»Das ist eines der Probleme«, entgegnete Bjurman und klopfte auf ihre Akte. Er hielt eine längere Rede über die Vorschriften und staatlichen Verordnungen, die für einen rechtlichen Betreuer galten, und verkündete dann, dass er neue Spielregeln einführen werde.
»Er hat Sie an der langen Leine laufen lassen, wenn ich das richtig verstehe. Ich frage mich, wie er damit davonkommen konnte.«
»Ich bin kein Kind mehr«, sagte Lisbeth Salander, als wäre das eine ausreichende Erklärung.
»Nein, Sie sind kein Kind. Aber ich bin zum Betreuer für Sie bestellt worden, und solange ich das bin, bin ich auch juristisch und finanziell für Sie in der Verantwortung.«
Als Erstes eröffnete er ein neues Konto in ihrem Namen, das sie Milton als Gehaltskonto melden sollte und von dem zukünftig ihre laufenden Ausgaben bestritten werden würden. In Zukunft würde Bjurman ihre Rechnungen begleichen und ihr monatlich eine gewisse Summe als Taschengeld auszahlen. Er erwartete von ihr, dass sie über ihre Ausgaben Buch führte und ihm ihre Belege ablieferte. Er setzte fest, dass sie 1400 Kronen pro Woche bekommen sollte - »für Essen, Kleidung, Kinobesuche und solche Dinge«.
Je nachdem, wie viel Arbeit sie annahm, verdiente Lisbeth Salander bis zu 160 000 Kronen im Jahr. Sie hätte den Betrag leicht verdoppeln können, indem sie sich Vollzeit bezahlen ließ und alle Aufträge annahm, die Dragan Armanskij ihr anbot. Aber sie hatte wenig feste Kosten und gab ansonsten nicht viel Geld aus. Die Kosten für die Wohnung lagen bei 2000 Kronen pro Monat, und trotz bescheidener Einkünfte hatte sie 90 000 Kronen auf ihrem Sparkonto - auf das sie allerdings keinen Zugriff mehr hatte.
»Weil ich für Ihr Geld verantwortlich bin«, erklärte er ihr. »Sie müssen Geld für die Zukunft beiseitelegen. Aber keine Sorge, ich kümmere mich um alles.«
Ich hab mich um mich selbst gekümmert, seit ich zehn bin, du beschissener Saftsack!
»Sie funktionieren sozial so weit, dass Sie in keine Anstalt eingewiesen werden müssen, aber die Gesellschaft ist für Sie verantwortlich.«
Er hatte sie gründlich ausgefragt, worin ihre Aufgaben bei Milton Security bestanden. Instinktiv hatte sie ihn über ihre Beschäftigung belogen. Die Antwort, die sie ihm gab, war eine Beschreibung ihrer ersten Wochen bei Milton. Anwalt Bjurman musste also glauben, dass sie Kaffee kochte und die Post sortierte - die passende Beschäftigung für eine Person, die nicht alle Tassen im Schrank hatte. Er schien mit ihrer Antwort zufrieden zu sein.
Sie wusste nicht, warum sie ihn belogen hatte, war aber überzeugt, dass es eine kluge Entscheidung war. Hätte Anwalt Bjurman auf einer Liste vom Aussterben bedrohter Insektenarten gestanden, hätte sie ihn bedenkenlos mit ihrem Absatz zerquetscht.
Mikael Blomkvist hatte fünf Stunden in Henrik Vangers Gesellschaft verbracht und verwendete den Großteil der Nacht und den gesamten Dienstag darauf, seine Notizen ins Reine zu schreiben und die Genealogie der Vangers in eine verständliche Übersicht zu bringen. Die Familiengeschichte, die sich im Gespräch mit Henrik Vanger herauskristallisierte, unterschied sich dramatisch von der offiziellen Version. Mikael wusste, dass jede Familie eine Leiche im Keller hat. Aber die Familie Vanger hatte einen ganzen Friedhof.
Mikael musste sich selbst immer wieder daran erinnern, dass sein Auftrag eigentlich nicht darin bestand, die Biografie der Familie Vanger zu schreiben, sondern herauszufinden, was mit Harriet Vanger passiert war. Er hatte den Job in dem sicheren Glauben angenommen, dass er dabei praktisch auf seinen vier Buchstaben sitzen und ein Jahr vergeuden würde, dass die Recherchen, die er für Henrik Vanger betrieb, eigentlich herzlich sinnlos waren. Nach einem Jahr würde er sein wahnwitziges Honorar einstreichen - der Vertrag, den Dirch Frode aufgesetzt hatte, war unterzeichnet. Sein eigentlicher Lohn, so hoffte er, würde in der Information über Hans-Erik Wennerström bestehen, die Henrik Vanger angeblich besaß.
