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Am Ende der Verhandlung hatte Palmgren darauf hingewiesen, dass eine Zwangseinweisung nicht nur mit großer Wahrscheinlichkeit gegen einen Reichstagsbeschluss über derartige Fälle verstieß, sondern sogar politische und mediale Repressalien nach sich ziehen könnte. Es liege also im Interesse aller Beteiligten, eine passende Alternative zu finden. Die Wortwahl war ungewöhnlich für Verhandlungen dieser Art, und die Mitglieder des Gerichts wanden sich unruhig auf ihren Stühlen.

Die Lösung war ein Kompromiss. Das Gericht konstatierte, dass Lisbeth Salander psychisch krank, eine Einweisung in eine Anstalt jedoch nicht nötig sei. Allerdings folgte man der Empfehlung des Sozialausschusses, einen umfassenden Betreuer einzusetzen. Woraufhin sich der Vorsitzende mit giftigem Lächeln an Holger Palmgren wandte, der bis dahin nur ihr Teilbetreuer gewesen war, und ihn fragte, ob er willens sei, diese Aufgabe zu übernehmen. Es war offensichtlich, dass der Vorsitzende geglaubt hatte, Palmgren würde einen Rückzieher machen und versuchen, die Verantwortung jemand anders zuzuschieben. Aber der Anwalt hatte erklärt, dass er mit Vergnügen die Aufgabe übernehmen würde, Frau Salander als umfassender Betreuer zu dienen - unter einer Bedingung.

»Das setzt natürlich voraus, dass Frau Salander Vertrauen zu mir hat und mich als ihren umfassenden Betreuer akzeptiert.«

Er hatte sich direkt an sie gewandt. Lisbeth Salander war ein wenig verwirrt von dem Schlagabtausch, dem sie den ganzen Tag über gelauscht hatte. Bis zu diesem Moment hatte sie keiner nach ihrer Meinung gefragt. Sie sah Holger Palmgren lange an und nickte dann einmal.

Palmgren war eine bemerkenswerte Mischung aus Jurist und Sozialarbeiter der alten Schule. Früher war er politischer Abgeordneter im Sozialausschuss gewesen und hatte fast sein gesamtes Leben der Arbeit mit schwierigen Jugendlichen gewidmet. Zwischen dem Rechtsanwalt und seinem mit Abstand schwierigsten Schützling war ein verquerer Respekt entstanden, der fast schon an Freundschaft grenzte.

Ihr Verhältnis währte insgesamt elf Jahre, von ihrem dreizehnten Geburtstag bis zu jenem Tag, ein paar Wochen vor Weihnachten, als sie Palmgren zu Hause aufsuchte, weil er zu einem ihrer monatlichen Treffen nicht erschienen war. Als er nicht aufmachte, obwohl sie Geräusche aus der Wohnung hörte, stieg sie bei ihm ein, indem sie die Regenrinne bis zum Balkon im dritten Stock hochkletterte. Sie hatte ihn im Flur liegend gefunden, bei Bewusstsein zwar, aber nach einem schweren Schlaganfall unfähig zu sprechen oder sich zu bewegen. Er war erst vierundsechzig Jahre alt. Sie hatte einen Krankenwagen gerufen und war mit ins Söder-Krankenhaus gefahren, während ihr die wachsende Panik den Hals zuschnürte. Knapp drei Tage hatte sie den Flur der Intensivstation kaum verlassen. Wie ein treuer Wachhund hatte sie jeden Schritt der Ärzte und Krankenschwestern überwacht. Zu guter Letzt hatte ein Arzt, dessen Namen sie nie erfuhr, sie in ein Zimmer mitgenommen und ihr den Ernst der Situation auseinandergesetzt. Holger Palmgrens Zustand war nach einer schweren Gehirnblutung sehr kritisch. Man glaubte nicht, dass er wieder aufwachen würde. Sie hatte weder geweint noch eine Miene verzogen. Sie war aufgestanden, hatte das Krankenhaus verlassen und war nie wieder zurückgekommen.

Fünf Wochen später hatte das Vormundschaftsgericht Lisbeth Salander zum ersten Treffen mit ihrem neuen Betreuer bestellt. Sie wollte die Einladung einfach ignorieren, doch Holger Palmgren hatte ihr eingetrichtert, dass jede Handlung Konsequenzen hat. Zu jenem Zeitpunkt hatte sie bereits gelernt, diese Konsequenzen zu analysieren, bevor sie handelte. Nach genauerem Nachdenken war sie zu dem Schluss gekommen, dass der einzige Ausweg aus dem Dilemma darin lag, so zu handeln, als würde sie die Autorität des Vormundschaftsgerichts anerkennen.

Also hatte sie sich im Dezember brav in Bjurmans Kontor am St.-Eriks-Platz eingefunden, wo eine ältere Dame im Namen des Vormundschaftsgerichts Salanders umfassende Mappe an Rechtsanwalt Bjurman übergeben hatte. Die Dame hatte sie freundlich gefragt, wie es ihr ginge, und schien Lisbeths dumpfes Schweigen als zufriedenstellende Antwort zu akzeptieren. Nach ungefähr einer halben Stunde hatte sie Salander in Bjurmans Obhut zurückgelassen.

