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»Darauf bin ich nicht unbedingt spezialisiert.«

»Verstehe ich. Ich komme damit auch durcheinander. Birger und Gottfried waren entsprechend unserer Familientradition wie Hund und Katz - legendäre Konkurrenten um Macht und Einfluss im Familienunternehmen. Der Machtkampf wuchs sich in vielerlei Hinsicht zur Belastung aus, die das Überleben des Unternehmens gefährdete. Daher beschloss ihr Vater - kurz vor seinem Tod - ein System, in dem alle Familienmitglieder einen Erbteil - einen Anteil - an der Firma bekommen sollten. Der Gedanke war sicher richtig, aber er führte eine Situation herbei, in der wir unsere Unternehmensspitze aus den Familienmitgliedern rekrutierten, die ein paar Prozent Stimmanteile hielten, anstatt fähige Leute und eventuell Partner von außen in die Firma zu holen.«

»Diese Regelung gilt heute noch?«

»Ja. Wenn ein Familienmitglied seinen Anteil verkaufen will, muss er das innerhalb der Familie tun. Auf der jährlichen Eigentümerversammlung kommen derzeit ungefähr fünfzig Familienmitglieder zusammen. Martin hält knapp zehn Prozent der Aktien, ich fünf, weil ich unter anderem an Martin verkauft habe. Mein Bruder Harald hat sieben Prozent, aber die meisten Teilnehmer der Versammlung haben nur ein oder ein halbes Prozent.«

»Davon wusste ich tatsächlich nichts. Klingt irgendwie mittelalterlich.«

»Es ist der reinste Irrwitz. Wenn Martin eine gewisse Geschäftspolitik verfolgen will, dann muss er zuerst einmal Lobbyarbeit betreiben, um sich die Unterstützung von mindestens zwanzig bis fünfundzwanzig Prozent der Teilhaber zu sichern. Das Ganze ist ein einziger Flickenteppich aus Allianzen, Fraktionen und Intrigen.«

Henrik Vanger fuhr fort: »Gottfried Vanger starb 1901, kinderlos. Oh, entschuldigen Sie, er hatte natürlich vier Töchter, aber in dieser Zeit zählten die Frauen quasi nicht. Sie hatten Firmenanteile, aber die Männer in der Familie nahmen ihre Interessen wahr. Erst als Anfang des 20. Jahrhunderts das Wahlrecht eingeführt wurde, erhielten die Frauen Zutritt zu den Eigentümerversammlungen.«

»Wie liberal.«

»Seien Sie nicht ironisch. Es war eine andere Zeit. Wie auch immer, sein Bruder Birger Vanger bekam drei Söhne - Johan, Fredrik und Gideon Vanger -, die alle Ende des 19. Jahrhunderts geboren wurden. Gideon Vanger können wir beiseitelassen, der verkaufte seinen Anteil und ging nach Amerika, wo wir immer noch einen Familienzweig haben. Aber Johan und Fredrik Vanger machten aus dem Unternehmen den modernen Vanger-Konzern.«

Henrik Vanger holte ein Fotoalbum hervor. Die Fotos vom Anfang des vorigen Jahrhunderts zeigten zwei Männer mit kräftigem Kinn und mit Wasser gekämmtem Haar, die ohne die geringste Andeutung eines Lächelns in die Kamera starrten.

Johan Vanger war das Genie der Familie: Er wurde Ingenieur und brachte die Maschinenbauindustrie durch mehrere Erfindungen voran, die er sich patentieren ließ. Stahl und Eisen wurden das Fundament des Konzerns, aber das Unternehmen weitete sich auch auf andere Bereiche aus, Textil zum Beispiel. Johan Vanger starb 1956 und hatte zu diesem Zeitpunkt drei Töchter - Sofia, Märit und Ingrid -, die ersten Frauen, die automatisch an den Eigentümerversammlungen des Konzerns teilnahmen.

»Der andere Bruder, Fredrik Vanger, war mein Vater. Er war Geschäftsmann und Industrieller, der aus Johans Erfindungen Kapital schlug. Mein Vater starb 1964. Er war bis zu seinem Tod in der Geschäftsleitung aktiv, obwohl er mir bereits in den fünfziger Jahren das Tagesgeschäft überließ.

Es war genau wie bei der vorigen Generation. Johan Vanger bekam nur Töchter.«

Henrik Vanger zeigte Fotos von Frauen mit stattlichen Büsten und ausladenden Hüten. »Fredrik, mein Vater, bekam nur Söhne. Wir waren insgesamt fünf Brüder. Und zwar Richard, Harald, Greger, Gustav und ich.«

Um die Familienmitglieder überhaupt auseinanderhalten zu können, zeichnete Mikael einen Familienstammbaum auf ein paar zusammengeklebte A4-Blätter. Er druckte die Namen derjenigen fett, die beim Familientreffen 1966 auf der Insel gewesen waren und somit zumindest theoretisch etwas mit Harriets Verschwinden zu tun haben konnten.