Nachdem er Vanger zugehört hatte, dämmerte ihm, dass er das Jahr keineswegs vergeudete. Ein Buch über die Familie Vanger hatte auch seinen Wert - es war ganz einfach eine gute Story.
Dass er Harriets Mörder finden würde, daran glaubte er nicht. Mikael teilte Henriks Meinung, dass die Wahrscheinlichkeit gegen null ging, dass ein sechzehnjähriges Mädchen aus eigenem Antrieb verschwinden und sich dann allen bürokratischen Überwachungssystemen zum Trotz sechsunddreißig Jahre versteckt halten konnte. Er wollte jedoch nicht ausschließen, dass Harriet davongelaufen war. Auf dem Weg nach Stockholm konnte ihr etwas zugestoßen sein - Drogen, Prostitution, ein Überfall oder vielleicht schlicht und einfach ein Unfall.
Henrik Vanger war hingegen überzeugt, dass sie von einem Familienmitglied ermordet worden war - eventuell mit Beihilfe eines anderen.
Erika hatte recht gehabt, als sie sagte, dass sein Auftrag jedem gesunden Menschenverstand spottete, wenn er denn wirklich einen ungelösten Mordfall aufklären sollte. Mikael Blomkvist begriff jedoch langsam, dass Harriets Schicksal in den vergangenen sechsunddreißig Jahren eine zentrale Rolle für die gesamte Familie gespielt hatte. Ob er nun recht hatte oder nicht, Henrik Vangers Beschuldigung seiner Verwandtschaft hatte die Familiengeschichte geprägt. Diese mehr als dreißig Jahre offen ausgesprochenen Anschuldigungen hatten zu einer Frontenbildung geführt, die den Konzern destabilisierte. Einer Studie über Harriets Verschwinden würde somit die Funktion eines ganz eigenen Kapitels zukommen. Ob Harriets Verschwinden sein vorrangiger Auftrag war, oder ob er sich damit begnügte, eine Familienchronik zu schreiben, nahe liegender Ausgangspunkt für beides war eine Bestandsaufnahme der beteiligten Personen. Darum hatte sich sein Gespräch mit Henrik Vanger gedreht.
Die Familie Vanger bestand aus zirka hundert Personen, Vettern dritten Grades und die Nachkommenschaft sämtlicher Kusinen mit eingerechnet. Die Personengalerie war so umfangreich, dass Mikael sich eine Datenbank in seinem iBook einrichten musste.
Die Herkunft der Familie konnte mit Sicherheit bis ins frühe 16. Jahrhundert zurückverfolgt werden, damals lautete ihr Name noch Vangeersad. Laut Henrik Vanger stammte der Name möglicherweise vom holländischen »van Geerstad«. Falls das stimmen sollte, konnte das Geschlecht bis ins 12. Jahrhundert nachgewiesen werden.
In modernerer Zeit stammte die Familie aus Nordfrankreich und war Anfang des 19. Jahrhunderts mit Jean Baptiste Bernadotte nach Schweden gekommen. Alexandre Vangeersad hatte einen Posten beim Militär innegehabt und war nicht persönlich mit dem König bekannt. Er hatte sich jedoch als tüchtiger Garnisonschef hervorgetan und bekam 1818 den Hedeby-Hof zum Dank für seine Verdienste. Alexandre Vangeersad besaß auch eigenes Geld und hatte damit beträchtliche Waldgebiete in Norrland gekauft. Sein Sohn Adrian war in Frankreich zur Welt gekommen, zog aber auf Bitten seines Vaters in das entlegene Nest Hedeby, weit weg von den Salons in Paris, um sich um die Verwaltung des Hofes zu kümmern. Er betrieb Land- und Forstwirtschaft mit neuen Methoden, die er vom Kontinent mitgebracht hatte, und gründete die Papierfabrik, um die herum sich später Hedestad gebildet hatte.
Alexandres Enkel hieß Henrik und hatte seinen Namen zu Vanger abgekürzt. Er begann mit Russland Handel zu treiben und gründete eine kleine Handelsflotte, die Mitte des 19. Jahrhunderts Schoner ins Baltikum, nach Deutschland und das für seine Stahlindustrie bekannte England schickte. Henrik Vanger (der Ältere) baute das Familienunternehmen aus und begann in kleinem Rahmen mit dem Bergbau und den ersten Metall verarbeitenden Betrieben in Norrland. Er hinterließ zwei Söhne, Birger und Gottfried, und diese beiden machten Vanger zum Finanzimperium.
»Kennen Sie sich mit altem Erbrecht aus?«, fragte Henrik Vanger.