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Die einzige Ausnahme war Henrik Vangers Bruder Gustav, der im Alter von siebenunddreißig Jahren an einer Lungenkrankheit verstorben war. Henrik Vanger erklärte, dass Gustav immer gekränkelt habe und seine eigenen Wege gegangen sei, ein bisschen abseits vom Rest der Familie. Er war unverheiratet und kinderlos geblieben.

Mikael bemerkte noch zwei andere Besonderheiten im Familienstammbaum. Zum Ersten, dass die Ehen auf Lebenszeit geschlossen wurden - anscheinend hatte sich keiner aus dem Geschlecht der Vangers jemals scheiden lassen oder ein zweites Mal geheiratet, wenn der Partner etwa in jungen Jahren verstorben war. Cecilia Vanger hatte sich vor mehreren Jahren von ihrem Mann getrennt, war aber immer noch verheiratet, soweit Mikael das nachvollziehen konnte.

Die andere Besonderheit lag darin, dass die Familie sich geografisch in einen »männlichen« und einen »weiblichen« Teil aufspaltete. Fredrik Vangers Zweig der Familie, zu dem auch Henrik Vanger gehörte, hatte traditionell eine führende Rolle im Unternehmen gespielt und war hauptsächlich in und um Hedestad ansässig. Johan Vangers Zweig, der nur weibliche Erben hervorgebracht hatte, war durch Heirat in andere Landesteile verschlagen worden. Die Erbinnen wohnten hauptsächlich in Stockholm, Malmö und Göteborg oder im Ausland und kamen nur in den Sommerferien oder für wichtige Versammlungen des Konzerns nach Hedestad. Einzige Ausnahme war Ingrid Vanger, deren Sohn Gunnar Karlman in Hedestad lebte. Er war Chefredakteur der Lokalzeitung Hedestads-Kuriren.

Henrik nahm an, das »zugrunde liegende Motiv für den Mord an Harriet« sei vielleicht in der Unternehmensstruktur zu suchen. Da war die Tatsache, dass Henrik Harriet schon frühzeitig als etwas ganz Besonderes herausgestellt hatte. Vielleicht hatte man durch Harriets Verschwinden ihm einen Schlag versetzen wollen. Oder Harriet hatte irgendwelche Informationen besessen, die den Konzern betrafen und damit eine Drohung für jemand darstellten. Das alles war nichts als vage Spekulation, gleichwohl hatte er auf diese Art einen Kreis von dreizehn Personen herausgearbeitet, die er als »besonders interessant« einstufte.

Das gestrige Gespräch mit Henrik Vanger war in einem anderen Punkt sehr aufschlussreich gewesen. Vom ersten Moment an, schon bei ihrem Treffen am 26. Dezember, hatte der alte Mann so verächtlich und abschätzig über seine Familie geredet, dass Mikael sich gefragt hatte, ob der Verdacht gegen seine Familie, Harriets Verschwinden betreffend, das Urteilsvermögen des Patriarchen getrübt haben mochte. Aber nun ging ihm langsam auf, dass Henrik Vanger die Dinge tatsächlich verblüffend nüchtern beurteilte.

Das Bild, das sich herauskristallisierte, zeigte eine Familie, die sozial und finanziell erfolgreich dastand, in alltäglichen Belangen jedoch völlig versagte.

Henrik Vangers Vater war ein kalter und gefühlloser Mensch, der seine Kinder zeugte und seiner Frau dann die Sorge um ihre Erziehung und ihr Wohlbefinden überließ. Bis die Kinder fünfzehn, sechzehn Jahre alt waren, begegneten sie ihrem Vater hauptsächlich bei besonderen Familienveranstaltungen, bei denen sie gefälligst anwesend und gleichzeitig unsichtbar zu sein hatten. Henrik Vanger konnte sich nicht erinnern, dass sein Vater jemals auch nur mit der kleinsten Geste seine Liebe ausgedrückt hätte. Umso öfter war er Zielscheibe dessen vernichtender Kritik gewesen. Körperliche Züchtigungen waren selten vorgekommen, sie waren nicht nötig. Er hatte sich den Respekt seines Vaters erst erworben, als er sich später um den Vanger-Konzern verdient machte.

Henriks ältester Bruder hingegen, Richard Vanger, hatte aufbegehrt. Nach einem Streit, dessen Grund in der Familie hartnäckig verschwiegen wurde, war Richard zum Studium nach Uppsala gezogen.

