Lisbeth Salander stand regungslos im leeren Treppenhaus und fixierte das Messingschild mit der Aufschrift Rechtsanwalt N. E. Bjurman, bevor sie schließlich klingelte. Das Türschloss klickte.
Es war Dienstag, es war die zweite Sitzung, und sie hatte böse Vorahnungen.
Sie hatte keine Angst vor Anwalt Bjurman - Lisbeth Salander hatte fast vor nichts und niemand Angst. Der neue Betreuer hingegen flößte ihr äußerstes Unbehagen ein. Sein Vorgänger, der Anwalt Holger Palmgren, war aus ganz anderem Holz geschnitzt gewesen, korrekt, höflich und freundlich. Ihre Zusammenarbeit war vor drei Monaten beendet worden, als Palmgren einen Schlaganfall erlitt und Nils Erik Bjurman sie einer ihr unbekannten bürokratischen Hackordnung gemäß »geerbt« hatte.
In den knapp zwölf Jahren, in denen Lisbeth Salander in sozialer und psychiatrischer Betreuung gewesen war, darunter zwei Jahre in einer Kinderklinik, hatte sie niemals - nicht bei einer einzigen Gelegenheit - auch nur auf die einfache Frage »Wie geht es dir denn heute?« geantwortet.
Als sie dreizehn wurde, hatte das Gericht auf Grundlage des Gesetzes über die Fürsorge Minderjähriger entschieden, dass sie auf der geschlossenen Station in der Kinderpsychiatrie der St.-Stefans-Klinik in Uppsala untergebracht werden sollte. Die Entscheidung gründete darauf, dass sie als psychisch gestört eingestuft wurde und wegen ihrer Gewalttätigkeit als Gefahr für ihre Klassenkameraden und vielleicht sogar für sich selbst galt.
Diese Annahme gründete eher auf empirischen Erkenntnissen als auf einer sorgfältig abwägenden Analyse. Jeder Arzt und jeder Vertreter einer Behörde, der versuchte, mit ihr ein Gespräch über ihre Gefühle, ihr Seelenleben oder ihren Gesundheitszustand zu führen, stieß auf mürrisches Schweigen. Sie starrte intensiv Boden, Decke und Wände an, hielt die Arme konsequent vor der Brust verschränkt und weigerte sich, psychologische Tests zu absolvieren. Ihr totaler Widerstand gegen jeglichen Versuch, sie zu messen, wiegen, untersuchen, analysieren und zu erziehen, erstreckte sich auch auf den schulischen Bereich - die Behörden konnten sie wohl in ein Klassenzimmer transportieren und sie am Tisch festketten, aber das hielt sie nicht davon ab, die Ohren auf Durchzug zu schalten und sich zu weigern, einen Füller in die Hand zu nehmen. Sie verließ die Schule ohne ein Abschlusszeugnis.
Kurz und gut, Lisbeth Salander war alles andere als leicht zu handhaben.
Als sie dreizehn war, wurde ein Betreuer bestellt, der ihre Interessen wahrnehmen und ihr Vermögen verwalten sollte, bis sie die Volljährigkeit erreichte. Dieser Betreuer wurde Holger Palmgren, der trotz eines ziemlich komplizierten Starts tatsächlich Erfolg hatte, wo Psychiater und Ärzte gescheitert waren: Er hatte nicht nur ein gewisses Vertrauen erworben, das störrische Mädchen hatte ihm sogar spärlich dosierte Wärme entgegengebracht.
Als sie fünfzehn wurde, waren sich die Ärzte mehr oder weniger einig, dass sie zumindest nicht gemeingefährlich oder eine unmittelbare Gefahr für sich selbst war. Da ihre Familie als dysfunktional definiert worden war und sie keine Verwandten hatte, die für ihr Wohlergehen hätten sorgen können, hatte man beschlossen, Lisbeth Salander aus der Kinderpsychiatrie von St. Stefan in Uppsala zu entlassen und sie mittels einer Pflegefamilie wieder in die Gesellschaft einzugliedern.
Der Weg war nicht einfach gewesen. Von der ersten Pflegefamilie riss sie schon nach zwei Wochen aus. Pflegefamilie Nummer zwei und drei waren auch schnell abgehakt. Danach hatte Palmgren ein ernstes Gespräch mit ihr geführt und ihr rundheraus erklärt, wenn sie weitermache wie bisher, würde sie zweifellos wieder in irgendeine Anstalt eingewiesen werden. Die versteckte Drohung hatte zur Folge, dass sie Pflegefamilie Nummer vier akzeptierte - ein älteres Paar im Vorort Midsommarkransen.
