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Alle halbe Stunde war ein einzelner kurzer, gedämpfter Ton von der Kirchenglocke zu hören. Die Fenster bei Hausmeister Gunnar Nilsson auf der anderen Straßenseite waren erleuchtet, aber Mikael konnte niemanden im Haus sehen. In Harald Vangers Haus war es dunkel. Gegen neun fuhr ein Auto über die Brücke und verschwand in Richtung Landzunge. Um Mitternacht wurde die Beleuchtung der Kirchenfassade ausgeschaltet. So sahen in Hedeby wohl unterm Strich die Vergnügungen an einem Freitagabend Anfang Januar aus. Es war erstaunlich still.

Er unternahm einen neuen Versuch, Erika anzurufen. Diesmal war der Anrufbeantworter dran, und er wurde gebeten, eine Nachricht zu hinterlassen. Das tat er, dann machte er das Licht aus und legte sich schlafen. Sein letzter Gedanke vor dem Einschlafen war, dass unmittelbare Gefahr bestand, in Hedeby einen Koller zu bekommen.

Es war seltsam, bei absoluter Stille zu erwachen. Mikael, der gerade noch tief geschlafen hatte, war innerhalb von Sekundenbruchteilen hellwach. Er blieb liegen und horchte. Im Zimmer war es kalt. Er drehte den Kopf und sah auf die Armbanduhr, die er auf einen Hocker neben dem Bett gelegt hatte. Es war acht Minuten nach sieben - er war noch nie ein Morgenmensch gewesen und wurde normalerweise nur schwer wach, wenn er nicht mindestens zwei Wecker stellte. Nun war er von selbst aufgewacht und fühlte sich obendrein auch noch ausgeruht.

Er setzte Kaffee auf, bevor er sich unter die Dusche stellte und plötzlich das lustvolle Gefühl erlebte, sich selbst zu beobachten. Kalle Blomkvist - Forschungsreisender in der Wildnis.

Bei der geringsten Berührung des Boilers wechselte die Wassertemperatur von brühheiß zu eiskalt. Auf dem Küchentisch lag keine Morgenzeitung. Die Butter war tiefgefroren. In der Besteckschublade lag kein Käsehobel. Draußen war es immer noch pechschwarz. Das Thermometer zeigte 21 Grad minus. Es war Samstag.

Die Bushaltestelle lag dem Supermarkt genau gegenüber, und Mikael begann sein Leben im Exil damit, seine Shoppingpläne in die Tat umzusetzen. Er stieg am Bahnhof aus dem Bus und ging einmal quer durch die Innenstadt. Er kaufte dick gefütterte Winterstiefel, zwei Paar lange Unterhosen, einige warme Flanellhemden, eine ordentliche halblange wattierte Winterjacke, eine warme Mütze und gefütterte Handschuhe. Im Elektrogeschäft fand er einen kleinen tragbaren Fernseher mit Teleskopantenne. Der Verkäufer versicherte ihm, dass er auch im entlegenen Hedeby zumindest das staatliche Schwedische Fernsehen empfangen könne, und Mikael kündigte an, sein Geld zurückzuverlangen, falls das nicht stimmte.

Er machte halt bei der Bibliothek, legte sich einen Mitgliedsausweis zu und lieh sich zwei Krimis von Elizabeth George aus. In einem Schreibwarenladen besorgte er sich Kugelschreiber und Notizblöcke.

Zum Schluss kaufte er noch eine Schachtel Zigaretten. Er hatte vor zehn Jahren mit dem Rauchen aufgehört, doch ab und zu erlitt er Rückfälle und verspürte plötzlich unglaubliche Lust auf Nikotin. Die Schachtel steckte er ungeöffnet in seine Jackentasche. Sein letzter Besuch galt einem Optiker, bei dem er Reinigungsflüssigkeit kaufte und sich neue Kontaktlinsen bestellte.

Gegen zwei Uhr war er zurück in Hedeby und entfernte gerade die Preisschilder von seinen neuen Kleidern, als er die Tür gehen hörte. Eine blonde Frau um die fünfzig klopfte an den Türrahmen und trat gleichzeitig über die Schwelle. Sie hatte einen Napfkuchen auf einer Kuchenplatte dabei.

»Hallo, ich wollte Sie nur willkommen heißen. Ich heiße Helen Nilsson und wohne auf der anderen Straßenseite. Wir sind quasi Nachbarn.«

Mikael gab ihr die Hand und stellte sich vor.

»Ach ja, ich habe Sie im Fernsehen gesehen. Wie schön, dass hier abends Licht im Gästehaus brennt.«

Mikael setzte Kaffee auf - sie protestierte zwar, setzte sich aber doch an den Küchentisch und warf einen kurzen Blick aus dem Fenster.

