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»Ich schätze, Sie haben ein komplettes Verzeichnis, welche Personen auf der Insel waren und wer wann was getan hat.«

»Richtig. Wollen wir weitergehen?«

An der Kreuzung auf der Anhöhe vor seinem Haus blieb Henrik Vanger erneut stehen und zeigte hinunter zum alten Fischerhafen.

»Der gesamte Grund und Boden auf der Hedeby-Insel gehört der Familie Vanger, genauer gesagt, mir. Der Hof von Östergården und ein paar Häuser sind die einzigen Ausnahmen. Die Häuschen da unten am Fischerhafen gehören auch nicht mir, aber das sind Sommerhäuser, die im Winter größtenteils unbewohnt sind. Außer der Baracke ganz hinten - wie Sie sehen, raucht dort der Schornstein.«

Mikael nickte. Er fror bereits bis ins Mark.

»Das ist eine elende, zugige Bruchbude, die das ganze Jahr über bewohnt wird. Dort wohnt Eugen Norman, ein siebenundsiebzigjähriger Maler. Ich finde seine Bilder kitschig, aber er ist ein ziemlich bekannter Naturmaler - gewissermaßen der obligatorische Sonderling der Stadt. Wenn Sie ihn treffen, werden Sie verstehen, was ich meine.«

Henrik Vanger führte ihn die Straße entlang bis zur Landzunge und sagte ihm etwas zu jedem Haus. Die Siedlung bestand aus sechs Häusern auf der westlichen und vier auf der östlichen Seite der Straße. Das erste Haus, das Mikaels Häuschen und Vangers Anwesen am nächsten lag, gehörte Henrik Vangers Bruder Harald. Es war ein viereckiges, zweistöckiges Steinhaus, das auf den ersten Blick verlassen aussah: Die Vorhänge vor den Fenstern waren zugezogen, der Weg zur Tür war nicht geräumt und lag unter einem halben Meter Schnee begraben. Auf den zweiten Blick verrieten Fußabdrücke, dass jemand zwischen Straße und Haustür durch den Schnee gestapft war.

»Harald ist ein Einzelgänger. Wir haben uns nie verstanden. Abgesehen von Streitereien wegen des Unternehmens - er ist ja Teilhaber - haben wir fast sechzig Jahre kaum miteinander gesprochen. Er ist älter als ich, zweiundneunzig, und der Einzige meiner fünf Brüder, der noch lebt. Ich erzähle Ihnen später die Details. Er hat Medizin studiert und dann vor allem in Uppsala gearbeitet. Als er siebzig wurde, ist er nach Hedeby zurück gezogen.«

»Sie mögen sich also nicht. Trotzdem wohnen Sie in unmittelbarer Nachbarschaft.«

»Ich kann ihn nicht ausstehen und hätte es lieber gehabt, wenn er in Uppsala geblieben wäre, aber das Haus gehört ihm. Höre ich mich an wie ein Schuft?«

»Sie hören sich so an wie jemand, der seinen Bruder nicht mag.«

»Ich habe die ersten fünfundzwanzig, dreißig Jahre meines Lebens damit verbracht, solche Menschen wie Harald zu entschuldigen und ihnen zu verzeihen, weil sie nun mal zur Verwandtschaft gehörten. Dann ging mir auf, dass Verwandtschaft kein Garant für Liebe ist und ich sehr wenig Gründe hatte, Harald in Schutz zu nehmen.«

Das nächste Haus gehörte Isabella, Harriet Vangers Mutter.

»Sie wird dieses Jahr fünfundsiebzig und ist immer noch schick und eitel. Außerdem ist sie die Einzige in der Stadt, die mit Harald spricht und ihn ab und zu besucht, aber besonders viel gemeinsam haben sie nicht.«

»Wie war das Verhältnis zwischen Harriet und ihr?«

»Richtiger Gedanke. Auch dieses Weib gehört zum Kreis der Verdächtigen. Ich habe Ihnen ja erzählt, dass sie verantwortungslos war und die Kinder oft sich selbst überließ. Ich weiß nicht recht, ich glaube, dass sie eigentlich guten Willens war, aber die Verantwortung nicht tragen konnte. Harriet und sie standen sich nicht sonderlich nahe, aber auch nicht feindlich gegenüber. Isabella kann schon schwierig sein, manchmal ist sie ein bisschen seltsam. Wenn Sie ihr begegnen, werden Sie verstehen, was ich meine.«

Isabellas Nachbarin war eine Cecilia Vanger, die Tochter von Harald Vanger.

