magnus lebt noch, aber er ist schon pensioniert und wohnt in Hedestad. In diesem Haus hier wohnt Gunnar mit seiner Frau, Helen heißt sie. Ihr Kind ist schon weggezogen.«
Henrik Vanger machte eine Pause und überlegte kurz, bevor er weitersprach.
»Mikael, die offizielle Erklärung für Ihren Aufenthalt ist übrigens, dass Sie mir bei meiner Autobiografie helfen. Das verschafft Ihnen einen Vorwand, in allen möglichen dunklen Ecken zu stöbern und den Leuten Fragen zu stellen. Ihr wahrer Auftrag ist eine Angelegenheit zwischen Ihnen und mir und Dirch Frode. Wir drei sind die Einzigen, die davon Kenntnis haben.«
»Verstehe. Aber ich möchte noch einmal wiederholen, was ich Ihnen bereits gesagt habe: Es ist Zeitverschwendung. Ich werde das Rätsel auch nicht lösen können.«
»Alles, was ich will, ist, dass Sie es versuchen. Aber wir müssen aufpassen, was wir sagen, wenn Leute in der Nähe sind.«
»Okay.«
»Gunnar ist sechsundfünfzig, war also neunzehn Jahre alt, als Harriet verschwand. Auf eine Frage habe ich niemals eine Antwort erhalten - Harriet und Gunnar waren gute Freunde, und ich glaube, es gab da so eine Art kindliche Romanze zwischen den beiden. Jedenfalls war er sehr interessiert an Harriet. An dem Tag, an dem sie verschwand, hielt er sich jedoch in Hedestad auf und blieb auf der Festlandseite hängen, als die Brücke blockiert war. Aufgrund ihres Verhältnisses wurde er natürlich besonders sorgfältig unter die Lupe genommen, nachdem Harriet verschwunden war. Es war ziemlich unangenehm für ihn, doch sein Alibi war hieb- und stichfest. Er war den ganzen Tag mit Freunden zusammen und kam erst spätabends wieder hierher zurück.«