Mikael ließ Kinder unter zwölf Jahren außer Acht - was auch immer geschehen sein mochte, er wollte sich auf Lösungsansätze beschränken, die im Bereich des Plausiblen lagen. Nach kurzer Überlegung strich er auch Henrik Vanger - wenn der Patriarch etwas mit dem Verschwinden seiner Großnichte zu tun gehabt hätte, wäre sein Verhalten während der letzten sechsunddreißig Jahre als psychopathisch zu werten. Auch Henrik Vangers Mutter, die 1966 stolze einundachtzig Jahre alt gewesen war, konnte er getrost vernachlässigen. Blieben dreiundzwanzig Familienmitglieder, die laut Henrik Vanger zur Gruppe der »Verdächtigen« gerechnet werden mussten. Sieben von ihnen waren mittlerweile gestorben, einige andere hatten ein respektables Alter erreicht.

Mikael war jedoch nicht ohne Weiteres bereit, zu glauben, dass ein Mitglied der Familie hinter Harriets Verschwinden steckte. Man musste der Liste der Verdächtigen vielmehr eine Reihe anderer Personen hinzufügen.

Dirch Frode hatte 1962 begonnen, als Rechtsanwalt für Henrik Vanger zu arbeiten. Und wer gehörte zum Personal, als Harriet verschwand? Hausmeister Gunnar Nilsson - Alibi hin oder her - war damals neunzehn, und sein Vater Magnus Nilsson hatte sich ebenso auf der Insel befunden wie der Künstler Eugen Norman und der Pastor Otto Falk. War Falk verheiratet? Auch der Bauer auf Östergården und sein Sohn Jerker waren auf der Insel gewesen. Welches Verhältnis hatte Harriet zu ihnen gehabt? War Martin Aronsson verheiratet? Gab es noch weitere Bewohner auf dem Hof?

Mikael fing an, alle Namen aufzuschreiben, und die Gruppe wuchs auf ungefähr vierzig Personen an. Schließlich warf er frustriert den Filzstift beiseite. Es war schon halb vier Uhr morgens, und das Thermometer zeigte weiterhin 21 Grad minus. Schien wohl eine etwas längere Kältewelle zu werden. Er sehnte sich nach seinem Bett in der Bellmansgata in Stockholm.

Mikael Blomkvist wurde am Mittwochmorgen um 9 Uhr geweckt, als ein Mitarbeiter der Firma Telia an der Tür klopfte und eine Telefondose und ein ADSL-Modem installierte. Um 11 Uhr hatte er seinen Anschluss. Dennoch schwieg sein Telefon immer noch beharrlich. Erika hatte seine Anrufe seit einer Woche nicht beantwortet. Sie musste wirklich sauer sein.

Er öffnete seine Mailbox und sah die gut dreihundertfünfzig Mails durch, die im Laufe der letzten Woche eingegangen waren. Die erste Mail, die er öffnete, kam von »demokrat88@yahoo.com« und enthielt die Message HOFFENTLICH LASSEN SIE DICH IM KNAST SCHWÄNZE LUTSCHEN VERDAMMTES KOMMUNISTENSCHWEIN. Mikael speicherte die Mail in einem Ordner mit dem Namen Intelligente Kritik.

Er schrieb eine kurze Nachricht an »erika.berger@millennium. se«.

Hallo, Ricky, ich nehme an, du bist stinksauer auf mich, weil du so gar nicht zurückrufst. Ich wollte dir nur mitteilen, dass ich jetzt Internetanschluss habe und per Mail erreichbar bin, für den Fall, dass du mir verzeihen willst. Hedeby ist übrigens ein nettes Fleckchen, das durchaus einen Besuch wert ist. M.

Gegen Mittag packte er sein iBook ein und ging in Susannes Café, wo er sich an seinem angestammten Ecktisch niederließ. Als Susanne ihm Kaffee und ein belegtes Brötchen brachte, musterte sie neugierig den Laptop und fragte ihn, woran er arbeite. Mikael brachte zum ersten Mal seine cover story an und erklärte ihr, dass er von Henrik Vanger angeheuert worden war, ihm beim Verfassen seiner Biografie zu helfen. Sie tauschten Höflichkeiten aus. Susanne forderte Mikael auf, sich mit ihr zusammenzusetzen, wenn er an echten Enthüllungen interessiert sei.

»Ich habe die Vangers fünfunddreißig Jahre lang bedient und kenne die meisten Gerüchte über die Familie«, sagte sie, bevor sie mit ihrem wiegenden Gang in der Küche verschwand.

Der Stammbaum, den Mikael gezeichnet hatte, zeigte, dass die Familie Vanger ein fruchtbares Geschlecht war. Mit allen Kindern, Enkeln und Urenkeln - die er erst gar nicht eingezeichnet hatte - kamen die Brüder Fredrik und Johan Vanger auf ungefähr fünfzig Nachfahren. Mikael stellte auch fest, dass die Familienmitglieder tendenziell sehr alt wurden. Fredrik Vanger war achtundsiebzig Jahre alt geworden, sein Bruder Johan zweiundsiebzig. Ulrika Vanger war mit vierundachtzig Jahren gestorben. Von den zwei noch lebenden Brüdern war Harald Vanger zweiundneunzig Jahre alt und Henrik Vanger zweiundachtzig.