»Sie war früher in Hedestad verheiratet, hat sich aber vor knapp zwanzig Jahren getrennt. Das Haus gehört mir, und ich habe ihr angeboten, dort einzuziehen. Cecilia ist Lehrerin und in vieler Hinsicht das komplette Gegenteil ihres Vaters. Eines der wenigen Mitglieder des Vangerschen Familienkreises, das ich wirklich mag. Ich kann Ihnen noch verraten, dass sie und ihr Vater auch nicht mehr als notwendig miteinander sprechen.«

»Wie alt ist sie?«

»Jahrgang 1946. Sie war also zwanzig, als Harriet verschwand. Und ja, sie war an jenem Tag auch unter den Gästen auf der Insel.«

Er überlegte einen Moment.

»Cecilia kann ziemlich fahrig wirken, aber eigentlich ist sie hochintelligent. Unterschätzen Sie sie nicht. Wenn jemand dahinterkommt, womit Sie sich hier wirklich beschäftigen, dann sie. Ich würde sagen, sie ist eine der Verwandten, die ich am meisten schätze.«

»Heißt das, Sie verdächtigen sie nicht?«

»Das würde ich nicht sagen. Ich möchte, dass Sie die Sache vorbehaltlos untersuchen, unabhängig von dem, was ich sage oder glaube.«

Das Haus neben Cecilias gehörte Henrik Vanger, war aber an ein älteres Paar vermietet, das früher leitende Positionen im Konzern gehabt hatte. Sie waren in den achtziger Jahren auf die Hedeby-Insel gezogen und hatten mit Harriets Verschwinden nichts zu tun. Das nächste Haus gehörte Birger Vanger, dem Bruder von Cecilia. Das Haus stand seit mehreren Jahren leer, da Birger sich in einem modernen Einfamilienhaus in Hedestad niedergelassen hatte.

Die meisten Häuser an der Straße waren solide Steinbauten, die zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts gebaut worden waren. Das letzte Haus unterschied sich im Charakter von ihnen: Es war ein modernes, architektonisch ambitioniertes Einfamilienhaus aus weißem Backstein mit dunklen Fensterrahmen. Es war schön gelegen, und Mikael konnte erkennen, dass die Sicht aus dem Obergeschoss grandios sein musste, aufs Meer im Osten und auf Hedestad im Norden.

»Hier wohnt Martin Vanger, Harriets Bruder und Geschäftsführer des Konzerns. Früher stand auf diesem Grundstück Otto Falks Pfarrhaus, aber das Gebäude wurde bei einem Brand in den siebziger Jahren teilweise zerstört. Martin baute sich dieses Haus 1978, als er die Geschäftsführung übernahm.«

Am östlichsten Ende der Straße wohnten Gerda Vanger, die Witwe eines Bruders von Henrik, und ihr Sohn Alexander.

»Gerda ist kränklich, sie leidet unter Rheumatismus. Alexander hat einen kleinen Anteil am Vanger-Konzern, betreibt aber ein paar eigene Unternehmen, Restaurants unter anderem. Er verbringt jedes Jahr ein paar Monate auf den Westindischen Inseln, auf Barbados, wo er einiges an Geld in die Touristikbranche gesteckt hat.«

Zwischen Gerdas und Henriks Haus befand sich ein Grundstück mit zwei kleineren Gebäuden, die leer standen und als Gästehäuschen dienten, wenn Familienmitglieder zu Besuch kamen. Auf der anderen Seite von Henriks Anwesen stand ein Haus, das von einem weiteren pensionierten Angestellten des Unternehmens gekauft worden war. Er bewohnte es mit seiner Frau; es stand jedoch leer, wenn das Paar den Winter in Spanien verbrachte.

Sie waren wieder an der Kreuzung angekommen, damit war ihr Rundgang abgeschlossen. Es begann schon zu dämmern. Mikael ergriff die Initiative.

»Ich kann immer nur wiederholen, Henrik: Diese ganze Geschichte hier wird sich nicht lohnen. Aber ich werde tun, wofür Sie mich eingestellt haben. Ich werde behaupten, dass ich Ihre Biografie schreibe, und werde Ihrem Wunsch entsprechend das gesamte Material über Harriet so sorgfältig und kritisch durchlesen, wie ich nur kann. Ich möchte nur, dass Sie sich darüber im Klaren sind, dass ich kein Privatdetektiv bin. Setzen Sie also keine überhöhten Erwartungen in mich.«

»Ich erwarte gar nichts. Ich will nur einen letzten Versuch unternehmen, die Wahrheit herauszufinden.«

»Gut.«

»Ich bin ein Nachtmensch«, erklärte Vanger, »und werde immer ab Mittag für Sie erreichbar sein. Ich lasse Ihnen ein Arbeitszimmer hier oben einrichten, über das Sie frei verfügen können.«

»Nein, danke. Ich habe schon ein Arbeitszimmer im Gästehaus, und dort werde ich auch arbeiten.«

»Wie Sie wollen.«

»Unsere Gespräche könnten wir in Ihrem Arbeitszimmer führen. Aber heute Abend werde ich Sie noch nicht mit Fragen bestürmen.«