Fünf Sekunden nach ihrem ersten Händeschütteln hatte Lisbeth Salander eine Abneigung gegen Anwalt Bjurman gefasst.

Sie beobachtete ihn, während er ihre Akte durchging. Alter fünfzig aufwärts. Durchtrainierter Körper, dienstags und freitags Tennis. Blond. Dünnes Haar. Leichtes Grübchen am Kinn. Riecht nach Boss. Blauer Anzug. Roter Schlips mit goldener Nadel und geckenhafte Manschettenknöpfe mit den Buchstaben NEB. Brille mit Stahlrahmen. Graue Augen. Nach den Zeitschriften auf einem Beistelltischchen zu urteilen, interessierte er sich für Jagd und Schießen.

Während des Jahrzehnts, als sie sich mit Palmgren traf, hatte er ihr immer Kaffee angeboten und sich mit ihr unterhalten. Nicht einmal ihre Fluchten von ihren Pflegefamilien oder ihr systematisches Schuleschwänzen hatten ihn aus der Fassung bringen können. Palmgren war nur ein einziges Mal aus der Haut gefahren: als der schleimige Typ in Gamla Stan sie begrapscht hatte und sie wegen Körperverletzung festgenommen wurde.

Bjurman hatte nicht viel für Small Talk übrig. Er hatte sofort festgestellt, dass zwischen Palmgrens Verpflichtungen und der Tatsache, dass er es Lisbeth Salander anscheinend selbst überlassen hatte, sich um ihren Haushalt und ihre Finanzen zu kümmern, eine große Diskrepanz herrschte. Er hatte sie nach Strich und Faden verhört: Wie viel verdienen Sie? Ich möchte Kopien ihrer Buchführung. Mit was für Leuten treffen Sie sich? Bezahlen Sie Ihre Miete rechtzeitig? Trinken Sie Alkohol? Fand Palmgren diese Ringe in Ordnung, die Sie da im Gesicht tragen? Können Sie sich selbst um Ihre Hygiene kümmern?

Fuck you.

Palmgren hatte darauf bestanden, sie mindestens einmal im Monat zu treffen, manchmal öfter. Seit sie in die Lundagatan zurück gezogen war, waren sie außerdem fast Nachbarn gewesen. Er wohnte in der Hornsgata nur ein paar Blöcke weiter, und in regelmäßigen Abständen waren sie sich zufällig über den Weg gelaufen und hatten einen Kaffee zusammen getrunken. Palmgren hatte sich nie aufgedrängt, sie jedoch an ihrem Geburtstag einmal mit einem kleinen Geschenk überrascht. Er hatte sie eingeladen, ihn jederzeit zu besuchen, ein Privileg, das sie selten nutzte, aber seit sie nach Söder gezogen war, hatte sie Heiligabend nach dem Besuch bei ihrer Mutter immer bei ihm gefeiert. Sie aßen dann Weihnachtsschinken und spielten Schach. Sie interessierte sich nicht im Geringsten für dieses Spiel, doch sobald sie die Regeln gelernt hatte, verlor sie nicht eine einzige Partie. Er war Witwer, und Lisbeth hatte es als ihre Pflicht betrachtet, sich an solch einsamen Feiertagen seiner anzunehmen.

Sie fand, das war sie ihm schuldig. Und ihre Rechnungen pflegte sie zu bezahlen.

Palmgren hatte die Wohnung ihrer Mutter in der Lundagata für sie vermietet, bis Lisbeth eine eigene Wohnung brauchte. Die 49 m2 große Wohnung war lange nicht mehr renoviert worden und ziemlich heruntergekommen, aber sie bedeutete erst einmal ein Dach über dem Kopf.

Jetzt war Palmgren fort, und eine weitere Verbindung zur etablierten Gesellschaft war gekappt worden. Nils Bjurman war ein ganz anderer Typ Mensch. Sie hatte nicht vor, ihren Heiligabend bei ihm zu verbringen. Seine erste Maßnahme bestand darin, neue Regeln für den Umgang mit ihrem Gehaltskonto bei der Handelsbank einzuführen. Palmgren hatte das Gesetz großzügig ausgelegt und es ihr unbekümmert überlassen, sich um ihre Finanzen zu kümmern. Sie bezahlte ihre Rechnungen also selbst und konnte über ihr Sparguthaben verfügen, wie sie wollte.

Bei dem Treffen mit Bjurman in der Woche vor Weihnachten hatte sie ihm ganz vernünftig zu erklären versucht, dass sein Vorgänger ihr vertraut und keinen Anlass gehabt hatte, an ihr zu zweifeln. Dass Palmgren sie ihr Leben selbst hatte regeln lassen, ohne sich in ihre Privatsphäre einzumischen.