Das bedeutete aber noch lange nicht, dass sie sich jetzt besser aufgeführt hätte. Als Siebzehnjährige wurde sie viermal von der Polizei aufgegriffen, zweimal so schwer betrunken, dass sie in die Intensivstation eingeliefert werden musste, und einmal offensichtlich im Drogenrausch. Bei einer dieser Gelegenheiten hatte man sie sternhagelvoll und mit ungeordneter Kleidung auf dem Rücksitz eines Autos gefunden, das am Söder Mälarstand parkte. Sie hatte sich in Gesellschaft eines ebenso betrunkenen und wesentlich älteren Mannes befunden.
Das letzte Mal wurde sie aufgegriffen, als sie am Durchgang zur U-Bahn-Station Gamla Stan, drei Wochen vor ihrem achtzehnten Geburtstag, in nüchternem Zustand einem männlichen Passanten Fußtritte gegen den Kopf versetzt hatte. Der Vorfall endete damit, dass sie wegen Körperverletzung festgenommen wurde. Salander hatte sich damit gerechtfertigt, dass der Mann sie befummelt hätte, und da sie nach Statur und Aussehen eher für zwölf als für achtzehn Jahre durchging, war sie der Meinung, der Mann habe pädophile Neigungen. Ihre Aussage gegenüber den Polizisten, die sie verhörten, bestand zunächst aus zwei Sätzen: »Er hat mich begrapscht. Beschissener Lustgreis.« Die Aussage wurde jedoch von Zeugen gestützt, sodass der Staatsanwalt die Sache fallen ließ.
Insgesamt war ihr Hintergrund aber solcherart, dass das Gericht eine psychiatrische Untersuchung anordnete. Da sie sich wie gewohnt weigerte, Fragen zu beantworten oder sich an den Untersuchungen zu beteiligen, fällten die vom Gesundheits- und Sozialamt konsultierten Ärzte schließlich ein Gutachten, das auf der »Beobachtung der Patientin« basierte. Was genau man an einer jungen Frau beobachten konnte, die mit verschränkten Armen und vorgeschobener Unterlippe auf einem Stuhl saß, blieb unklar. Das rechtsmedizinische Gutachten plädierte für Betreuung in einer geschlossenen psychiatrischen Anstalt. Dieser Expertenmeinung schloss sich auch der stellvertretende Chef des Sozialausschusses in seinem Gutachten an.
Mit Verweis auf ihren Lebenslauf stellte das Gutachten fest, dass eine große Gefahr des Alkohol- oder Drogenmissbrauchs bestehe und sie offenbar keine Einsicht in ihr eigenes Handeln habe. Ihre Krankengeschichte war zu diesem Zeitpunkt voller belastender Formulierungen wie introvertiert, sozial gehemmt, Mangel an Empathie, egoistisch, psychopathisches und asoziales Verhalten, Schwierigkeiten bei der sozialen Zusammenarbeit und Lernunfähigkeit. Außerdem wurde ihr vorgehalten, dass Streetworker sie mehrmals mit verschiedenen Männern in der Gegend um Mariatorget gesehen hätten. Man nahm an, dass Lisbeth Salander sich möglicherweise prostituierte oder in absehbarer Zeit Gefahr lief, dies zu tun.
Als das Gericht zusammentrat, um die Entscheidung zu fällen, schien der Ausgang von vornherein klar. Sie war ein Problemkind, und es war unwahrscheinlich, dass das Gericht von der Empfehlung der rechtspsychiatrischen und sozialen Gutachten abweichen würde.
Am Morgen, bevor das Gericht zusammentreten sollte, wurde Lisbeth Salander aus der Kinderpsychiatrie abgeholt, in der sie seit dem Vorfall in Gamla Stan eingesperrt gewesen war. Der Erste, den sie im Gerichtssaal erblickte, war Holger Palmgren, und es dauerte einen Moment, bis sie begriff, dass er an jenem Tag nicht in seiner Eigenschaft als Vormund auftrat, sondern als ihr Anwalt und juristischer Vertreter. Sie bekam eine ganz neue Seite an ihm zu sehen.
Zu ihrer Verwunderung hatte Palmgren sich eindeutig auf ihre Seite geschlagen und vehement dem Vorschlag widersprochen, sie in eine Anstalt zu überführen. Sie hatte ihre Überraschung nicht einmal durch eine hochgezogene Augenbraue kundgetan, aber sie hörte jedem Wort mit gespanntester Aufmerksamkeit zu. Palmgren glänzte mit einem zweistündigen Kreuzverhör des Arztes, eines Dr. Jesper H. Löderman, der seinen Namen unter die Empfehlung gesetzt hatte, dass man Salander in eine Anstalt sperren sollte. Jedes Detail des Gutachtens wurde streng überprüft und der Arzt gebeten, den wissenschaftlichen Grund jeder Behauptung zu erläutern. Schließlich trat offen zutage, dass die Schlussfolgerungen der Ärzte nicht auf wissenschaftlichen Erkenntnissen, sondern auf Vermutungen basierten, da die Patientin sich geweigert hatte, auch nur einen einzigen Test zu absolvieren.