Dort hatte er die Nazi-Karriere eingeschlagen, von der Henrik Vanger bereits berichtet hatte und die ihn Schritt für Schritt in die Schützengräben des finnischen Winterkrieges führten.

Was der alte Mann vorher nicht erzählt hatte, war, dass zwei weitere Brüder eine ähnliche Karriere gemacht hatten.

Sowohl Harald als auch Greger waren dem großen Bruder 1930 nach Uppsala gefolgt, aber Henrik Vanger konnte nicht genau sagen, in welchem Maße sie mit Richard Umgang gepflegt hatten. Es stand jedoch fest, dass die Brüder sich Per Engdahls faschistischer Bewegung Das neue Schweden anschlossen. Harald Vanger war Per Engdahl über die Jahre loyal gefolgt, erst zum Schwedischen Nationalverband SNF, danach zur Schwedischen Opposition und zum Schluss zur Neuschwedischen Bewegung, die nach Kriegsende gegründet wurde. Er blieb Mitglied bis zu Per Engdahls Tod in den neunziger Jahren. Zeitweise war er einer der wichtigsten Geldgeber für den überwinternden schwedischen Faschismus.

Harald Vanger hatte Medizin in Uppsala studiert und sich bald den Kreisen angeschlossen, die für Rassenhygiene und Rassenbiologie schwärmten. Er arbeitete eine Weile am Schwedischen Institut für Rassenbiologie und wurde als Arzt einer der Hauptverfechter für die Sterilisierung unerwünschter Elemente in der Bevölkerung.

Zitat Henrik Vanger, Band 2, 02950:

Harald ging noch weiter. 1937 war er unter Pseudonym Co-Autor eines Buches mit dem Titel Ein neues völkisches Europa. Ich erfuhr davon erst in den siebziger Jahren. Es ist wahrscheinlich eines der widerlichsten Bücher, die jemals auf Schwedisch erschienen sind. Harald argumentierte nicht nur für die Sterilisierung, sondern sogar für Euthanasie - aktive Sterbehilfe für Menschen, die sein ästhetisches Empfinden störten und nicht in sein Bild vom perfekten schwedischen Volksstamm passten. Er plädierte also für Massenmord, und das in einem Text, der in tadelloser akademischer Prosa abgefasst war und alle notwendigen medizinischen Argumente enthielt. Beseitigt alle Behinderten. Erlaubt der samischen Bevölkerung nicht, sich auszubreiten; sie sind von mongolischer Seite beeinflusst. Psychisch Kranke werden den Tod als Befreiung erleben. Er spricht von losen Frauenzimmern, Zigeunern und Juden. In den Fantasien meines Bruders hätte Auschwitz in unserer Provinz Dalarna liegen können.

Greger Vanger wurde nach dem Krieg Gymnasiallehrer und später Rektor des Gymnasiums in Hedestad. Henrik hatte zunächst geglaubt, dass er seit dem Krieg parteilos war und den Nazismus aufgegeben hatte. Er starb 1974, und erst als Henrik seine Hinterlassenschaft durchging, erfuhr er durch Briefe, dass sein Bruder sich in den fünfziger Jahren der politisch bedeutungslosen, aber restlos unzurechnungsfähigen Sekte der Nordischen Reichspartei, NRP, angeschlossen hatte.

Zitat Henrik Vanger, Band 2, 04167: Drei meiner Brüder waren also politisch geisteskrank. Wie krank waren sie in anderer Hinsicht?

Der einzige seiner Brüder, der vor Henrik Vangers Augen ein wenig Gnade fand, war der kränkliche Gustav, der 1955 an seiner Lungenkrankheit gestorben war. Gustav hatte sich nie für Politik interessiert und schien eher eine weltfremde Künstlerseele gewesen zu sein, die nicht im Geringsten an Geschäften oder einer Arbeit im Vanger-Konzern interessiert war.

Mikael fragte Henrik Vanger: »Heute leben nur noch Sie und Harald. Wann ist er nach Hedeby zurück gezogen?«

»Er kam 1979 zurück, kurz vor seinem siebzigsten Geburtstag. Das Haus gehört ihm.«

»Es muss sich doch merkwürdig anfühlen, in so direkter Nähe zu einem Bruder zu wohnen, den Sie hassen.«

Henrik Vanger sah Mikael verwundert an.

»Sie haben mich missverstanden. Ich hasse meinen Bruder nicht. Ich empfinde vielleicht Mitleid für ihn. Er ist ein Vollidiot, und er hasst mich.«