»Da kommen Henrik und mein Mann. Sieht so aus, als brächten sie Ihnen ein paar Kartons vorbei.«

Henrik Vanger und Gunnar Nilsson blieben mit ihrem Karren draußen stehen, und Mikael ging hinaus, um ihnen die Hand zu schütteln und Gunnar beim Reintragen der vier Umzugskartons zu helfen. Der Hausmeister schien nicht zu wissen, was in den Kartons war. Dann stellten sie den Karren neben dem eisernen Ofen ab, Mikael deckte den Kaffeetisch und schnitt Helens Kuchen an.

Gunnar und Helen Nilsson waren nette Menschen. Sie schienen nicht sonderlich neugierig darauf zu sein, warum Mikael sich in Hedestad aufhielt - dass er für Henrik Vanger arbeitete, schien ihnen Erklärung genug. Mikael beobachtete, wie die Nilssons und Henrik Vanger miteinander umgingen, und stellte fest, dass sie sich ungezwungen verhielten und es keine sichtbare hierarchische Rollenverteilung gab. Sie unterhielten sich über die Stadt und darüber, wer das Gästehaus gebaut hatte, in dem Mikael wohnte. Das Ehepaar Nilsson korrigierte Vanger, als er sich falsch erinnerte, und er erzählte im Gegenzug eine witzige Geschichte, wie Gunnar Nilsson einmal nach Hause gekommen war und beobachtet hatte, wie eine der ortsansässigen Intelligenzbestien von der anderen Seite der Brücke versuchte, durchs Fenster ins Gästehaus einzusteigen. Er war hinübergegangen und hatte den zurückgebliebenen Einbrecher gefragt, warum er nicht die unverschlossene Haustür benutze. Dann musterte Gunnar Nilsson skeptisch den kleinen Fernseher und bot Mikael an, abends zu ihnen rüberzukommen, wenn es irgendeine Sendung gab, die er sehen wolle. Sie hatten eine Parabolantenne.

Nachdem die Nilssons gegangen waren, blieb Henrik Vanger noch ein wenig. Der alte Mann hielt es für das Beste, wenn Mikael das Archiv selbst sortierte. Falls er ein Problem habe, könne er zu ihm kommen und fragen. Mikael bedankte sich und meinte, es werde sich schon alles finden.

Als Mikael wieder allein war, trug er die Umzugskartons ins Arbeitszimmer und fing an, den Inhalt zu begutachten.

Henrik Vangers private Nachforschungen zum Verschwinden seiner Großnichte erstreckten sich über sechsunddreißig Jahre. Mikael konnte nur schwer beurteilen, ob das Interesse eine ungesunde Besessenheit war oder ein intellektuelles Spiel. Nicht zu übersehen war jedoch, dass der alte Patriarch sich mit dem systematischen Ansatz eines Hobbyarchäologen ans Werk gemacht hatte. Die Ergebnisse füllten an die sieben Regalmeter.

Der Kern des Materials bestand aus den sechsundzwanzig Ordnern mit dem polizeilichen Untersuchungsbericht zu Harriets Verschwinden. Mikael konnte sich nur schwerlich vorstellen, dass eine normale Vermisstenmeldung zu derart umfangreichen Ermittlungen führte, aber auf der anderen Seite hatte Vanger mit allergrößter Wahrscheinlichkeit den nötigen Einfluss besessen, die Polizei von Hedestad mit der Untersuchung aller möglichen und unmöglichen Spuren auf Trab zu halten.

Neben dem Bericht der Polizei gab es noch Bücher mit Zeitungsausschnitten, Fotoalben, Karten, Erinnerungsstücke, Informationsmaterial über Hedestad und den Vanger-Konzern, Harriets Tagebuch (das jedoch nicht besonders umfangreich war), Schulbücher, Gesundheitszeugnisse und anderes. Außerdem nicht weniger als sechzehn gebundene A4-Notizbücher mit jeweils hundert Seiten, die man quasi als Henrik Vangers persönliches Logbuch der Ermittlungen bezeichnen konnte. In diese Bücher hatte der Patriarch mit säuberlicher Handschrift seine eigenen Überlegungen, Einfälle, falsche Spuren und Beobachtungen eingetragen. Mikael blätterte aufs Geratewohl ein wenig darin herum. Der Text hatte Prosa-Charakter, und Mikael hatte den Eindruck, dass diese Bände die Reinschrift von Dutzenden älterer Notizbücher enthielten. Schließlich gab es noch zirka zehn Ordner mit Material über verschiedene Mitglieder der Familie Vanger. Hier waren die Seiten maschinengeschrieben und offenbar über einen langen Zeitraum hinweg entstanden.